1 Artendiversität

Niemand kann heute sagen, wie viele Tierarten auf der Erde tatsächlich vorkommen. Die Anzahl wissenschaftlich beschriebener Arten wird gegenwärtig mit etwa 1,8 Mio. angegeben. Über die darüber hinaus existierenden Arten gibt es nur stark variierende Schätzungen. Hierüber wurde an anderer Stelle in dieser Zeitschrift schon berichtet (Storch und Wehe 2007). Bis heute sind nur etwa 250.000 Meerestiere beschrieben worden (Bouchet 2006), Schätzungen zum tatsächlichen Umfang der marinen Fauna reichen aber bis in die Millionen (Grassle und Maciolek 1992; Lambshead und Boucher 2003). Unter den zahlreichen im Meer lebenden Wirbellosen sind es vor allem Krebstiere (Crustacea), Schnecken (Gastropoda), Muscheln (Bivalvia) und die zu den Annelida gehörenden Polychaeta oder Borstenwürmer, die das Gros der Arten stellen. Von letzteren sind nach verbreiteter Angabe weltweit etwa 13.000 Arten beschrieben worden (Hartmann-Schröder 1993; Hutchings und Fauchald 2000), eine Existenz von 25.000 bis zu 30.000 Arten wird aber vermutet (Snelgrove et al. 1997).

Beeindruckender noch als die Artendiversität sind die schieren Individuenzahlen, in denen Borstenwürmer in bestimmten Bereichen auftreten können. Ein paar Zahlen mögen dies verdeutlichen: in der Gezeitenzone, dem Eulitoral, leben bis zu 30.000 Individuen pro m2 (Storch und Welsch 2004); bis zu 4.000 Individuen allein des Seeringelwurmes Nereis diversicolor können in einem Quadratmeter Wattenmeerboden der Nordsee vorkommen (Hartmann-Schröder 1983); auf einer Sedimentfläche von nur 10 m2 in der Bass Strait wurden 200 verschiedene Arten gefunden (Coleman et al. 1997); nach Vine (1986) befanden sich in einem 4,7 kg schweren Korallenblock aus dem Roten Meer 1441 Individuen aus 103 verschiedenen Arten. Borstenwürmer sind neben Muscheln die dominierende Gruppe in Weichböden und stellen dort zusammen etwa 80 % der benthonischen Lebensgemeinschaft (Sanders 1968). Anhand dieser Daten wird deutlich, welche außerordentliche ökologische Bedeutung Borstenwürmern zukommt, insbesondere mit Blick auf die Remineralisierung organischer Substanz – etwa 3 t Substrat können jährlich von 30.000 Würmern pro m2 durch den Darm transportiert werden (Storch und Welsch 2004) –, der Bioturbation des Meeresbodens sowie in der Funktion als Nahrungsquelle anderer Organismen. Untersuchungen haben ergeben, dass der Mageninhalt ein- bis zweijähriger Schollen zu über 40 % aus Schwanzstücken des Wattwurms Arenicola marina besteht, wobei sich die Würmer bis zu 30-mal während ihrer Lebensspanne verbeißen lassen können und damit im wahrsten Wortsinn eine regenerative Energiequelle darstellen. Es wurde errechnet, dass in Siedlungen des Wattwurms bis zu 4.000 t Sand pro Hektar bewegt werden können, was einer einheitlichen Schicht von 32 cm Dicke entsprechen würde (Kundy 1990). Trotz gleichen Grundbauplans unterscheiden sich die einzelnen Arten zum Teil erheblich voneinander. Die Größenspanne reicht von wenigen Millimetern bis hin zu Metern, die Tiere können typische wurmförmige Gestalt haben, dabei mehr oder weniger vagil sein, sie können aber auch Körperformen vorweisen, die nicht ohne Weiteres an einen Wurm erinnern. Vielfach ist der Körper in einer Wohnröhre verborgen und nur eine Tentakelkrone ragt aus dieser hervor. Auch die innere Anatomie ist sehr verschieden. Zu der körperlichen Vielgestaltigkeit kommt häufig noch eine farbenfrohe Zeichnung hinzu.

