Das Geschlecht eines Patienten wird bei Fallvorstellungen oder Übergaben regelmäßig erwähnt, führt aber, abgesehen von der Wahl unterschiedlich großer Endotrachealtuben oder Blasenkatheter, selten zu einem modifizierten Vorgehen bei der klinischen Versorgung. Auch in der medizinischen Forschung wurde das Geschlecht der Probanden oder Versuchstiere lange außer Acht gelassen. In den letzten Jahren gibt es jedoch zunehmend wissenschaftliche und klinische Hinweise, dass das Geschlecht des Patienten ein unabhängiger Einflussfaktor auf die Prävalenz von Erkrankungen, Medikamentenwirkungen, unerwünschten Ereignissen und Behandlungsergebnis ist. So wird bei Frauen nach Narkosen von kürzeren Aufwachzeiten, aber auch von mehr Nebenwirkungen berichtet. Gibt es schon genug Evidenz, um anästhesiologisches Vorgehen abhängig vom Geschlecht zu machen?

Hintergrund

Der Unterschied zwischen Männern und Frauen wurde in der modernen Medizin bedingt durch soziokulturelle Einflüsse, aber auch wegen intrinsischer Faktoren wenig beachtet. Bis vor einigen Jahren nahmen Frauen z. B. an klinischen Medikamentenstudien kaum teil. Dies hatte seine Ursache in der schlechteren Reproduzierbarkeit der Ergebnisse durch den wechselnden Hormonstatus bei Frauen, aber auch in der Sorge vor potenzieller Embryotoxizität. Als Folge der unglücklichen Erfahrungen mit Thalidomid hatte die Food and Drug Administration (FDA) in den USA 1977 empfohlen, Frauen im gebärfähigen Alter von frühen Arzneimittelstudien auszuschließen. Erst nachdem bei der Therapie von Aids zunehmend auffiel, dass junge Frauen über wesentlich mehr Nebenwirkungen als Männer klagten, rückten mögliche Unterschiede in der Medikamentenwirkung und -nebenwirkung ins Blickfeld. Die FDA revidierte 1993 ihre Empfehlung und sprach sich in ihren Richtlinien dafür aus, neue Substanzen im Hinblick auf Geschlecht, Alter und Rasse zu untersuchen [6]. Tatsächlich zeigte eine Untersuchung, dass von 10 Medikamenten, die in den USA zwischen 01.01.1997 und 31.12.2000 wegen Nebenwirkungen vom Markt genommen wurden, 8 ein größeres Risiko für Frauen aufwiesen. Vier davon waren Frauen allerdings häufiger verordnet worden [43]. In Deutschland wurde 2004 im Arzneimittelgesetz verankert, dass die vorgelegten Unterlagen zur klinischen Prüfung ebenfalls geeignet sein müssen, „den Nachweis der Unbedenklichkeit oder Wirksamkeit eines Arzneimittels einschließlich einer unterschiedlichen Wirkungsweise bei Frauen und Männern zu erbringen“ [15].

Auch in anderen Forschungsgebieten hatten die Autoren vieler Studien lange keine Angaben über das Geschlecht der untersuchten Teilnehmer gemacht. Im Jahr 1992 wurde dieser Umstand erstmals explizit wahrgenommen. Berkley [10] berichtet in ihrer Publikation „Vive la Difference“, dass bei etwa 100 Veröffentlichungen in angesehenen neurowissenschaftlichen Fachzeitschriften aus knapp der Hälfte nicht hervorging, ob männliche oder weibliche Probanden bzw. Versuchstiere untersucht worden waren. Vorausgegangen war eine Arbeit im New England Journal of Medicine, die sich mit der Tatsache auseinandersetzte, dass bei Männern sehr viel mehr Koronarangiographien als bei Frauen durchgeführt wurden [8]. In der Folge gab es Anfang der 1990er Jahre, ausgehend von der Herz-Kreislauf- und sehr bald auch der Schmerzforschung, eine Welle von Untersuchungen, die sich der Frage annahmen, ob es Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt oder ob es sich nur um unterschiedliches Rollenverhalten handelt. Diese Frage ist berechtigt, denn die Begriffe „gender“, „gender medicine“ und „gender studies“ beziehen sich ganz explizit nicht nur auf das biologische Geschlecht, also X- und Y-Chromosom, sondern auf die Gesamtheit der Faktoren, die zu einem weiblichen oder männlichen Selbstverständnis führen [4]. „Gender refers to the socially constructed roles, behaviours, activities and attributes that a given society considers appropriate for men and women“ (http://www.who.int).

