In der vorliegenden Oktoberausgabe dieser Zeitschrift erscheint ein historischer Artikel von Brandt und Artmeier-Brandt zum Thema „Sieg über den Operationsschmerz“ [2]. Die Autoren schildern detailliert die Sicht zweier Patienten aus der Ära vor Einführung der Anästhesie vor 170 Jahren. Hierbei wird deutlich, dass eine Operation in der damaligen Zeit ein äußerst schmerzhaftes, dramatisches Ereignis für den einzelnen Patienten bedeutete, das man auf jeden Fall zu verhindern versuchte. Eine ähnliche Aussage stammt von Johann Ulrich Bilguer aus dem Jahre 1761 [1]: Nichts kan natürlicher als die allgemein herrschende Neigung seyn, lieber zu sterben, als das Abschneiden großer Glieder gerne und willig ausstehen zu wollen.

Für die Durchführung einer Operation ohne Anästhesie gab es damals einige Prämissen. In der Regel benötigte man mehrere kräftige „Wärter“ zum Festhalten des Patienten. Alternativ gab es Operationsstühle, an denen man Arme und Beine des zu Operierenden mit Gurten fixieren konnte. Von extrem wichtiger Bedeutung war die Schnelligkeit des Operateurs. Ein ultraschneller Operateur konnte dem Patienten Sekunden bzw. Minuten heftigen Leidens ersparen. Einer der schnellsten Operateure dürfte Robert Liston (1794–1847) gewesen sein, bei dem Amputationen von Gliedmaßen zwischen 28 s und 2½ min dauerten. Er soll bei einer zügigen Amputation auch einmal akzidentell den Finger eines Assistenten abgetrennt haben.

Operation bedeutete meist Amputation

Vor Einführung der Anästhesie waren Operationen seltene Ereignisse. Im Massachusetts General Hospital in Boston fanden im 25-Jahres-Zeitraum von 1821 bis 1846 insgesamt 333 Operationen statt, darunter 123 Amputationen von Gliedmaßen [3]. Mit Einführung der Anästhesie am 16. Oktober 1846 vervielfachte sich die Anzahl der Operationen. In den 23 Jahren ab 1847 wurden im Massachusetts General Hospital bereits 1924 Operationen registriert, darunter 1098 Amputationen. Hieraus wird ersichtlich, dass die Einführung der Anästhesie zwar zu einer Zunahme der Operationshäufigkeit führte, dass sich jedoch die angewandten Operationsverfahren in den ersten zwei bis drei Jahrzehnten nicht änderten. Erst in den 1890er-Jahren kam es zu einer Zunahme der intraabdominellen Operationen.

Vor 170 Jahren fand die erste öffentlich demonstrierte Äthernarkose statt

Am 16. Oktober 1846, also vor 170 Jahren fand im erwähnten Krankenhaus in Boston die erste öffentliche Demonstration einer erfolgreichen Äthernarkose für eine Operation statt. Bereits Jahre zuvor – im Jahre 1842 – hatte Crawford Williamson Long (1815–1878) erste erfolgreiche Äthernarkosen durchgeführt; er hatte dies jedoch erst im Jahre 1849 publik gemacht [5]. Die öffentliche Demonstration durch William Thomas Green Morton (1819–1868) im Oktober 1846 hingegen ermöglichte das Bekanntwerden dieses Verfahrens und legte den Grundstein für die weltweite Verbreitung der Anästhesie. Allerdings dauerte es aufgrund der damals limitierten transatlantischen Kommunikationsmöglichkeiten mehr als zwei Monate, bis diese Nachricht in Europa aufgenommen wurde, so dass erst im Dezember 1846 die ersten europäischen Äthernarkosen zur Anwendung kamen.

Anästhesien keine Selbstverständlichkeit

Noch 170 Jahre nach Einführung der Anästhesie finden schmerzhafte Operationen ohne jegliche Anästhesie statt. Es kursieren Videos, in denen gezeigt wird, wie ganze Gruppen von männlichen Kindern mit einem Messer und einem Schlagwerkzeug in Sekundenbruchteilen ohne Anästhesie zirkumzidiert werden. Im Internet finden sich auch Videos über Tonsillektomien bei wachen Kindern ohne Gabe von Anästhetika, wobei beteiligte Ärzte in Interviews angeben, die Anästhesie sei zu gefährlich und zeitraubend. Und Anästhesisten selbst haben lange Zeit gezögert, Anästhetika bei Operationen von Frühgeborenen einzusetzen [4]: We have avoided the use of anaesthetic or analgesic agents which, in our experience, are unnecessary.

Es gibt auch vereinzelt Extremsituationen, in denen Operationen ohne Anästhesie durchgeführt werden. Am bekanntesten ist die Selbstoperation von Aaron Lee Ralston, dessen Arm im Jahre 2003 unter einem Stein eingeklemmt war und der sich nach 127 h den Arm selbst amputierte. Basierend auf diesem Erlebnis entstand der Film 127 Hours. Die Mexikanerin Inés Ramírez Pérez führte im Jahre 2000 mit einem Küchenmesser einen Kaiserschnitt bei sich selbst durch, nachdem sie sich mit drei Gläsern Schnaps betäubt hatte. Der Junge und sie selbst überlebten den Eingriff ohne weitere Probleme [6]. Leonid Rogozov benutzte bei seiner notfallmäßigen Selbst-Appendektomie in der Antarktis 1961 jedoch Procain als Lokalanästhetikum, mit dem er die Gewebe infiltrierte [7].

Der Artikel von Brandt und Artmeier-Brandt in diesem Heft [2] erinnert uns daran, dass die Anästhesie bei Operationen früher keine Selbstverständlichkeit war. Seit 170 Jahren gibt es die Möglichkeit, Operationen generell in Schmerzfreiheit für den Patienten durchzuführen, wodurch – zusammen mit der Antisepsis – die Grundlage für die Entwicklung der modernen Chirurgie in ihrer heutigen Vielfalt gelegt wurde.

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H. Böhrer