Borstenwürmer waren immer beliebte Studienobjekte, kaum einer der großen Zoologen, der ihnen nicht eine Arbeit gewidmet hätte. Für den Anfänger eignet sich kaum ein Tier besser als ein Ringelwurm zum Verständnis des Coeloms, und will man sich über die diversen Reproduktions- und Vermehrungsweisen im Tierreich informieren, so bieten die Borstenwürmer allein einen großen Überblick über vorhandene Modi. Bemerkenswerte Beispiele bieten der Palolowurm (Palola viridis, Eunicidae) oder Vertreter der Syllidae, wie die Gattung Autolytus. Bei ersterer, im Pazifik vorkommender, Art ist die Fortpflanzung durch die Mondphasen synchronisiert. Nur die Hinterenden der Männchen und Weibchen, prall gefüllt mit Geschlechtsprodukten, schwärmen im dritten Mondviertel im Oktober oder November. Die Körper werden durch die Brandung zerschlagen und es kommt zur Befruchtung der Gameten im freien Wasser. Bei Autolytus liegt ein Generationswechsel vor, wobei ungeschlechtlich erzeugte Individuen durch das Knospen von Tierketten entstehen.

2 Die Erforschung der Borstenwürmer durch Volker Storch

2.1 Faunistisch-systematische Untersuchungen

Die Artendiversität und die Vielfalt der Formen und Lebensäußerungen der Borstenwürmer haben auch das Interesse von Volker Storch vor etwas mehr als 40 Jahren geweckt, und die Beschäftigung mit diesen Tieren hat ihn seine wissenschaftliche Karriere hindurch begleitet. Von seinen über 250 Originalarbeiten zum gesamten Tierreich haben etwas weniger als ein Zehntel Borstenwürmer zum Thema. Zusammenfassende Artikel sind in einschlägigen Monographiereihen erschienen, entsprechende Kapitel finden sich in den eigenen Lehrbüchern. Dazu kommen durch ihn angeregte weitere Arbeiten von Kandidaten und Mitarbeitern. Die besondere Liebe zu den Borstenwürmern zeigt sich in dem bereits 1971 erschienenen Band ,Meeresborstenwürmer‘ der Neuen Brehm-Bücherei (Storch 1971).

Selbst auf Anregung seines Lehrers Prof. Adolf Remane zur Beschäftigung mit Polychaeten gebracht, beginnt die wissenschaftliche Laufbahn gleich mit einer Reihe von Publikationen zu diesen Tieren. Im Blickpunkt stehen hierbei zunächst faunistische Arbeiten. Remane und Schulz (1964) beschrieben zum ersten Mal einen von ihnen bei einem Forschungsaufenthalt am Roten Meer neu entdeckten Kleinstlebensraum. Im flachen Eulitoral, d. h. im Bereich des Riffdaches, gibt es dichte Bewüchse der buschig wachsenden Rotalge Digenia simplex. Die Algen sind über und über bedeckt und inkrustiert von Sand- und Kalkpartikeln und bieten so einen abwechslungsreichen Lebensraum für allerlei Kleinstorganismen, auch Borstenwürmer. Aus dieser nach Remane und Schulz (1964) genannten „Sandalgen-Zone“ werden zwei neue Arten beschrieben, der Syllidae Exogone remanei und der Spionidae Aonides nodosetosa (siehe Storch 1966). Es folgt die Beschreibung weiterer, von Volker Storch selbst im Roten Meer gesammelter Arten: Pisione reducta (Pisionidae), Syllis (Typosyllis) magnipectinis (Syllidae) und Paraonis (Paraonides) harpagonea (Paraonidae) (heute: Cirrophorus harpagoneus) sowie die Hesioniden Gyptis ophiocomae und Podarke pugettensis spinapandens (heute zur Gattung Ophiodromus gestellt) (Storch 1967a, Storch und Niggemann 1967). Weitere Arten wurden entdeckt und zum ersten Mal im Roten Meer nachgewiesen. Die Erforschung von Borstenwürmern des Roten Meeres hat eine lange Geschichte in Deutschland. So war es Grube (1868, 1869), der fast genau 100 Jahre zuvor Polychaeten des Roten Meeres beschrieben hatte, nach den ersten von Napoleons Ägyptenfeldzug stammenden und von Savigny (1818, 1822) beschriebenen Arten (siehe auch Wehe et al. 2006).