Die Gender-Medizin leistet einen Beitrag zur individuellen Therapieanpassung

Ziel der Gender-Medizin ist es, einen Beitrag zur individuellen Therapieanpassung und damit optimierten klinischen Versorgung zu leisten. Zu diesem Zweck ist es nötig, den „gender bias“ in Forschung sowie klinischer Arbeit wahrzunehmen und zu analysieren, um geschlechtsspezifische Unterschiede erkennen und auf ihre klinische Relevanz hin prüfen zu können. Der vorliegende Beitrag beleuchtet relevante Erkenntnisse für die Anästhesiologie.

Physiologische Unterschiede

Eine Übersicht über Unterschiede in den Organfunktionen gibt Tab. 1.

Tab. 1 Physiologische Unterschiede bei Organfunktionen von Männern (M) und Frauen (F). (Modifiziert nach [14])

Steroidhormone

Die Steroidhormone Östrogen, Progesteron und Testosteron wirken bei beiden Geschlechtern und werden nicht nur in den Gonaden, sondern auch in anderen Geweben, z. B. im Gehirn, synthetisiert. Sie wirken u. a. modulierend im zentralen und peripheren Nervensystem, auf das Gerinnungssystem, an Ionenkanälen, am Myokard, an Gefäßen und auf das Immunsystem [12, 34].

Gehirn und peripheres Nervensystem

Männliche und weibliche Gehirne unterscheiden sich in Struktur und Funktion. Anästhesierelevant ist z. B., dass Progesteron über seine Wirkung am γ-Aminobuttersäure(GABA)-Rezeptor hypnotische, anxiolytische und antikonvulsive Effekte hat [13]. Es wirkt auch im Tiermodell über eine direkte Steigerung der Chloridleitfähigkeit am zerebralen GABA-Rezeptor inhibitorisch [44]. Östrogene hingegen erhöhen hier die Expression von exzitatorischen N-Methyl-D-Aspartat(NMDA)-Rezeptoren [33]. Die zentralen Testosteroneffekte scheinen gemischt zu sein. Das Hormon kann über seine Metaboliten sowohl GABAerg als auch über Blockade von NMDA-Rezeptoren antiexzitatorisch wirken. Eine Metabolisierung des Hormons zu Östradiol durch die im Gehirn und im Fettgewebe ansässige Aromatase steigert, wie oben beschrieben, die Erregbarkeit [44]. Bereits 1987 beschrieben Casulari et al. [19], dass die Zahl von zentralen µ-Opioid-Rezeptoren bei weiblichen Ratten abhängig von der Zyklusphase schwankt [19]. Mittlerweile wurde auch am Menschen mithilfe der Positronen-Emissions-Tomographie ein positiver Effekt von Östrogen auf die Aktivierung von µ-Opioid-Rezeptoren nachgewiesen [80]. Sexualhormone modulieren auch das periphere Nervensystem über Östrogenrezeptoren auf primären Afferenzen [31]. Als periphere Progesteronwirkung wird ein gesteigertes Ansprechen peripherer Nerven auf Lokalanästhetika diskutiert [16]. Dazu passend berichten Fillingim et al. [31] in ihrer Übersichtsarbeit von höheren Schmerzschwellen und -toleranzen für Hitze-, Kälte-, Druck- und elektrische Reize bei Männern.

Beim Ischämieschmerz scheinen sich Männer und Frauen weniger zu unterscheiden. Die Autoren einer aktuellen Übersicht bestätigen zwar ähnliche Toleranzen bei Männern und Frauen in Bezug auf den Ischämieschmerz, finden aber bei den übrigen Reizarten keine ähnlich klaren und konsistenten Unterschiede wie sie in der Veröffentlichung von Fillingim et al. beschrieben werden [70].

