Skip to main content
Log in

Bürger in der Verantwortung. Veränderte Akteursrollen in der Bereitstellung ländlicher Daseinsvorsorge

Citizens Wanted. Changing Roles in the Provision of Public Services in Rural Areas

  • Wissenschaftlicher Beitrag
  • Published:
Raumforschung und Raumordnung

Zusammenfassung

Die im Zuge der Modernisierung („Urbanisierung“) ländlicher Räume seit Mitte des 20. Jahrhunderts erfolgten staatlichen Interventionen und Investitionen sind wesentlich mitverantwortlich dafür, dass Daseinsvorsorge heute in hohem Maße mit der Vorstellung eines ‚von oben‘, also vor allem durch die öffentliche Hand, bereitgestellten Gutes verbunden wird. Doch zum einen stimmte diese Wahrnehmung nie für alle Bereiche (denkt man etwa an die Freiwilligen Feuerwehren), zum anderen verwischt sich unter den Bedingungen kommunaler Haushaltsnot und des soziodemographischen Wandels die Arbeitsteilung zwischen anbietenden, nutzenden und moderierenden Akteuren. Zugleich befinden sich die Aufgabenbereiche und die Qualität dessen, was unter Daseinsvorsorge verstanden wird, in beständigem Wandel. In diesem Beitrag wird erstens argumentiert, dass es in der Bereitstellung von Daseinsvorsorge eine Verantwortungsverlagerung an ganz unterschiedliche Akteure gibt, woraus eine neue Unübersichtlichkeit und in der Bevölkerung ein Nichtwissen über die genauen Verantwortlichkeiten entstehen. In diesem neuen Akteursgeflecht werden zweitens die Bürger in einer neuen Rolle gesehen. Diese lässt sich als Responsibilisierung bezeichnen. Bezogen auf ländliche Räume knüpfen solche Zuschreibungen zwar an vorhandene Akteursrollen an und treffen auf eine gewisse Akzeptanz, doch resultieren aus der neuen Unübersichtlichkeit steigende Anforderungen an die Steuerungs- und Moderationsrolle staatlicher Verwaltungen. Empirisch wird dies an drei Bereichen der Daseinsvorsorge dargestellt: allgemeinbildende Schulen, Breitbandinternet und Freiwillige Feuerwehren. Die Analyse zeigt, dass in diesen Bereichen vor allem Prozesse der Selbstresponsibilisierung von Bedeutung sind – nicht aber, um den Staat als Akteur zu ersetzen, sondern um Daseinsvorsorge an neue Standards anzupassen oder weitere Verschlechterungen zu verhindern.

Abstract

Since the mid-20th century, state interventions and investments have helped rural areas undergo a strong process of modernization (“urbanization”). Due to this development, the provision of public services is still widely considered to be a top-down process today. Yet this perception was never entirely true (when considering, for example, voluntary fire brigades). Moreover, in the course of loss-making and highly indebted municipal budgets and socio-demographic changes, the division of work between the different actors—whether suppliers, customers or facilitators in this process—is blurred. At the same time, the tasks and quality of service provision are constantly transforming. This paper argues, firstly, that the provision of public services implies a transfer of responsibilities to highly different actors, thus leading to confusion and a lack of public knowledge concerning exact responsibilities. Secondly, in this new constellation of actors, also citizens are held responsible. This “responsibilization” ties in with existing roles and is, to a certain degree, accepted by rural populations. Yet, this new complexity also leads to increasing challenges with regard to the steering and facilitating roles of public administrations. The empirical part of the paper deals with three distinct public services: public schools, broadband internet and voluntary fire brigades. The analysis shows that in these fields self-responsibilization plays a crucial role—yet, not to replace the state as an actor but to adapt public services to new standards or avoid a further degradation of these services.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this article

Price excludes VAT (USA)
Tax calculation will be finalised during checkout.

Instant access to the full article PDF.