Die Arbeit über Hesioniden ist nicht rein systematischer Natur, sondern auch klassische Naturbeobachtung und betont die Lebensweise der Tiere. Bei den beiden neuen Arten handelt es sich nämlich um kommensalisch lebende Formen, ein Phänomen, welches unter Borstenwürmern weit verbreitet ist. Viele Arten leben vergesellschaftet mit anderen marinen Wirbellosen und profitieren von deren Behausung oder Nahrungsresten, ohne ihnen dabei zu schaden. Auffällig ist hierbei das häufige Vorkommen auf bzw. mit Echinodermaten. Von 292 kommensalisch lebenden Borstenwurmarten leben 36 % mit einer der fünf Klassen der Echinodermaten vergesellschaftet und von ca. 570 bekannten ‚Wirtsarten‘ gehören ebenfalls 36 % zu den Stachelhäutern (Martin und Britayev 1998). Kommensalen finden sich am häufigsten unter den Hesionidae und Polynoidae, die letzteren sind auch als Schuppenwürmer bekannt. Die Beziehungen zwischen Kommensalen und Wirt sind meist artspezifisch. Die Untersuchungen von V. Storch an Podarke pugettensis spinapandens haben gezeigt, dass ihr Wirt, der irreguläre Seeigel Clypeaster humilis, ausschließlich diese Art akzeptiert, wohingegen andere Arten von den Pedicellarien und Stacheln des Seeigels bekämpft und in ihrer Fortbewegung behindert werden. Gyptis ophiocomae wiederum zeigt eine Zeichnung, die der seines Wirtes – dem Schlangenstern Ophicoma scolopendrina – täuschend ähnlich ist, so dass die Tiere auf ihrem Wirt nur sehr schwer auszumachen sind (Storch und Niggemann 1967).

Einer der häufigsten Schuppenwürmer in Korallenriffen des Roten Meeres (Wehe 2006) und bereits von Savigny (1818, 1822) beschrieben, ist Iphione muricata. Ebenfalls im Roten Meer kommt die nahe verwandte Art I. ovata vor (Abb. 1). Äußerlich ähneln diese Tiere den zu den Mollusken gehörenden Chitonen oder Käferschnecken (Polyplacophora). Diese Auffälligkeit veranlasste Storch (1967b), die Lebensweise von Iphione genauer zu studieren. Käferschnecken tragen auf ihrem Rücken acht in Reihe liegende Kalkplatten, die den Tieren bei oberflächlicher Betrachtung ein segmentiertes Erscheinen verleihen. Der Körper ist in der Regel breit, oval und abgeflacht. Sie besitzen ein umfangreiches und differenziert ausgeprägtes Muskelsystem, das es ihnen ermöglicht, sich fest an den Untergrund zu haften; man kann sich die Tiere gewissermaßen wie einen Saugnapf wirkend vorstellen. Die meisten Arten leben daher auf Hartsubstrat, sei es Felsboden oder Korallen, und weiden den Untergrund ab. Dabei lässt sich oft ein „Stammplatz“ beobachten, häufig als Vertiefung im Untergrund zu erkennen, an den sie nach kurzen Ausflügen der Nahrungssuche zurückkehren. Ganz ähnliche Beobachtungen wurden nun an Iphione gemacht. Wie alle Schuppenwürmer besitzt diese Art serial und paarig angeordnete Rückenschilder, so genannte Elytren, die das Tier komplett bedecken (s. Abb. 1). Diese Rückenschilder sind kräftig ausgebildet und überlappen einander dachziegelartig. Durch eine ebenfalls kräftige und ähnlich den Chitonen ausgebildete Muskulatur leben auch diese Schuppenwürmer tagsüber fest gehaftet am Substrat und wandern nur nachts zur Nahrungsaufnahme ein wenig umher. Wie bei anderen Schuppenwürmern, z. B. bei der im Sediment lebenden Seemaus (Aphrodita aculeata) der Nordsee, kann man auch bei ihnen ein Heben und Senken der Elytren beobachten, wodurch ein Atemwasserstrom erzeugt wird.