Herz und Kreislauf

Der mittlere Blutdruckwert liegt bei prämenopausalen Frauen niedriger [13]. Dies ist z. T. auf Östrogenwirkungen zurückzuführen. In Tierexperimenten konnten Östrogene die Gefäßfunktion über Wirkung auf Bildung, Freisetzung, Wiederaufnahme und Abbau von Noradrenalin beeinflussen [42]. Außerdem scheinen sie über eine Erhöhung der Stickstoffmonoxid(NO)-Freisetzung gefäßrelaxierend zu wirken [61]. Zusätzlich reduzieren sie die endotheliale Dysfunktion nach Ischämie und Reperfusion [30]. Auch beim Menschen konnten Östrogenrezeptoren auf Gefäßendothelzellen, Zellen der Gefäßmuskulatur sowie auf kardialen Fibroblasten und Myozyten nachgewiesen werden [74]. Das Hormon scheint nach Ischämien protektiv auf Kardiomyozyten zu wirken [61].

Obwohl die Herzmuskelmasse bei Männern größer ist als bei Frauen, scheinen zumindest jüngere Frauen eine größere Ejektionsfraktion aufzuweisen [22]. Die Herzfrequenz ist bei Frauen zyklusabhängig, aber i. Allg. höher als bei Männern. Damit ist der zeitliche Ablauf der Erregungsbildung und -rückbildung am weiblichen Herzen insgesamt schneller. Die frequenzkorrigierte QT-Zeit (QTc-Zeit) allerdings ist bei Frauen länger als bei Männern [49]. Die Aktivität von kardialen Ionenkanälen und damit die Repolarisierung kann über Östrogene reguliert werden [61]. Kurokawa et al. [51] zeigten im Tierexperiment, dass 17β-Estradiol über einen bestimmten Kaliumkanal die QTc-Zeit-verlängernde Wirkung von Medikamenten verstärkt [s. Abschn. „Unerwünschte Ereignisse (‚adverse events‘)“]. Testosteron hingegen scheint über eine Wirkung auf Kalzium und Kaliumkanäle die Repolarisationsreserve zu erhöhen [49]. Für Progesteron wurden ähnliche Effekte bei Frauen diskutiert, die aber wahrscheinlich durch gegenteilige Östrogenwirkungen maskiert werden [49].

Körperfett- und Körperwasseranteil

Männer haben einen niedrigeren Körperfett- und einen höheren Körperwasseranteil als Frauen. Außerdem variieren der Gesamtwasseranteil und bis zu einem gewissen Grad auch die Elektrolyte im Plasma bei Frauen mit dem weiblichen Zyklus [86].

Lungenfunktion

Frauen haben kleinere Lungen, weniger Gasaustauschfläche und relativ zur Größe engere Luftwege. Der Atemantrieb wird bei Männern durch Kohlenstoffdioxid (CO2) und Hypoxie stärker stimuliert. Allerdings wirkt Progesteron ebenfalls atemantriebssteigernd, sodass Frauen in der Lutealphase oder in der Schwangerschaft leicht hyperventilieren. Der Blut-pH-Wert bleibt hierbei aber konstant (zur Übersicht: [13]).

Nierenfunktion

Männer weisen eine höhere glomeruläre Filtrationsrate (GFR) auf. Während einige Autoren diesen Effekt auf unterschiedliche Körpergrößen zurückführen [13], berichten andere, dass, bezogen auf die Körperoberfläche, renaler Blutfluss, GFR, tubuläre Sekretions- und Reabsorptionsraten bei Männern größer als bei Frauen sind [81].

