Zusammenfassung
Hausärzte leisten in Deutschland den quantitativ größten Anteil an der gesundheitlichen Basisversorgung von Menschen mit Migrationshintergrund. Es gibt Hinweise darauf, dass Patienten mit Migrationshintergrund Hausärzte im gleichen oder sogar stärkeren Maß als die einheimische Bevölkerung als erste Anlaufstelle bei körperlichen und psychischen Beschwerden in Anspruch nehmen. Versorgungsdefizite von Patienten mit Migrationshintergrund bestehen besonders in Kernbereichen der hausärztlichen Versorgung wie der Prävention und Rehabilitation. Demgegenüber erscheint der Stellenwert der hausärztlichen Versorgung von Patienten mit Migrationshintergrund bislang im fachinternen und öffentlichen Diskurs verhältnismäßig gering. Der vorliegende Beitrag zeigt zunächst ausgehend von einer Analyse der aktuellen (allgemein)medizinischen Versorgungssituation von Menschen mit Migrationshintergrund Potenziale auf, die speziell im Fachgebiet der Allgemeinmedizin liegen, um allen Bevölkerungsgruppen in Deutschland einen niederschwelligen, migrations- und kulturkompetenten Zugang zu Gesundheitsleistungen zu ermöglichen. Anschließend werden der derzeitig in den Bereichen allgemeinmedizinische Forschung, Lehre, Fort- und Weiterbildung beobachtbare Stellenwert migrationsspezifischer Inhalte beleuchtet sowie Anregungen für zukünftige Forschungsfragen beziehungsweise für migrations- und kultursensible Interventionen gegeben.
Abstract
The greatest proportion of basic health care for patients with a migrational background living in Germany is provided by general practitioners. There is evidence that patients with a migrational background see a general practitioner as a gate keeper in case of physical or mental complaints even more frequently than the native German population. In contrast, the impact of migration-specific tasks in general practice appears to be relatively low in the medical and public discourse. This article analyzes the current situation of medical care for migrant patients in general practice and shows its potential to offer low-threshold high quality health care services to migrant patients and the whole population. In addition, an overview on migration-specific issues in research, teaching, and continuous medical education of general practitioners is provided. Finally, the implications of these findings for future research questions on migration-sensitive interventions are discussed.
Notes
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlecht.
Im Folgenden werden die Begriffe „Menschen mit Migrationshintergrund“ und „Migranten“ synonym verwendet. Entsprechend der Definition des Statistischen Bundesamtes besteht also in der Vergangenheit entweder eine eigene Migrationserfahrung oder eine Migrationserfahrung der Herkunftsfamilie.
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Bungartz, J., Joos, S., Steinhäuser, J. et al. Herausforderungen und Potenziale hausärztlicher Versorgung in einer multikulturellen Gesellschaft. Bundesgesundheitsbl. 54, 1179–1186 (2011). https://doi.org/10.1007/s00103-011-1365-3
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Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s00103-011-1365-3
Schlüsselwörter
- Allgemeinmedizin
- Patienten mit Migrationshintergrund
- Migrations- und kulturbezogene Kompetenz
- Patientenorientierte Gesundheitsversorgung
- Entwicklungspotenzial