Abb. 1
figure 1

Iphione ovata (Polynoidae), Dorsalansicht, Vorderende rechts im Bild (Original, T. Wehe)

Der wabenartige Aufbau der Elytren ist schon früh auf Interesse gestoßen (Kinberg 1856). Es wurden auch Vergleiche zu Pflanzenparenchym gezogen (Pflugfelder 1933). Die genaue Struktur, basierend auf elektronenmikroskopischen Untersuchungen, wurde erst von Storch und Alberti (1995) aufgezeigt. In der Sprache der Ingenieure würde der Aufbau der Elytren wohl als Leichtbauweise bezeichnet werden, wobei Materialersparnis mit gleichzeitiger Festigkeit einhergeht. Auf ultrastruktureller Ebene zeigt sich eine einzigartige Konstruktion des dorsalen Epithels aus einschichtiger Epidermis und Kutikula mit Kammern (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Schematische Darstellung eines senkrechten Schnittes durch ein Elytron von Iphione muricata. Ch Kammer, CZ Kutikula der Verbindungszone, H homogene Kutikula, MU Muskulatur, Ne Nerv (aus Storch und Alberti 1995)

Der Indo-Westpazifik ist aus zoogeographischer Sicht die Provinz mit der höchsten Biodiversität. Dies gilt fast ausnahmslos für alle marinen Tiergruppen und ist besonders augenfällig bei den farben- und formenprächtigen Korallen, Schnecken oder Rifffischen. In einem Bereich, der sich in etwa von der Malaiischen Halbinsel über die indonesische Inselwelt bis hin nach Neuguinea und den Philippinen erstreckt, ist die Artenvielfalt am höchsten. Auch Borstenwürmer bilden hier keine Ausnahme. In den 1980er-Jahren entstanden mehrere systematisch-faunistische Arbeiten zur Polychaetenfauna der Philippinen, in denen drei neue Arten beschrieben und weitere Arten dokumentiert wurden (Rosito 1980; Hartmann-Schröder 1981; Storch und Rosito 1981; Rosito 1983; Hartmann-Schröder 1984; Rosito und Gualberto 1984). Die gesammelten Arten und die Ergebnisse dieser Arbeiten resultieren aus Kursen und Feldstudien die von V. Storch als Gastprofessor im Rahmen einer Kooperation zwischen der Universität Heidelberg und der Universität San Carlos, Cebu City sowie dem Southeast Asian Fisheries Developmental Center SEAFDEC in Tigbauan (Iloilo) durchgeführt wurden. Interessanterweise fand sich unter den untersuchten Borstenwürmern eine große (bis zu 60 cm Länge) röhrenbauende Art, Loimia medusa, in deren Röhre eine kleine Krabbe, Aphanodactylus sibogae, gefunden wurde, die bis dato nur von einem einzigen Fundort in Indonesien bekannt war. Die Krabbe gehört in die Verwandtschaft der so genannten Muschelwächter, deren Vertreter, wie der Name andeutet, als in Muscheln lebend bekannt sind. Diese Assoziation ist insofern ungewöhnlich, als der Mitbewohner in diesem Fall nicht der Borstenwurm sondern die Krabbe ist. In der Nordsee finden wir eine Assoziation mit umgekehrten Vorzeichen. Die erwachsenen Tiere des großen Einsiedlerkrebses, Pagurus bernhardus, leben in Gehäusen einer der größten Schnecken der Nordsee, dem Wellhorn, Buccinum undatum. Der Krebs reicht mit seinem Hinterleib nicht bis in die hinteren Windungen des Schneckengehäuses. Dort aber findet man regelmäßig einen Nereididen als Mitbewohner, den durchaus 10 cm erreichenden Nereis fucata. Sobald der Krebs seine Beute isst, kommt der Wurm über den Körper des Krebses herausgekrochen und wagt sich bis unmittelbar zu dessen Mundwerkzeugen vor, um am Mahl teilzunehmen.

2.2 Morphologische Untersuchungen

Nach moderner Auffassung versteht man unter Biodiversität mehr als nur Artenvielfalt. Biodiversität beinhaltet auch supra- und subspezifische Ebenen, bis hin zur genetischen Vielfalt. So finden wir auch auf der makroskopischen und ultrastrukturellen Ebene eine Vielzahl unterschiedlich ausgeprägter Strukturen: von Organen, Geweben, Zellen bis hin zu Organellen.

Die Untersuchung der morphologischen Vielfalt der Borstenwürmer bildet den Schwerpunkt der wissenschaftlichen Arbeiten von Volker Storch. Bereits mit der minutiösen Darstellung des Muskelsystems von Iphione muricata (Storch 1967b) wird die weitere Ausrichtung der Forschung über die makroskopische Morphologie und Histologie hin zur Ultrastruktur deutlich.