Hepatische Metabolisierung

Die meisten anästhesierelevanten Medikamente unterliegen einer hepatischen Metabolisierung. Die wichtigsten Phase-I-Enzyme gehören zur Zytochrom-P-450(CYP)-Superfamilie. Die Verteilung von einigen Unterformen weist klare geschlechtsspezifische Unterschiede auf. Zum Beispiel hat CYP3A4, unter dessen Substraten besonders viele Medikamente sind, eine 20–30% höhere Aktivität bei Frauen. Die Expression ist nicht sicher auf Geschlechtshormone zurückzuführen; diese können aber z. B. als orale Kontrazeptiva selbst Substrat sein und so evtl. das Enzym in seiner Aktivität beeinflussen [68, 81]. Andere wichtige Vertreter dieser Enzymfamilie und ihre Substrate sind in Tab. 2 aufgeführt. Zu beachten ist, dass einige Medikamente durch die Zytochrome erst in ihren aktiven oder anderweitig wirksamen Metaboliten umgewandelt werden. Eine erhöhte Abbaurate hat somit nicht zwingend mit einem schnelleren Wirkverlust zu tun, sondern kann auch das Gegenteil bedeuten [47, 71]. Die Expression von Zytochromen unterliegt zusätzlich, unabhängig vom Geschlecht, einer hohen interindividuellen Variabilität. Außerdem konnten Unterschiede bei verschiedenen Ethnien gezeigt werden. Clopidogrel z. B., das u. a. durch CYP2C19 in seinen aktiven Metaboliten umgewandelt wird, ist bei Asiaten aufgrund ausgeprägter genetischer Polymorphismen für dieses Enzym häufig weniger gut wirksam [17].

Tab. 2 Zytochrom-P-450(CYP)-Enzyme. (Modifiziert nach [68, 81])

Gerinnungssystem

In einer Übersichtsarbeit berichten Capodanno u. Angiolillo [17], dass die Thrombozyten prämenopausaler Frauen weniger prothrombotisch agieren als die gleichaltriger Männer. Die Gründe vermuten die Autoren in einer östrogenvermittelten NO-Wirkung bei Frauen und testosteronbedingt höheren Thromboxan-A2-Spiegeln bei Männern. Keine Erklärung haben die Autoren dafür, dass eine Hormonersatztherapie nach der Menopause nicht zu einem entsprechenden Effekt führt und orale Kontrazeptiva das Thromboserisiko erhöhen. Eine Ursache könnte sein, dass auch andere an der Gerinnung beteiligte Faktoren von Hormonen moduliert werden. Östrogen wurde mit reduzierten Spiegeln an Fibrinogen, Antithrombin III, Protein S und Plasminogenaktivatorinhibitor in Verbindung gebracht. Testosteron wird positiv mit Faktor VII, α2-Antithrombin und Plasminogen sowie negativ mit Plasminogenaktivatorinhibitor und Fibrinogen korreliert. Insgesamt ist von einer sehr komplexen Wirkung auf das Gerinnungssystem auszugehen (zur Übersicht: [17]).

Immunsystem

Wie fast alle Körperzellen exprimieren auch die meisten immunkompententen Zellen Rezeptoren für die Sexualhormone [21], deren Effekte hochkomplex sind und von den jeweiligen Spiegeln abhängen [31]. Stark verkürzt dargestellt wirken Östrogene zumeist proinflammatorisch, Androgene und Progesteron hingegen immunsupprimierend [23].

Medikamente

Grundsätzlich kann die unterschiedliche Wirkung von Medikamenten mit geschlechtsabhängigen und geschlechtsspezifischen Faktoren erklärt werden.

Geschlechtsabhängige und -spezifische Faktoren bestimmen die Medikamentenwirkung

Geschlechtsabhängig sind z. B. Gewicht, Größe, Körperfettanteil oder Muskelmasse, geschlechtsspezifisch hingegen können Unterschiede bei der Expression von Neurotransmittern und Enzymen, wie z. B. CYP, oder durch Hormone ausgelöste und evtl. zyklisch schwankende Effekte an Rezeptoren sein.

