Liebe Leserin, lieber Leser,

können wir Masern, Röteln und das kongenitale Rötelnsyndrom (CRS) eliminieren – können wir diese Krankheiten also beseitigen und sie, ganz dem ursprünglichen WortsinnFootnote 1 folgend, „vor unsere Schwelle setzen“? Und was sind die Präliminarien?

Mehr als einen Anscheinsbeweis bietet der amerikanische Doppelkontinent. Dort verzeichnete man die letzten autochthonen Fälle von Masern im Jahr 2002 und von Röteln und dem CRS im Jahr 2009 [1]. Auch in Finnland gelang die Eliminierung [2]. Selbst eine weltweite Eradikation wird für möglich erachtet [3]. Allerdings gefährden Impflücken und importierte Fälle immer wieder das Erreichte und erfordern stabilisierende Maßnahmen. Eine Lagebestimmung ist deshalb dringlich.

Die ersten 3 Beiträge des vorliegenden Hefts gehen dies aus epidemiologischer Sicht an. In der Europäischen Region der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden erhebliche Fortschritte in Richtung auf die Eliminierung von Masern und Röteln gemacht, wie M. Muscat et al. darlegen. Aber noch gibt es Länder mit hohen Erkrankungsraten. Größere Anstrengungen zur Steigerung der Bevölkerungsimmunität sind also erforderlich – gerade auch in Deutschland und besonders bei Jugendlichen und Erwachsenen, denn im Jahr 2012 waren rund 71% der Masernfälle 10 Jahre alt oder älter, berichtet D. Matysiak-Klose. In den letzten Jahren ereigneten sich wiederholt Ausbrüche in Bevölkerungsgruppen mit ungenügender Immunität, ganz überwiegend in den westlichen Bundesländern. Allerdings können gleichzeitige Masernausbrüche verschiedenen Ursprungs sein. Über die Bestimmung des Masernvirusgenotyps lassen sich importierte Masernviren einzelnen Ausbrüchen zuordnen und die Dauer von Übertragungsketten abklären, wie S. Santibanez und A. Mankertz darlegen. So ist die endemische Zirkulation der ehemals heimischen Masernvirusgenotypen C2 und D6 bereits vor mehr als einem Jahrzehnt abgebrochen. Mit Besorgnis müssen wir in der ersten Jahreshälfte 2013 die Ausbreitung des bislang raren Genotyps D8 verzeichnen [4].

Erneut stehen Immunitätslücken bei Jugendlichen, jungen Erwachsenen und Kleinkindern im Vordergrund. C. Poethko-Müller und A. Mankertz untermauern dies mit Daten zum Impfstatus sowie zum Fehlen schützender Maserntiter besonders bei Kindern im Alter von über 9 Jahren und bei Jugendlichen.

Dabei sind sichere und verträgliche Impfstoffe gegen Masern, Mumps und Röteln verfügbar, auch in Kombination mit Varizellenimpfstoff. Informationen zur Impfstoffsicherheit sind unter Fachleuten in Gesundheitsberufen wie unter Laien gefragt. Deshalb verdient der Beitrag von D. Mentzer, H. Meyer und B. Keller-Stanislawski eine besondere Empfehlung. O. Wichmann und B. Ultsch vervollständigen mit einer Übersicht zur Wirksamkeit und Effektivität der Impfstoffe gegen Masern und Röteln. Übersteigt die Impfquote 90%, dann bleibt bei Masernausbrüchen ausreichend Zeit für Impfungen zur Begrenzung des Ausbruchs.

A. Gaczkowska et al. beschreiben Repräsentativbefragungen von Eltern sowie von Jugendlichen und Erwachsenen zu Einflussfaktoren auf das Masernimpfverhalten. Eine hieraus entwickelte Aufklärungskampagne zielt in mehreren Ebenen auf die impfende Ärzteschaft, auf Eltern von minderjährigen Kindern sowie auf Jugendliche und nach 1970 geborene Erwachsene. Die Hälfte der Befragten wollte zukünftig das Internet als Quelle für gesundheitsrelevante Informationen zum Impfen nutzen. Jedoch sind im Web gerade auch Falschinformationen leicht zugänglich. Die Vorschläge von C. Betsch für einen aktiven Einsatz des Internets zu einer wissenschaftlich begründeten Impfaufklärung und gegen Fehlwahrnehmungen haben daher besondere Aktualität.