Institutional subscriptions

Abb. 1
Abb. 2

Notes

  1. Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt auf der alten Bundesrepublik, denn die zeitgleichen Entwicklungen in der DDR wären eine eigene Forschungsfrage. Als These sei formuliert, dass sich die grundlegende Positionierung der politischen Eliten gegenüber dem Dorf bis mindestens in die 1960er Jahre kaum unterschied. Die wesentlichen Unterschiede der Eigentumsverhältnisse und die in der DDR sehr hohe Bedeutung betrieblicher Daseinsvorsorge (unter anderem durch die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften; Weiß/Wolz/Herzfeld et al. 2013: 58) sollen nicht unterschlagen werden, doch die Versorgung der Dörfer mit den ‚Errungenschaften‘ des modernen Lebens war ein wesentliches Staatsbestreben auch in der DDR. Casper (1998: 146) weist nach, dass die Ausstattungswerte bei der sozialen Infrastruktur in den ländlich geprägten Bezirken der DDR teils höher waren als in den Industrieregionen, in Bezug auf die technische Infrastruktur jedoch das historische Süd-Nord-Gefälle erhalten blieb.

  2. Ich danke Hans Jochen Blätte (vfdb), der mir freundlicherweise die Häufigkeitsauszählung der Studie überlassen hat. Einige der dargestellten Ergebnisse finden sich deshalb nicht in dem genannten Artikel, sondern wurden direkt der Ergebnisübersicht entnommen.

  3. Vgl. http://www.zukunft-breitband.de/Breitband/DE/Ausbau/Umsetzung/Geschaeftsmodell/geschaeftsmodell_node.html (08.08.2014).

  4. Vgl. http://www.zukunft-breitband.de/Breitband/DE/Breitbandatlas/BreitbandVorOrt/breitband-vor-ort_node.html (08.08.2014).

Literatur

  • Alscher, M.; Dathe, D.; Priller, E.; Speth, R. (2009): Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland. Berlin.

  • Baade, K.; Berger, P. A.; Buchsteiner, M.; Ewald, A.; Fischer, R.; Fülkell, D.; Geister, S.; Gruber, I.; Henning, S.; Holtermann, D.; Ickert, H.; Kiwall, C.; Klafehn, S.; Neu, C.; Pilch, S. C.; Sanne, N.; Schröder, M.; Soltow, C.; Tietje, O.; Völkner, C.; Zuppa, M. (2007): Daseinsvorsorge im peripheren ländlichen Raum – am Beispiel der Gemeinde Galenbeck. Studie der Universität Rostock, mit Unterstützung des Ministeriums für Landwirtschaft, Umwelt und Verbraucherschutz Mecklenburg-Vorpommern. Rostock.

  • Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer (2011): Daseinsvorsorge im demografischen Wandel zukunftsfähig gestalten. Handlungskonzept zur Sicherung der privaten und öffentlichen Infrastruktur in vom demografischen Wandel besonders betroffenen ländlichen Räumen. Berlin.

  • Becker, H. (2008): Bildung im ländlichen Raum: Herausforderungen für die Zukunft. In: Ländlicher Raum 59 (3), 3–6.

  • BMWi – Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (2009): Breitbandstrategie der Bundesregierung. Berlin.

  • Bundesregierung (2012): Jedes Alter zählt. Demografiestrategie der Bundesregierung. Berlin.

  • Casper, D. (1998): Infrastruktur. In: Eckart, K.; Kehrer, G.; Scherf, K. (Hrsg.): Raumplanung und Raumforschung in der DDR. Berlin, 137–158. = Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung 57.

  • DFV – Deutscher Feuerwehrverband (2013): Feuerwehr-Jahrbuch. Das Feuerwehrwesen in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn.

  • DKKV – Deutsches Komitee für Katastrophenvorsorge (2003): Hochwasservorsorge in Deutschland. Lernen aus der Katastrophe 2002 im Elbegebiet. Bonn. = Schriftenreihe des DKKV 29.

  • Einig, K. (2008): Regulierung der Daseinsvorsorge als Aufgabe der Raumordnung im Gewährleistungsstaat. In: Informationen zur Raumentwicklung 1/2, 17–40.

    Google Scholar 

  • Farmer, J.; Hill, C.; Muñoz, S.-A. (Hrsg.) (2012): Community Co-Production. Social Enterprise in Remote and Rural Communities. Cheltenham.

  • Fischer, H. (1954): Das hessische Dorfgemeinschaftshaus. Ein Weg zur Schaffung sozialer Einrichtungen in Landgemeinden. Frankfurt am Main.

  • Forsthoff, E. (1938): Die Verwaltung als Leistungsträger. Stuttgart.

  • Forsthoff, E. (1950): Lehrbuch des Verwaltungsrechts. Erster Band: Allgemeiner Teil. München.

  • Frey, R. L. (2005): Infrastruktur. In: ARL – Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.): Handwörterbuch der Raumordnung. Hannover, 469–475.