Opioide

Am besten untersucht ist in dieser Gruppe Morphin. Die meisten Untersuchungen weisen auf eine höhere Sensitivität bei Frauen hin, die wahrscheinlich pharmakodynamisch und -kinetisch begründet ist. Diese Beobachtung wurde kürzlich durch eine Metaanalyse bestätigt [64]. Frauen sind auch empfindlicher gegenüber unerwünschten Opioidwirkungen wie Übelkeit und Atemdepression [64, 68]. Zu den in Deutschland gebräuchlicheren Opioiden Fentanyl und Alfentanil gibt es wesentlich weniger Daten. Es gibt Hinweise auf unterschiedliche Pharmakokinetik und -dynamik; diese reichen jedoch gegenwärtig nicht für klinische Empfehlungen aus [68]. Ein aktueller Vergleich der Aufwachzeit nach intrakraniellen Eingriffen ergab keinen Unterschied bei einer Kombinationsnarkose mit Isofluran, Lachgas und entweder Fentanyl, Sufentanil oder Alfentanil [25]. Eine Post-hoc-Analyse belegte jedoch einen Unterschied zwischen den Geschlechtern: Weibliche Patienten konnten signifikant schneller extubiert werden. Minto et al. [59] untersuchten den Einfluss von Alter und Geschlecht auf das Wirkprofil von Remifentanil und konnten eine altersabhängige, nicht aber eine geschlechtsabhängige Wirkung nachweisen.

Hypnotika

Klinisch relevante geschlechtsabhängige Unterschiede bei der Anwendung von Inhalationsanästhetika wurden bisher nicht konsistent beschrieben [11, 68]. Allerdings ist bekannt, dass in der Schwangerschaft die minimale alveoläre Konzentration (MAC) von Isofluran reduziert ist [37]. Als mögliche Ursache wurden die gestationsbedingt höheren Progesteronwerte bei diesen Patientinnen diskutiert. Im Jahr 2005 zeigten Erden et al. [29] an nichtschwangeren Patientinnen, dass der Bedarf an Sevofluran in der zweiten Zyklushälfte reduziert sein kann, und führten diese Beobachtung ebenfalls auf erhöhte Progesteronspiegel zurück [29]. Für Thiopental wurden bisher keine geschlechtsspezifischen Unterschiede beobachtet [68].

Benzodiazepine werden u. a. über Zytochrome in der Leber verstoffwechselt. Midazolam z. B. ist ein Substrat des Isoenzyms CYP3A4, das bei Frauen eine höhere Aktivität aufweist [81]. Dementsprechend sollte die Midazolam-Clearance bei Frauen höher sein als bei Männern. Die Ergebnisse dazu sind aber bisher nicht konsistent, sodass die klinische Relevanz noch nicht feststeht [68]. Erklärbar sind diese Widersprüche damit, dass neben der hepatischen Metabolisierung viele andere Faktoren wie Verteilungsvolumen, Plasmaproteinbindung u. Ä. eine Rolle spielen [13]. Eine aktuelle Metaanalyse kommt zu dem Schluss, dass keine Unterschiede in der oralen Bioverfügbarkeit von Midazolam bestehen [45]. Bei Diazepam scheinen Verteilungsvolumen und Clearance bei Frauen größer zu sein [68]. Eventuell reagieren weibliche Patienten aber sensibler auf diese Substanz, sodass sich die Unterschiede aufheben könnten. Insgesamt scheinen die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei den Benzodiazepinen zu gering zu sein, um klinische Empfehlungen ableiten zu können [68].

Für Propofol allerdings ist durch mehrere Studien gut belegt, dass Frauen bei gleicher Dosis eine wesentlich kürzere Aufwachzeit haben als Männer [68]. Das bei „target controlled infusion“ (TCI) verwendete Modell nach Schnider et al. [77] berücksichtigt die niedrigere Sensitivität bei Frauen.

Eine Untersuchung von Sigtermans et al. [79] kam zu dem Schluss, dass S-Ketamin eine signifikant stärkere analgetische Wirkung bei Männern hat und erklärt dies durch eine höhere Clearance bei Frauen.