Bei Masernausbrüchen in Schulen hat ein frühzeitiges und konsequentes Management besonderes Gewicht, wenn es um die Vermeidung der Ausbreitung geht. Die Ausführungen von N. Höhl, C. Siewerin und F. Feil zu den aktuellen rechtlichen Anforderungen an behördliches Handeln werden daher besondere Aufmerksamkeit finden. Die Rechtslage ist für den öffentlichen Gesundheitsdienst wenig praxisgerecht. Es besteht Klarstellungsbedarf, wenn es um zeitweilige Schulausschlüsse und Wiederzulassungen geht.

Die Eliminierung von Masern und Röteln kann auf Dauer nur europaweit gelingen. Deshalb haben sich alle Mitgliedstaaten der Europäischen Region der WHO dazu verpflichtet, jährlich über den Stand und Fortschritte auf dem Weg zur Eliminierung von Masern, Röteln und dem CRS zu berichten. In Deutschland ist dies Aufgabe einer Nationalen Kommission, die D. Matysiak-Klose und O. Razum vorstellen. Die eingängige Schilderung von D. Koch et al., wie diese Aufgabe in der Schweiz angegangen wird, lädt zum Vergleich ein. Nach Redaktionsschluss haben auch unsere Nachbarn in Österreich ihren Aktionsplan festgelegt [5].

Zur Impfung gegen Masern und Röteln werden heute fast ausschließlich Kombinationsimpfstoffe mit Mumps und auch mit Varizellen angewendet. Die Auswirkungen auf die Epidemiologie dieser Krankheiten untersuchen J. Koch und A. Takla sowie Siedler et al.

Ende der 1999er-Jahre waren die Masern noch häufig genug für ein Sentinel über freiwillig kooperierende Arztpraxen, worauf A. Siedler, A. Grüber und A. Mankertz zurückblicken. Der seitherige Rückgang der Masernzahlen bestätigt das Erfordernis für die Masernmeldepflicht ab 2001 ebenso wie grundsätzliche Fortschritte.

Hindernisse auf dem Weg zur Eliminierung

Quer durch das vorliegende Heft zieht sich eine Botschaft: Die Entwicklung bis 2012 reicht noch nicht für eine Eliminierung der Masern und Röteln in Deutschland. Ein breites Aufflammen der Masern in der ersten Jahreshälfte 2013 unterstreicht das. Bis Mitte Juni 2013 wurden insgesamt 905 Masernfälle an das RKI übermittelt – ein Mehrfaches der Vorjahresmeldungen (n = 166). Fast die Hälfte der Erkrankten (47%) waren Erwachsene ab 20 Jahren [4].

Auch aus anderen Ländern der Europäischen Region der WHO werden Ausbrüche von Masern berichtet, so aus Aserbaidschan, Georgien, Israel, den Niederlanden, der Türkei und aus dem Vereinigten Königreich [6, 7]. Sie erinnern ebenso wie ein Rötelnausbruch in Polen [8] an unsere grenzüberschreitende, gegenseitige Abhängigkeit auf dem Weg zur Eliminierung von Masern und Röteln. Umso wichtiger sind Gründe für Impfabstinenz, die einer ausreichend breiten Immunität in der Bevölkerung entgegenstehen.

Für Europa hat Muscat eine vielschichtige Übersicht zu besonders maserngefährdeten Personen und Bevölkerungsgruppen vorgelegt [9]. Die Ursachen reichen von philosophischen und religiösen Gründen über Informationsdefizite bis hin zu einem unzureichenden Zugang zu gesundheitlicher Versorgung. Immer wieder werden Arztpraxen und Krankenhäuser, Kindergärten und Schulen zu Orten der Masernübertragung.

Masernausbrüche in Schulen und Kindergärten signalisieren Immunitätslücken. Etliche Berichte betreffen Schulen, die nach der von Rudolf Steiner (1861–1925) begründeten Waldorfpädagogik geführt werden [9]. Von den 703 Waldorfschulen in Europa befinden sich 233 (33,1%) in Deutschland, davon 57 in Baden-Württemberg [10, 11]. Bundesweit liegt der Anteil der etwa 83.000 Waldorfschüler [11] bei knapp 1% aller Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen und erreicht in Baden-Württemberg rund 2% [12].

Warum aber Immunitätslücken unter Waldorfschülern? Für ein Verständnis der Ursachen biete ich Ihnen 2 Faktoren an.