Die Muskulatur der Annelida, damit auch der Borstenwürmer, wird in Lehrbüchern zumeist sehr vereinfacht dargestellt. Der Student erfährt von einem Hautmuskelschlauch mit äußerer Ring- und innerer Längsmuskulatur, zuweilen von dorsoventral verlaufender Muskulatur. Wie viel komplizierter die Verhältnisse im Speziellen sind, wurde beispielhaft von Storch (1968, 1969) dargelegt. Nach heutigem Stand der Systematik wurden Vertreter aus 26 Polychaetenfamilien vergleichend anatomisch untersucht, was knapp einem Drittel aller bekannten Familien entspricht. Insgesamt fanden 70 Arten Berücksichtigung. Zur besseren Vergleichbarkeit der Muskulatur verschiedener Arten wurden standardisierte Blockdiagramme sowie in eine Ebene projizierte Schemata der Muskulatur einer Körperseite eines Segmentes angefertigt. Abbildung 3 zeigt die Verhältnisse bei Aphrodita aculeata. Die Untersuchung der Muskulatur hatte auch den Zweck, zum Verständnis der verwandtschaftlichen Beziehungen innerhalb der vielfältigen Gruppe der Borstenwürmer beizutragen. Grundlage und methodisches Rüstzeug dieser Arbeiten bildeten die von Remane (1956) in aller Ausführlichkeit formulierten Kriterien der Homologisierung. Storch (1968) entwickelte einen ursprünglichen Zentraltypus, die Schuppenwürmer im weiteren Sinne, von dem drei Entwicklungslinien ausgehen. Die Verwandtschaftsverhältnisse der Borstenwürmer zueinander sind bis heute unklar und in ständigem Fluss. Morphologische und molekulare Daten lassen sich nur in einigen Fällen zur Deckung bringen, und Monophylie kann nur für wenige Taxa belegt werden, u. a. für die von Storch (1968) als ursprünglich angesehenen Aphroditidae sensu lato. Auch eine kürzlich erschienene molekulare Phylogenie der Anneliden mit dem bisher umfangreichsten verwendeten Datensatz an Taxa und molekularen Markern konnte die großverwandtschaftlichen Verhältnisse nicht befriedigend auflösen (Rousset et al. 2007). Dass die Muskulatur als morphologisches Merkmal zur Verwandtschaftsanalyse herangezogen werden kann, hat Storch (1969) am Beispiel von benthonischen Polychaeten zeigen können. Arten aus verschiedenen Familien, die im gleichen Lebensraum – in diesem Falle Weichboden – vorkommen, zeigen deutliche Unterschiede in ihrer Muskulatur. Weitgehende Übereinstimmung herrscht aber mit Arten der gleichen Gattung, die in anderen Lebensräumen vorkommen – ein Hinweis darauf, dass die Muskulatur stärker die phylogenetischen Beziehungen als die Umweltbedingungen widerspiegelt.

Abb. 3
figure 3

Schematische Darstellung der Muskulatur von Aphrodita aculeata (Aphroditidae) (aus Storch 1968)

2.3 Ultrastrukturelle Untersuchungen: Integument und Verdauungstrakt

Es wurde bereits erwähnt, dass Biodiversität sich nicht auf die bloße Anzahl von Arten beschränkt. Die intensive Erforschung der Ultrastruktur von Zellen und Geweben durch die Transmissionselektronenmikroskopie, etwa seit den 1960er-Jahren, hat zu ganz neuen Erkenntnissen geführt. Strukturen und Vorgänge auf subzellulärer Ebene können anhand experimenteller Ansätze und elektronenmikroskopischer Aufnahmen rekonstruiert und auf diese Weise weite Bereiche der Biologie von Organismen, z. B. Fortpflanzung, Ernährung, Sinneswahrnehmung oder Bewegung, erklärt werden. Einen hervorragenden Überblick über die Ergebnisse der ultrastrukturellen Forschung an Borstenwürmern bieten u. a. Olive (1983a,b), Fischer und Pfannenstiel (1984), Bereiter-Hahn et al. (1984), Westheide und Hermans (1988), Harrison und Gardiner (1992), Rouse (1999) sowie Bartolomaeus und Purschke (2005).