Muskelrelaxanzien

Die Wirkung der meisten gebräuchlichen Muskelrelaxanzien wurde, mit Ausnahme von Mivacurium, hinsichtlich einer Beeinflussung durch das Geschlecht untersucht. Es konnte gezeigt werden, dass Frauen für Rocuronium und Vecuronium eine etwa um 30% erhöhte Sensitivität, d. h. verkürzte Anschlagzeit und tiefere neuromuskuläre Blockade [58, 78], aufweisen. Bezüglich Vecuronium scheint dieser Effekt pharmakokinetisch, bedingt durch ein größeres Verteilungsvolumen bei Männern, zu sein [87]. Für Rocuronium wird derselbe Grund angenommen [68]. Mencke et al. [57] untersuchten die Intubationsbedingungen bei „rapid sequence induction“ nach Gabe von 0,6 mg/kgKG Rocuronuim und kamen zu dem Ergebnis, dass diese bei Frauen um 30% besser waren [57]. Bei der Untersuchung von Atracurium und Cisatracurium traten ebenfalls Unterschiede in der Pharmakokinetik auf, die in einer Übersichtsarbeit aber als klinisch nichtbedeutsam gewertet wurden [68].

Zu Succhinylcholin konnte nur eine Studie gefunden werden. Vanlinthout et al. [84] zeigten an 165 Patienten, dass bei vergleichbaren Plasmacholinesterasewerten die Erholungszeit für Frauen kürzer war. Die Tiefe der neuromuskulären Blockade war nicht durch das Geschlecht beeinflusst.

Lokalanästhetika

Zu den Lokalanästhetika gibt es noch wenige Veröffentlichungen. Es konnte aber nachgewiesen werden, dass Lidocain bei Frauen ein größeres Verteilungsvolumen besitzt [68]. Die Wirkung von Ropivacain wurde kürzlich bei Kaudalblockade im Rahmen anorektaler Eingriffe untersucht. Die minimale Lokalanästhetikakonzentration, gemessen an der Erschlaffung des M. sphincter ani und negativem „Pinprick“-Test, war bei Frauen um 31% höher als bei Männern [54]. Camorcia et al. [16] verglichen aktuell Effekte der intrathekalen Bupivacaingabe bei Frauen und Männern im Rahmen von Eingriffen an der unteren Extremität mit Effekten der intrathekalen Bupivacaingabe bei Schwangeren im Rahmen einer Sectio caesarea. Die Autoren fanden signifikante Unterschiede: Die ED50 (pharmakologische Dosis, bei der bei 50% der Personen der untersuchte Effekt auftritt) für motorische Blockade war bei Männern am höchsten und für schwangere Frauen am niedrigsten. Zusätzlich zur Pharmakokinetik kommen neben mechanischen (z. B. Druck im Epiduralraum) auch biochemische (z. B. Liquor-pH-Wert) und hormonelle (s. Abschn. „Physiologische Unterschiede“, „Gehirn und peripheres Nervensystem“) Ursachen für die unterschiedliche Wirkung von Lokalanästhetika bei rückenmarknahen Regionalanästhesien in Betracht [16].

Es gibt bei vielen weiteren Medikamenten, die von Anästhesisten verwendet werden, unterschiedliche Wirkungen bei Männern und Frauen. Capodanno u. Angiolillo [17] beschreiben in einer Übersichtsarbeit z. B. geschlechts- und rasseabhängige Unterschiede bei etlichen antithrombotisch wirksamen Medikamenten.

Hingewiesen wird an dieser Stelle lediglich exemplarisch auf die Katecholamine, die bei Frauen aufgrund der Tatsache, dass Östrogene kompetitiv den Abbau über die Katechol-O-Methyltransferase hemmen können, möglicherweise weniger schneller metabolisiert werden [42].

Komorbiditäten

Männer und Frauen unterscheiden sich hinsichtlich der Prävalenz und des Verlaufs bei sehr vielen Erkrankungen.

