Zusammenfassung
Der Stichwortartikel führt in den Forschungsstand zum Thema migrationsbedingte Mehrsprachigkeit ein. Er knüpft an aktuelle Forschung an, in deren Mittelpunkt die Veränderung von Migrationsbewegungen steht, wie sie sich in den letzten zwei Jahrzehnten ergeben hat. Diese Veränderungen führen zu sprachlichen Texturen in den Gegenwartsgesellschaften, die diejenigen Formen der Komplexität überschreiten, die es historisch gegeben hat. Im ersten Abschnitt des Beitrags wird das Konzept der Super-Diversität vorgestellt, das diese Lage theoretisch zu fassen sucht und im Hintergrund der weiteren Ausführungen steht. Das Faktum der sprachlichen Super-Diversität heutiger Gesellschaften stößt auf ein tradiertes sprachliches Selbstverständnis europäischer Prägung, nach dem sprachliche Homogenität als Normalfall gilt (Abschn. 2). Der Gegensatz von faktischer Super-Diversität und sprachlicher Homogenitätserwartung ist relevant für die Betrachtung des aktuellen Forschungsstands zur Mehrsprachigkeit, da die Homogenitätserwartung nicht nur unsere gesellschaftliche Praxis, sondern weltweit auch die Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Forschung prägt (Abschn. 3). Zu den Spuren dieser Tradition gehört, dass der überwiegende Teil der einschlägigen Forschung sich bis heute mit Erwerb, Entwicklung und Bildung im Kontext von Zweisprachigkeit befasst hat. Der darauf bezogene Stand von Erkenntnissen und die Kontroverse über die Bildungsrelevanz von Zweisprachigkeit werden im vierten Abschnitt vorgestellt, verbunden mit Hinweisen auf systematische Lücken, die sich aus der Zweisprachigkeitsperspektive mit Blick auf Mehrsprachigkeitskontexte ergeben. Den Schluss des Beitrags bildet ein Ausblick auf Forschungsvorhaben, die sich den bildungsrelevanten Folgen sprachlicher Super-Diversität zuwenden.
Abstract
The article provides an introduction to the state of the art in research on migration induced multilingualism. At first, recent research on the dynamics of migration is taken up, showing that practices and types of migration have changed dramatically in the past two decades. These changes lead to linguistic textures in societies that go beyond all forms of complexity ever experienced before. The theoretical concept of super-diversity tries to capture the new types of complexity. It is presented in the first chapter of this article. Actual super-diversity in migration areas is confronted with traditional self-concepts of homogeneity and monolingualism as the regular case in societies, in chapter two. A historical analysis in chapter three illustrates the development of the linguistic self-image of classical, i.e. European nation states. This concept of linguistic normality—a monolingual habitus—sets the frame not only for actual language practice and language policies in many nation states world-wide, but has also influenced important parts of scientific research and discourse on multilingualism. Chapters four and five deal with the state of knowledge concerning language development in multilingual contexts, and present the controversy about bilingual education. In the final chapter, perspectives for future research on multilingualism and education are presented that take linguistic super-diversity into account.
Notes
Mit ‚lebensweltliche Mehrsprachigkeit‘ ist eine durch alltäglichen Umgang mit mehr als einer Sprache gekennzeichnete Lebenslage bezeichnet. Diese unterscheidet sich zumindest graduell von ‚fremdsprachlicher Mehrsprachigkeit‘, sowohl im Hinblick auf Sprachaneignung als auch im Hinblick auf den Sprachgebrauch.
Vertovec ist inzwischen Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen.
Super-diversity – verdeckendes Schlagwort oder aufklärender Begriff? Vortrag von Steven Vertovec im Rahmen der Ringvorlesung „Interkulturelle Bildung“, gehalten am 26. Oktober 2010 an der Universität Hamburg, bisher unveröffentlicht.
Dieses Selbstverständnis ist auch in den sog. mehrsprachigen Nationen Europas (wie in Belgien, der Schweiz) zu finden; jedoch bezieht es sich dort auf die definierten Sprachterritorien innerhalb der Nation.
Im Falle der Zugehörigkeit von Menschen zu einer gehobenen sozialen Schicht werden die Vorteile von Zwei- oder Mehrsprachigkeit nicht in Frage gestellt. Hier scheint der in diesem Stichwortartikel nicht behandelte Zusammenhang von Sprache und Macht auf, wie ihn z. B. Pierre Bourdieu (1990) in seinen historischen Analysen aufgezeigt hat.
Diese Zielvorstellung wird seit den 1980er-Jahren in der erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung stark gemacht, aber nicht als Gegensatz zur Entwicklung von Zweisprachigkeit gesehen; vgl. als ein Beispiel Gogolin 1988.
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Gogolin, I. Stichwort: Mehrsprachigkeit. Z Erziehungswiss 13, 529–547 (2010). https://doi.org/10.1007/s11618-010-0162-3
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