Auch in einem reichen Land wie Deutschland, das zudem über gut ausgebaute soziale Sicherungs- und Versorgungssysteme verfügt, sind die Lebensbedingungen und sozialen Teilhabechancen sehr ungleich verteilt. Aktuell sind rund 14 % der Bevölkerung einem Armutsrisiko ausgesetzt. Unter Kindern und Jugendlichen liegt dieser Anteil sogar bei 17 %. Zudem ist eine voranschreitende Konzentration des Privatvermögens zu beobachten, bei gleichzeitiger Zunahme überschuldeter Haushalte. Die Arbeitslosigkeit ist zwar in den letzten Jahren zurückgegangen, die hinzugewonnenen Arbeitsplätze sind aber oftmals dem prekären Beschäftigungsbereich zuzuordnen, was auch daran deutlich wird, dass der Anteil der Erwerbstätigen, die trotz Beschäftigung einem Armutsrisiko ausgesetzt sind, angestiegen ist. Auch der nach wie vor stark ausgeprägte Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und den Bildungschancen, der entscheidend dazu beiträgt, dass Armut in einigen Familien über mehrere Generationen fortbesteht, macht das Ausmaß der sozialen Ungleichheit in Deutschland deutlich.

Dass sich die soziale Ungleichheit der Lebensverhältnisse in der Gesundheit und Lebenserwartung widerspiegelt, ist seit langem bekannt. Die große Zahl der inzwischen vorliegenden Studien zeigt eindrücklich, dass ein niedriger sozialer Status mit einem schlechteren allgemeinen Gesundheitszustand, einem höheren Risiko für viele körperliche und psychische Erkrankungen sowie für funktionelle Einschränkungen in der Alltagsgestaltung und Beeinträchtigungen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität einhergeht. Entsprechend sind statusspezifische Unterschiede in der Lebenserwartung festzustellen. Im Vergleich von Personen mit niedrigem und hohem Einkommen beträgt die Differenz in der mittleren Lebenserwartung bei Geburt zwischen fünf und zehn Jahren.

Aus Sicht von Public Health und Gesundheitspolitik stellt diese gesundheitliche Ungleichheit eine zentrale Herausforderung dar. In einer Gesellschaft, die sich auf Solidarität und Chancengerechtigkeit beruft, ist der Erfolg von bevölkerungsbezogenen Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheit auch daran zu messen, inwieweit alle angesprochenen Bevölkerungsgruppen erreicht werden und im besten Fall einen Beitrag zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit geleistet wird. So steht es im WHO-Rahmenprogramm Health 2020 und so ist es auch im neuen Präventionsgesetz (PrävG) verankert. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen wie dem demografischen Wandel und der wahrscheinlich anhaltenden Zuwanderung von Flüchtlingen und Asylsuchenden ist davon auszugehen, dass dem Thema in den kommenden Jahren eine unverändert hohe Bedeutung zukommen dürfte und es eventuell eine noch breitere Palette an Fragen aufwirft.

Das vorliegende Schwerpunktheft verfolgt das Anliegen, anhand ausgewählter Forschungsarbeiten den aktuellen Stand der sozialepidemiologischen Forschung wiederzugeben, die sich innerhalb der Gesundheitswissenschaften als eigenständige Forschungsrichtung mit dem Schwerpunkt auf der Analyse der gesundheitlichen Ungleichheit etabliert hat. Dies wird bereits im Einführungsbeitrag von Thomas Lampert, Matthias Richter, Sven Schneider, Jacob Spallek und Nico Dragano deutlich, der die Entwicklung der Sozialepidemiologie über die letzten 30 Jahren nachzeichnet und wichtige Forschungsperspektiven, die sich z. B. über die epidemiologische Lebenslaufforschung, die Versorgungsforschung und die epigenetische Forschung ergeben, aufzeigt. Daran anknüpfend befasst sich der Beitrag von Tabea Becker-Grüning, Sven Schneider, Diana Sonntag, Marc N. Jarczok, Heike Philippi und Freia De Bock mit der Frage, welche Bedeutung dem elterlichen Sozialstatus bei Frühgeborenen für die gesundheitsbezogene Lebensqualität und das Risiko für Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter zukommt. Der Beitrag von Siegfried Geyer gibt einen Überblick über Studien, die soziale Unterschiede beim Auftreten chronischer Krankheiten in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen, darunter Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen und Diabetes mellitus Typ 2.