  • Fuchs, T. (1996): Macht Euch die Stadt zum Bilde! Über die Modernisierung des ländlichen Raumes. Pfaffenweiler. = Stadt, Raum und Gesellschaft 4.

  • Garland, D. (1996): The Limits of the Sovereign State. Strategies of Crime Control in Contemporary Society. In: The British Journal of Criminology 36 (4), 445–471.

  • Goldmedia (2013): Dritter Monitoringbericht zur Breitbandstrategie der Bundesregierung. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (BMWi). Berlin.

  • Häußermann, H. (1994): Das Erkenntnisinteresse von Gemeindestudien. Zur De- und Rethematisierung lokaler und regionaler Kultur. In: Derlien, H.-U.; Gerhardt, U.; Scharpf, F. W. (Hrsg.): Systemrationalität und Partialinteresse. Festschrift für Renate Mayntz. Baden-Baden, 223–245.

  • Hauss, F.; Land, R.; Willisch, A. (2006): Umbruch der Agrarverfassung und Zerfall der ländlichen Gesellschaft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 37, 31–38.

  • Heeg, S. (2013): Wohnungen als Finanzanlage. Auswirkungen von Responsibilisierung und Finanzialisierung im Bereich des Wohnens. In: sub\urban – Zeitschrift für kritische Stadtforschung 1 (1), 75–99.

  • Heidbrink, L. (2006): Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Zur Konjunktur eines widersprüchlichen Prinzips. In: Heidbrink, L.; Hirsch, A. (Hrsg.): Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Zur Konjunktur eines widersprüchlichen Prinzips. Frankfurt am Main, New York, 13–35.

  • Heimat- und Geschichtsgruppe Tettenborn; Kirchengemeinde Tettenborn (2009): Chronik des Dorfes Tettenborn: Stammsitz der Freiherren von Tettenborn. Berlin.

  • Holz-Rau, C.; Günthner, S.; Krummheuer, F. (2010): Daseinsvorsorge ist keine Dortseinsvorsorge. Hinweise zur Planung in dünn besiedelten Räumen. In: Informationen zur Raumentwicklung 7, 489–504.

    Google Scholar 

  • Kaufmann, F.-X. (2006): „Verantwortung“ im Sozialstaatsdiskurs. In: Heidbrink, L.; Hirsch, A. (Hrsg.): Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Zur Konjunktur eines widersprüchlichen Prinzips. Frankfurt am Main, New York, 39–60.

  • Klagge, B. (2013): Governance-Prozesse für erneuerbare Energien – Akteure, Koordinations- und Steuerungsstrukturen. In: Klagge, B.; Arbach, C. (Hrsg.): Governance-Prozesse für erneuerbare Energien. Hannover, 7–16. = Arbeitsberichte der ARL 5.

  • Knorr, A. (2005): Gemeinwohl und Daseinsvorsorge in der Infrastruktur. In: Hartwig, K.-H.; Knorr, A. (Hrsg.): Neuere Entwicklungen in der Infrastrukturpolitik. Göttingen, 31–53. = Beiträge aus dem Institut für Verkehrswissenschaft an der Universität Münster 157.

  • Kramer, C.; Nutz, M. (2006): Räumliche Auswirkungen des demographischen Wandels auf das Bildungs- und Erziehungswesen. In: Gans, P.; Schmitz-Veltin, A. (Hrsg.): Demographische Trends in Deutschland. Folgen für Städte und Regionen. Hannover, 192–220. = Forschungs- und Sitzungsberichte der ARL 226.

  • Kühne, S.; Kann, C. (2012): Private (Grund-)Schulen als blinder Fleck der öffentlichen Daseinsvorsorge? Regionale Analysen zu Entwicklungen in der deutschen Privatschullandschaft. In: Die Deutsche Schule 104 (3), 256–278.

    Google Scholar 

  • Küpper, P.; Eberhardt, W. (2013): Nahversorgung in ländlichen Räumen. Berlin. = BMVBS-Online-Publikation 02/2013. http://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Veroeffentlichungen/BMVBS/Online/2013/DL_ON022013.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (30.07.2014).

  • Kuhlicke, C.; Steinführer, A. (2006): Wie vorbereitet ist die Bevölkerung auf ein Hochwasserrisikomanagement? Lehren aus dem Hochwasser 2002. In: Jüpner, R. (Hrsg.): Beiträge zur Konferenz „Strategien und Instrumente zur Verbesserung des vorbeugenden Hochwasserschutzes“ 23.-25. November 2006 in Tangermünde. Aachen, 45–55. = Magdeburger Wasserwirtschaftliche Hefte 6.