Das Integument der Polychaeten wurde von Storch und Welsch (1970, 1972a), Welsch et al. (1984) und Storch (1988) intensiv untersucht. Es besteht aus einer einschichtigen Epidermis, deren Zellen einer Basallamina aufsitzen und apikal von einer Kutikula bedeckt werden. Darunter findet sich Ring- und Längsmuskulatur. Die einzelnen Bestandteile sind je nach Art und Körperabschnitt bzw. Körperanhang unterschiedlich ausgebildet. Besonders auffällig im elektronenmikroskopischen Bild – weil zumeist sehr regelmäßig angeordnet – sind die Kollagenfibrillen der Kutikula. Die Fibrillen sind dabei in etwa rechtwinklig gegeneinander versetzten Lagen angeordnet, wobei die Ausrichtung der Fibrillen jeweils diagonal zur Längsrichtung der Körperachse verläuft (Abb. 4). Auf diese Weise wird eine feste, aber gleichzeitig auch sehr dehnbare Textur geschaffen, deren wichtigsten Aufgaben es sind dem Körper Stabilität zu verleihen – der Hautmuskelschlauch bildet zusammen mit der flüssigkeitsgefüllten Leibeshöhle ein Hydroskelett –, Schutz zu gewährleisten, Kommunikation mit der Umwelt und die Absorption von Nährstoffen zu ermöglichen. Die Kutikula wird daher vielfach zur Oberfläche hin durchbrochen von Cilien, Mikrovilli oder Ausführgängen von Drüsenzellen bzw. Schleimzellen der Epidermis. Drüsenzellen sind in großer Zahl vorhanden und zeigen bei der Untersuchung im Elektronenmikroskop ebenfalls ein charakteristisches Bild (Abb. 5). In der Epidermis finden sich weiterhin Sinneszellen, Pigment- und Stützzellen sowie die borstenbildenden Chaetoblasten. Eine im Querschnitt getroffene Borste ist nicht nur schön anzusehen (Abb. 6), sondern offenbart auch das Prinzip ihrer Bildung. Die Chitinborste ist von hohlen Röhren durchzogen, die dort entstehen, wo am apikalen Pol des Chaetoblasten bei der Bildung des Chitins die Mikrovilli standen.

Abb. 4
figure 4

Kollagenfibrillen der Kutikula von Hypania invalida (Ampharetidae), beachte rechtwinklige Anordnung der Fibrillen, TEM, 5000x (Original, P. Kremer)

Abb. 5
figure 5

Sekretvesikel einer epidermalen Drüsenzelle von Hypania invalida, apikaler Pol links oben im Bild, TEM, 20.000x (Original, P. Kremer)

Abb. 6
figure 6

Quergetroffene Borsten im Integument von Hypania invalida. Das Lochmuster, tatsächlich handelt sich um Röhren, entsteht bei der Bildung der Borsten durch Mikrovilli, TEM, 2000x (Original, P. Kremer)

Das Integument und das Epithel des Verdauungstraktes wurden auch histochemisch untersucht (Storch und Welsch 1972b; Welsch und Storch 1970, 1986). Die Beschaffenheit des Integuments kann die Anforderungen der Umwelt an den Organismus widerspiegeln. Dies zeigen die Ergebnisse zu den atmosphärische Luft atmenden Borstenwürmern von Sumatra (Storch und Welsch 1972b). Diese Nereididen leben in Röhren in Mangroveböden, die nur einmal im Monat bei Springtide vom Wasser überspült werden. Es zeigte sich, dass der Enzymgehalt des Integuments deutlich geringer ist als der typischer mariner Arten. Offensichtlich ist bei diesen Arten die metabolische Aktivität der Epidermis geringer.