Die nachfolgenden drei Beiträge befassen sich mit sozialen Unterschieden im Gesundheitsverhalten: Jens Hoebel, Jonas D. Finger, Benjamin Kuntz und Thomas Lampert betrachten das Bewegungsverhalten, wobei sie zwischen sportlicher Aktivität und körperlicher Aktivität im Alltag differenzieren; Christine Fekete und Simone Weyers legen den Schwerpunkt auf das Ernährungsverhalten und beziehen nicht nur sozioökonomische, sondern auch psychosoziale und soziokulturelle Einflussfaktoren in ihre Betrachtung ein; und Timo-Kolja Pförtner, Katharina Rathmann, Irene Moor, Anton E. Kunst und Matthias Richter untersuchen sozioökonomische Unterschiede im Rauchverhalten von Jugendlichen in international vergleichender Perspektive und unter Berücksichtigung von individuellen wie auch makrostrukturellen Faktoren.

Zwei weitere Beiträge adressieren das Themenfeld Arbeit und Gesundheit: Nico Dragano, Morten Wahrendorf, Kathrin Müller und Thorsten Lunau thematisieren die ungleiche Verteilung von Arbeitsbelastungen nach beruflichen Positionen, wobei als Referenz für die Situation in Deutschland auch Ergebnisse für die gesamte Europäische Union (EU-27) berichtet werden. Lars Eric Kroll, Stephan Müters und Thomas Lampert wiederum geben den Forschungsstand zu den Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Gesundheit wieder und stellen aktuelle Befunde eigener Analysen vor.

Soziale Unterschiede im Versorgungsgeschehen werden anhand von drei Beiträgen, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen, behandelt: Jens Klein und Olaf von dem Knesebeck fokussieren auf die ambulante und stationäre Versorgung und schließen neben Sozialstatusindikatoren auch Indikatoren regionaler Deprivation sowie den Versichertenstatus ein. Ruth Deck und Kerstin Hofreuther-Gätgens befassen sich mit sozialen Unterschieden in der medizinischen Rehabilitation und betrachten dazu sowohl den Zugang als auch den Prozess und das Ergebnis der Rehabilitation. Andreas Kruse und Eric Schmitt gehen außerdem auf die pflegerische Versorgung im höheren Lebensalter ein, unter Berücksichtigung der Situation von Menschen mit Migrationshintergrund, die in der Versorgungsforschung oftmals nicht betrachtet werden.

Dass dies auch für die sozialepidemiologische Forschung gilt, macht der Beitrag von Oliver Razum, Laura Karrasch und Jacob Spallek deutlich, der Migration als wichtige, in Analysen stärker zu berücksichtigende Dimension gesundheitlicher Ungleichheit beschreibt. Der abschließende Beitrag von Holger Kilian, Frank Lehmann, Antje Richter-Kornewitz und Lotte Kaba-Schönstein zeigt mit Bezug auf den von der Bundeszentrale für gesundheitliche Ungleichheit koordinierten Kooperationsverbund „Gesundheitliche Chancengleichheit“ auf, welche Anstrengungen in Deutschland im Bereich der soziallagen- und lebensweltbezogenen Gesundheitsförderung unternommen werden, um die bestehende gesundheitliche Ungleichheit zu verringern.

Wir, die Koordinatoren dieses Schwerpunktheftes, sind der Auffassung, dass die vorgestellten Beiträge in der Gesamtheit einmal mehr die große Bedeutung des Themas gesundheitliche Ungleichheit aufzeigen und zugleich die damit verbundenen Anforderungen an die Forschung, aber auch an die Politik und die zahlreichen Akteure im Gesundheits- und Sozialwesen überaus deutlich machen.

Ihre

figure b

PD Dr. Thomas Lampert

figure d

Prof. Dr. Dr. Uwe Koch-Gromus