  • Lessenich, S.; Otto, U. (2005): Zwischen „verdientem Ruhestand“ und „Alterskraftunternehmer“: Das Alter in der Aktivgesellschaft – eine Skizze und offene Fragen zur Gestalt eines „Programms“ und seinen Widersprüchen. In: Otto, U. (Hrsg.): Partizipation und Inklusion im Alter – aktuelle Herausforderungen. Jena, 5–18.

  • LGMV – Landgesellschaft Mecklenburg-Vorpommern; LGSA – Landgesellschaft Sachsen-Anhalt (2010): Abschlussbericht zum Aufbau Ost-Projekt „Maßnahmen von Bund und neuen Ländern für eine abgestimmte Politik in ländlichen Regionen unter dem Aspekt des demografischen Wandels“. Schwerin.

  • Maretzke, S.; Ortwein, S. (2012): Leistungsfähige Breitbandversorgung für ländliche Räume. Bonn. = BBSR-Analysen KOMPAKT 04/2012.

  • Maurer, K.; Blätte, H. J. (2005): Kundenbefragung Feuerwehr – oder: Wie sieht uns der Bürger? In: BRANDSchutz/Deutsche Feuerwehr-Zeitung 59 (11), 891–896.

  • Meier, M.; Barth, U. (2007): Sind unsere freiwilligen Feuerwehren trotz demografischen Wandels „fit für die Zukunft“? In: Zeitschrift für Forschung und Technik im Brandschutz 3, 147–155.

  • Neu, C. (2009): Daseinsvorsorge und territoriale Ungleichheit. In: Neu, C. (Hrsg.): Daseinsvorsorge – eine gesellschaftswissenschaftliche Annäherung. Wiesbaden, 80–96.

  • Pütz, T.; Spangenberg, M. (2006): Zukünftige Sicherung der Daseinsvorsorge. Wie viele Zentrale Orte sind erforderlich? In: Informationen zur Raumentwicklung 6/7, 337–342.

    Google Scholar 

  • Rhodes, R. A. W. (1997): Understanding governance: policy networks, governance, reflexivity and accountability. Buckingham.

  • Steinführer, A. (2014): Freiwillige Feuerwehren als Einrichtungen der Daseinsvorsorge – tradiertes Ehrenamt im gesellschaftlichen Wandel. In: Jenki, M.; Ellebrecht, N.; Kaufmann, S. (Hrsg.): Organisationen und Experten des Notfalls. Zum Wandel von Technik und Kultur bei Feuerwehr und Rettungsdiensten. Berlin, 169–186. = Zivile Sicherheit. Schriften zum Fachdialog Sicherheitsforschung 7.

  • Steinführer, A.; Küpper, P.; Tautz, A. (2012): Gestaltung der Daseinsvorsorge in alternden und schrumpfenden Gemeinden – Anpassungs- und Bewältigungsstrategien im Harz. Braunschweig. = Landbauforschung Sonderheft 367.

  • Thrun, T.; Winkler-Kühlken, B.; Hübler, K.-H. (2005): Anpassungsstrategien für ländliche/periphere Regionen mit starkem Bevölkerungsrückgang in den neuen Ländern. Bonn. = Werkstatt: Praxis 38.

  • Weiß, W.; Wolz, A.; Herzfeld, T.; Fritzsch, J. (2013): Sozialökonomische Effekte des demographischen Wandels in ländlichen Räumen Sachsen-Anhalts. Halle. = IAMO Discussion Paper 143.

  • Wolter, F. (2011): Die Freiwilligen Feuerwehren in Österreich und Deutschland. Eine volkswirtschaftlich-soziologische Bestandsaufnahme. Wiesbaden.

Download references

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Annett Steinführer.

Rights and permissions

Reprints and permissions

About this article

Check for updates. Verify currency and authenticity via CrossMark

Cite this article

Steinführer, A. Bürger in der Verantwortung. Veränderte Akteursrollen in der Bereitstellung ländlicher Daseinsvorsorge. Raumforsch Raumordn 73, 5–16 (2015). https://doi.org/10.1007/s13147-014-0318-3

Download citation

  • Received:

  • Accepted:

  • Published:

  • Issue Date:

  • DOI: https://doi.org/10.1007/s13147-014-0318-3

Schlüsselwörter

Keywords

Navigation