2.4 Ultrastrukturelle Untersuchungen: Sinnesorgane und Körperanhänge

Eines der wesentlichen Ziele der Systematik ist die Aufklärung verwandtschaftlicher Beziehungen von Arten und höheren Taxa zueinander und die Rekonstruktion der Stammesgeschichte. Die moderne Systematik bedient sich hierbei zahlreicher computergestützter Rechenmodelle und molekularer Methoden bzw. Merkmale. Dabei sollen, wenn möglich, monophyletische bzw. natürliche Verwandtschaftsgruppen identifiziert werden, d. h. Gruppen von Arten, die sich alle auf einen gemeinsamen Ahnen zurückführen lassen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist das Erkennen von Synapomorphien, Merkmalen, die nur den Mitgliedern eines Monophylums gemein sind. Solche Charaktere fehlen weitgehend innerhalb der Polychaeta. Ein Merkmal, welches in diesem Zusammenhang diskutiert wird, ist das Nuchalorgan, das bei vielen, aber nicht allen Borstenwürmern nachgewiesen ist. Es handelt sich um ein Chemorezeptororgan am Prostomium (‚Kopf‘) der Würmer. Es ist sehr unterschiedlich gestaltet: von unscheinbaren bewimperten Gruben bis hin zu einem großen Kopfanhang, der Karunkel, der Feuerwürmer (Amphinomidae). Storch und Welsch (1969) haben den Feinbau der Karunkel des Amphinomiden Eurythoë complanata untersucht. Dieses Nuchalorgan ist aus verschiedenen Typen von Sinnes- und weiteren Zellen aufgebaut und stellt damit ein zusammengesetztes Sinnesorgan dar.

Polychaeten besitzen zahlreiche Körperfortsätze: Palpen, Antennen oder Tentakel am Prostomium und darauf folgenden Segmenten, Cirren an den Parapodien entlang des Körpers. Diese Fortsätze werden vielfach als Tastorgane eingesetzt, dementsprechend konnte hier eine Vielzahl von Rezeptorneuronen bei verschiedenen Arten nachgewiesen werden (Storch 1972). Die Anzahl an sensorischen Zellen kann sehr hoch sein, so wurden in einem Dorsalcirrus von Harmothoë über 1000 gefunden. Storch (1973) hat die Sinneszellen der Polychaeten vergleichend mit denen anderer Wirbelloser dargestellt. Auch bei Wirbellosen finden sich generell die drei Exterorezeptortypen: primäre Sinneszelle, freie Nervenendigung, sekundäre Sinneszelle. Bei Borstenwürmern ist der erste Typus weit verbreitet. Eine zusammenfassende Darstellung zur Kenntnis der Rezeptorzellen von Borstenwürmern findet sich bei Storch und Schlötzer-Schrehardt (1988).

Neben den genannten Körperanhängen besitzen viele Borstenwürmer Kiemen, welche oft am Vorderkörper sitzen, aber auch entlang der Rückenlinie oder an den Parapodien zu finden sind. Besonders groß und auffällig sind sie bei in Röhren lebenden Formen entwickelt. Storch und Alberti (1978) und Storch und Gaill (1986) haben die Ultrastruktur von neun häufig im Küstenbereich vorkommenden Arten sowie der an hydrothermalen Tiefseequellen in hohen Dichten vorkommenden Alvinella pompejana (Alvinellidae) untersucht. Sie konnten zeigen, dass die Kiemen ausschließlich respiratorische Funktion haben und nicht dem Ionenaustausch oder anderen Transportprozessen durch das Epithel dienen. Allerdings ist der Gasaustausch über die Kiemen unterschiedlich bedeutend in den verschiedenen Arten, was unter anderem durch die Distanz der Blutgefäße zum umgebenden Meerwasser deutlich wird. Eigene Untersuchungen (Kremer und Wehe, in Vorbereitung) wurden hierzu an Hypania invalida (Ampharetidae) aus dem Rhein durchgeführt, dem einzigen Süßwasserpolychaeten in Deutschland.

3 Schlussfolgerungen

Der vorliegende Aufsatz kann nur einige wenige Aspekte zur Biodiversität der Borstenwürmer anreissen. Es war die Absicht dies anhand des wissenschaftlichen Beitrags von V. Storch zur Kenntnis der Polychaeta zu tun. Der Autor selbst hat sich intensiv mit der Diversität der Borstenwürmer, insbesondere der Schuppenwürmer des Roten Meeres und den weiteren Meeren um die Arabische Halbinsel, beschäftigt. Fast 800 Arten sind aus der ganzen Region bekannt, mehr als 560 allein aus dem Roten Meer (Wehe und Fiege 2002). Die Revision der Schuppenwürmer aus den Familien der Polynoidae und Sigalionidae resultierte unter anderem in der Beschreibung einer neuen Gattung und neun neuer Arten (Wehe 2006, 2007); nur ein Beispiel unter vielen für unseren immer noch geringen Kenntnisstand vor allem tropischer Gewässer. V. Storch, D. Fiege und T. Wehe haben die Geschichte der Erforschung und die eigenen Beiträge über Borstenwürmer des Vorderen Orients zusammengefasst (Wehe et al. 2006).