Die anthroposophische Sicht der Medizin fußt auf der spirituellen Philosophie Rudolf Steiners. Sie versteht sich ausdrücklich nicht als Alternative, sondern als Erweiterung der bestehenden naturwissenschaftlichen Medizin. Steiner sah die Entwicklung menschlichen Lebens in 4 Wesensgliedern. Der sog. „physische Leib“ ist unseren Sinnen zugänglich und Objekt des heutigen naturwissenschaftlichen Denkens. Im „Ätherleib“ wirken Kräfte der Gestaltbildung, Wachstum, Regeneration und Fortpflanzung. Der „Astralleib“ ist Träger des Bewusstseins, der Empfindungen und des Gefühlslebens. Hinzu tritt das Ich des Menschen als Kraft seiner selbstbewussten Persönlichkeit.

Im Tod lösen sich Ich, Astralleib und Ätherleib vom physischen Leib, um in einer Wiedergeburt am Aufbau eines neuen physischen Leibes mitzuwirken. Ein Kind verwirklicht sich in der Auseinandersetzung von Ursachen und Wirkungen aus früheren Lebensspannen mit seiner Vererbung, Umwelt und Erziehung. Das gilt auch für den Ablauf einer Infektionskrankheit. Neben die physische Komponente eines nachweisbaren Erregers mit typischen Symptomen und Komplikationen tritt ein spiritueller Reifungsprozess. Steiner erwähnte beispielhaft Masern und Scharlach [13]. Nach diesem spirituellen Krankheitsverständnis erschien es sinnvoll, dass Kinder klassische Kinderkrankheiten wie eben die Masern durchmachen. Das Ziel der Eliminierung von Masern und Röteln führt nun zu einem Konflikt: Kann anthroposophische Medizin Krankheiten zulassen, die nach der naturwissenschaftlichen Medizin nicht mehr vorkommen sollen? Ein Weg wird dadurch öffnet, dass Steiner kein Impfgegner war. So äußerte er in Bezug auf die Pockenimpfung in einer Diskussion mit Ärzten: „Da muß man eben impfen. Es bleibt nichts anderes übrig. Denn das fanatische Sichstellen gegen diese Dinge ist dasjenige, was ich, nicht aus medizinischen, aber aus allgemein anthroposophischen Gründen, ganz und gar nicht empfehlen würde.“ [14] Und an anderer Stelle: „Impfung wird keinem Menschen schaden, welcher nach der Impfung im späteren Leben eine spirituelle Erziehung erhält“ [15], wie sie in der Waldorfpädagogik angestrebt wird.

In der anthroposophischen Ratgeberliteratur hat sich der Tenor über die Jahrzehnte vom normalen Durchmachen klassischer Kinderkrankheiten über den Kompromiss einer späten Impfung vor der Pubertät hin auf eine differenziertere Abwägung unter Einbezug ausgewählter schulmedizinischer Veröffentlichungen entwickelt. Den aktuellen Stand der Diskussion bieten eine Leitlinie und ein Patientenmerkblatt zu Masern und zur Masernimpfung [16, 17] im Auftrag der Gesellschaft anthroposophischer Ärzte in Deutschland. Kern der Impfberatung ist eine freilassende Darstellung der Empfehlungen der Ständigen Impfkommission, komplementiert durch salutogenetische Überlegungen und zugleich eingehend auf das erhöhte Risiko für Erwachsene wie für Säuglinge.

Ein zweiter Faktor begünstigt Immunitätslücken in Waldorfschulen. Längst nicht alle Eltern, die für ihre Kinder in der Waldorfpädagogik eine Alternative zum staatlichen Schulsystem suchen, sind Anhänger der Anthroposophie oder kennen deren Grundlagen. Mit der Selbstselektion in ein alternatives Erziehungskonzept mag eher ein größerer Abstand zur Schulmedizin und zu Impfungen einhergehen. Dies hemmt die Entwicklung einer hohen Bevölkerungsimmunität möglicherweise viel nachhaltigerer.

Masern und Röteln sind längst noch nicht eliminiert. Auf dem weiteren Weg bedarf es einer breiteren Annahme dieses Ziels, verbunden mit größerer Entschlossenheit und Handlungsbereitschaft. Ob es auch einer Impfpflicht bedarf? Ich meine, nein. Aber es gibt auch eine ethische Verantwortung. Wer sich möglicherweise mit Masern oder Röteln angesteckt hat, darf den Schutz von Ansteckungsgefährdeten nicht verletzen. Noch nicht Geimpfte tragen Mitverantwortung dafür, Infektionen nicht weiterzutragen. Das gilt besonders für Beschäftigte in Gesundheitseinrichtungen. Schließlich bedürfen die Regeln für den Zugang zu Kindertageseinrichtungen, Schulen und ähnlichen Umgebungen der Klarstellung, rasch und bundesweit. Die Zeit drängt.

Ihr

Günter Pfaff