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Handlungszuschreibung und Situationsdefinition

The attribution of action and the definition of the situation

KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Handlung als subjektiv sinnhaftes Verhalten und Handlung als Zuschreibungskategorie werden in der Regel als konkurrierende Handlungsbegriffe verstanden (Abschnitt 1). Im Gegensatz dazu argumentiert der vorliegende Beitrag, dass die soziologische Handlungstheorie beide Handlungsbegriffe benötigt. Bereits für den Begriff des sozialen Handelns ist es erforderlich, neben dem subjektiv gemeinten Sinn des eigenen Handelns, die Deutung, und damit auch die Zuschreibung fremden Handelns zu berücksichtigen (Abschnitt 2). Zugeschriebene Handlungen sind keine bloßen Vorstellungen, sondern sie können eine eigenständige Realität darstellen, dann nämlich, wenn sie dem sozial Handelnden als diejenigen Handlungen gelten, auf die hin er seine Anschlusshandlungen entwirft (Abschnitt 3). Im sozialen Verkehr der Akteure gewinnt Handlungszuschreibung diese Handlungswirksamkeit, wenn sie im Bezugsrahmen intersubjektiv gültiger Situationsdefinitionen erfolgt (Abschnitt 4). Dies können gemeinsam geteilte oder handlungswirksam durchsetzbare Situationsdefinitionen sein. Zudem lassen sich zwei Modi der Handlungszuschreibung unterscheiden: Zuschreibung auf Gründe und Zuschreibung maßgeblicher Verursachung (Abschnitt 5). Auf der Grundlage dieser beiden Unterscheidungen werden Ansatzpunkte für eine Analyse der Wirksamkeit zugeschriebener Handlungen im sozialen Handeln vorgestellt (Abschnitt 6).

Abstract

Action as meaningful behavior and action as an attributional category are usually understood to represent competing concepts of action. In contrast, the present paper argues that the sociological theory of action should include both views. One main reason is that the concept of social action does not only rely on the social actor’s own meaningful behavior but requires him or her to interpret the behavior of the other(s) as action and thus implies the attribution of action. Attributed actions are not just imagined actions. Rather, when attributed actions become the social actor’s reference point for his own actions, they gain a reality of their own. Especially when the attribution of action takes place within the frame of reference of intersubjective definitions of the situation, attributed actions tend to gain such a reality of their own. This effect is connected with two different forms of intersubjective definitions of the situations: those who are commonly shared and those who are effectively enforceable. Additionally, the paper distinguishes between two modes of attributing actions: attribution of reasons and attribution of causation. Using these both distinctions, the paper analyses different ways of how attributed actions come into effect within social action.

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Notes

  1. Strauss bezieht sich hier auf Meads (1968: 45 f.) Begriff der gesellschaftlichen Handlung.

  2. Luhmann zitiert hier implizit Schütz und Luckmanns (1984: 15, 17 f., 113) Auffassung des letztinstanzlichen Charakters des Handelnden für die Bestimmung der Einheit seines Handelns.

  3. Diese Deutung findet sich auch bei Schütz, der meint, soziales Handeln bedeute für den Handelnden, „auf die Bewußtseinsabläufe des alter ego hinzusehen“ (Schütz 1974: 205). Ähnlich auch Parsons, der „Verhalten anderer“ mit „attitudes and actions of others“ (Parsons 1968: 641) übersetzt.

  4. Bereits Weber habe gesehen, so Greshoff (1998: 138), dass das deutende Verstehen des Handelns anderer auf „Hypothesen der Zurechnung“ beruhe. Greshoff verweist mit diesem Zitat auf eine Passage, in der es Weber (1988: 437) allerdings nicht um das deutende Verstehen im sozialen Handeln selbst geht, sondern um das deutende Verstehen des Handelns durch den soziologischen Beobachter. Greshoff führt aber auch andere Passagen an, in denen Weber auf Sinnunterstellungen und Handlungserwartungen im sozialen Handeln selbst verweist (vgl. vor allem Weber 1988: 339, 453).

  5. Inwiefern die handlungswirksame Wirklichkeit zugeschriebener Handlungen auf intersubjektiv gültigen Situationsdefinitionen beruht und Handlungszuschreibung dementsprechend als soziale Handlungskonstitution bezeichnet werden kann, wird im folgenden Abschnitt ausgeführt.

  6. Aus diesem Grund ist der Einwand nicht stichhaltig, Handlungszuschreibung sei deshalb keine eigenständige Form der Handlungskonstitution, weil sie stets als subjektiv sinnhafte Handlung der Handlungsdeutung durchgeführt werden müsse. Sicherlich, bewusstseinsfähige Akteure müssen Verhaltens- und Ereignissequenzen als Handlungen deuten, damit es zu Handlungszuschreibungen kommt. Im Fall der sozialen Handlungskonstitution ist die Grundlage ihrer Deutung aber eben nicht ein beliebig wählbarer subjektiver Handlungssinn des Deutenden, sondern die in der betreffenden Situation intersubjektiv gültige Situationsdefinition.

  7. Diese Annahme nennt Schütz (1974: 146) die „Generalthesis des alter ego“ und charakterisiert sie als das für die Konstitution von Sinn in der Sozialwelt grundlegendste der Grundelemente des gesellschaftlichen Wissensvorrats. Auf jeden Fall ist die Generalthese des alter ego die Grundlage der Zuschreibung von Handlungsgründen.

  8. Die analytische Handlungsphilosophie hat dies als den so genannten „Akkordeon-Effekt“ des Handelns ausführlich diskutiert (vgl. Feinberg 1965; Davidson 1990; Goldman 1971; Lenk 1978; Schulz-Schaeffer 2007: 236–243).

  9. Die Wirkung des Giftes etwa, die mit Blick auf die Handlung des Gift-ins-Essen-Mischens eine Handlungsfolge darstellt, gilt als Handlungsbestandteil der Tötungshandlung. Der Umstand, dass Alter Hunger hat und das ihm angebotene Essen verzehrt, ist ein sonstiger Umstand, der nicht als eigenständige Ursache seines Todes gilt, sondern unter die Handlungssequenz der Tötungshandlung subsumiert wird.

  10. Anderenfalls könnten nur solche Ereignissequenzen Handlungen sein, deren Handlungsergebnis monokausal auf den intentional gesteuerten Körperbewegungen des Akteurs beruht. Aber bereits dies würde eine Selektion zwischen Ursachen voraussetzen und wieder zur Frage der Zuschreibung zurückführen.

  11. In genau diesem Sinne betont Detlef Krauß mit Blick auf die Zurechnung strafrechtlichen Unrechts, dass die beiden Modi der Handlungszuschreibung „sich einem leitenden Gesichtspunkt nicht unterstellen lassen und daher … notwendig disharmonieren“ (Krauß 1964: 43; vgl. auch Schulz-Schaeffer 2007: 418 ff.).

  12. Eine strafrechtswissenschaftliche Theorierichtung, die soziale Handlungslehre, zieht daraus die Konsequenz: „Handlung ist alles sozialerhebliche Verhalten“ (Jescheck 1961: 151; vgl. Schulz-Schaeffer 2007: 362 ff.).

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Schulz-Schaeffer, I. Handlungszuschreibung und Situationsdefinition. Köln Z Soziol 61, 159–182 (2009). https://doi.org/10.1007/s11577-009-0049-6

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