2007 hatten M. Reuscher, P. Kremer und T. Wehe die Gelegenheit, im Golf von Akaba weitere Sammlungen durchzuführen. Die Bearbeitung dieser Proben ist gegenwärtig noch im Gange. Bereits jetzt sind aber schon einige Neunachweise identifiziert worden. Unter den Ampharetidae wurde eine neue Art gefunden. In Hochachtung seiner herausragenden wissenschaftlichen Leistung und seiner Verbundenheit mit der Tiergruppe der Borstenwürmer, widmen M. Reuscher und T. Wehe diese neue Art Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Volker Storch.

4 Description of the new species

Family Ampharetidae, Malmgren, 1866

Subfamily Ampharetinae, Chamberlin, 1919

GenusSamytha, Malmgren, 1866

Type species: Sabellides sexcirrata, Sars, 1856

Generic diagnosis Prostomium without glandular ridges. Buccal tentacles smooth. Three pairs of smooth branchiae. No paleae. Thorax with 17 chaetiger, 14 unciniger. No notopodial cirri.

Samytha storchiReuscher & Wehe nov. spec. (Fig. 7)

Fig. 7
figure 7

aSamytha storchi Reuscher and Wehe nov. spec., holotype, complete specimen, lateral view; b schematic representation of the arrangement of the branchiae on first chaetiger; c, d thoracic uncini; e abdominal uncini

Specimens examined Holotype, complete specimen (SMF 18125), Red Sea, Gulf of Aqaba, Jordan, Aqaba, South of Marine Science Station, reef in front of tourist beach, coral rubble; 5–15 m, leg. M. Reuscher, P. Kremer, Y. Ahmed, 16 December 2007.

Description Holotype complete specimen, length 11 mm, width 1.5 mm on widest part of thorax, 30 segments, female. Body slender, integument in part transparent, eggs visible through body wall. Body from about unciniger 6 and 7 gradually tapering towards pygidium (Fig. 7a). Prostomium trilobed, without glandular ridges or eye-spots. Buccal tentacles mostly retracted, smooth where visible, without grove. Three pairs of cirriform branchiae without furrows, with minute annuli; bases of all branchiae broad and fused to each other. All three pairs of branchiae in transverse row on chaetiger 1 (segment III), arrangement of bases crescent-shaped with outer pair of branchiae situated anteriorly and middle pair of branchiae posteriorly (Fig. 7b). No chaetae arising from segment II. 17 thoracic chaetiger. Notopodia of all chaetiger clearly developed. 14 thoracic unciniger, first three chaetiger without tori and uncini. Notopodia without cirri. Segment borders only visible on thorax in ventral view. Abdomen short, only about one third of entire body length, comprising 11 segments. Abdomen with distinct ventral grove. Glandular pads above abdominal neuropodia. Pygidium with two very short anal cirri. Capillary chaetae bilimbate under light microscope. Thoracic and abdominal uncini of different shape; thoracic uncini with 3 teeth in vertical row, followed by two teeth in horizontal order and a single tooth above basal prow, or five teeth in one vertical row above basal prow (Fig. 7c,d); uncini of abdomen with single upper tooth above two vertical rows of four teeth each followed by the basal prow (Fig. 7e).

Remarks This new species can easily be distinguished from other species within the genus Samytha by the six branchiae, the bases of which are all fused and located on the first chaetiger. In other species there is a gap between the left and right group of branchiae. Thoracic uncini with teeth arranged in the pattern 1-1-1-2-1 have not been described for other species of Samytha. The number of 11 abdominal segments is the lowest mentioned in the literature and the specimen is sexually mature. In contrast to the most similar species S. californiensis Hartman 1969, the pygidium of the newly described species is not conspicuously crenulated.

Etymology The species is named for Volker Storch, a much valued teacher and zoologist, who started his scientific career working on polychaetes from the Red Sea, on the occasion of his 65th birthday and in honour of his tremendous contribution to our zoological knowledge.