Kardiovaskuläre Erkrankungen

Wichtiges und gut bekanntes Beispiel ist die unterschiedliche Symptomatik beim akuten Koronarsyndrom. Es gibt weitere grundsätzliche kardiale physiologische und pathophysiologische Unterschiede: Weibliche Herzen sind kleiner [22], haben engere Koronarien mit weniger Kollateralen [52], eine höhere Herzfrequenz und reagieren auf Druckbelastung eher mit Hypertrophie als männliche Herzen [74]. Anästhesierelevant ist: Frauen neigen eher zu Sinustachykardien, Sick-Sinus-Syndrom, Reentrytachykardien des atrioventrikulären (AV-)Knotens oder Long-QT-Syndrom, während bei Männern Vorhofflimmern, Wolff-Parkinson-White(WPW)-Syndrom, Brugada-Syndrom, AV-Blockierungen und Kammerflimmern häufiger auftreten [49, 52]. Vasospasmen in Abwesenheit einer stenosierenden Koronarsklerose sind häufiger bei Frauen Ursache einer myokardialen Ischämie als bei Männern [38, 75]. Dazu passt, dass die Tako-Tsubo-Erkrankung, das „broken heart syndrome“, wesentlich häufiger bei Frauen und meist nach massivem emotionalem und sozialem Stress auftritt [52, 75]. Männer und Frauen unterziehen sich etwa gleich häufig einem Aortenklappenersatz bei Aortenstenose [74]. Weibliche Herzen reagieren auf die Druckbelastung eher mit einer konzentrischen Hypertrophie des linken Ventrikels, während männliche Herzen meist eine exzentrische Hypertrophie mit stärkerer Fibrosierung aufweisen [74]. Unmittelbar postoperativ geht die linksventrikuläre Hypertrophie bei den Frauenherzen schneller zurück [67]. Auch bei klinisch manifester Herzinsuffizienz haben Frauen häufiger eine erhaltene systolische bei verschlechterter diastolischer Funktion als Männer [52, 66]. Es liegt kaum Literatur zu Unterschieden bei der rechtsventrikulären Funktion vor, allerdings treten viele Formen der pulmonal-arteriellen Hypertonie bei Frauen häufiger auf als bei Männern. Als Ursachen hierfür werden sowohl genetische als auch hormonelle Einflüsse diskutiert. Komplexe Erklärungsmodelle fehlen jedoch zum jetzigen Zeitpunkt [69].

Suchterkrankungen

Für die Abschätzung des anästhesiologischen Risikos sind außerdem Unterschiede bei Suchterkrankungen wichtig. Epidemiologische Daten hierzu weisen auf häufigeres Auftreten von Alkohol- oder Drogenabhängigkeit bei Männern hin, während Frauen anfälliger für Medikamentenabusus und Essstörungen sind [89].

Chronische Schmerzerkrankungen

Chronische Schmerzen in der Anamnese gehen mit einem erhöhten Risiko für postoperative Schmerzen einher [76]. Von chronischen Schmerzerkrankungen sind Frauen insgesamt häufiger betroffen. Die Gründe hierfür sind vielfältig und gemäß dem biopsychosozialen Modell zur Erklärung chronischer Schmerzen sowohl in physiologischen und anatomischen Gegebenheiten als auch in unterschiedlichen psychischen und sozialen Zuständen zu finden [28]. Zum Beispiel leiden Menschen, die in Kindheit und Jugend Opfer von sexueller oder andersartiger Gewalt werden, im Erwachsenenalter signifikant häufiger an funktionellen Störungen und chronischen Schmerzerkrankungen [55, 85]. Mädchen und junge Frauen sind häufiger als ihre männlichen Altersgenossen von solchen Übergriffen betroffen [32]. Bei den meisten spezifischen Schmerzerkrankungen gibt es ebenfalls Unterschiede (Tab. 3). So ist z. B. der sehr seltene „Cluster“-Kopfschmerz eine vorwiegend bei Männern auftretende Erkrankung, während das „complex regional pain syndrome“ oder das Fibromyalgiesyndrom häufiger Frauen betrifft [39].

Tab. 3 Unterschiede bei chronischen Schmerzerkrankungen. (Modifiziert nach [39])

Weitere Unterschiede bei Komorbiditäten aus diversen Fachgebieten sind beschrieben [18, 46, 65]. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass sich geschlechtsspezifische Prävalenzen auch wesentlich verändern können. Die chronisch-obstruktive Lungenerkrankung („chronic obstructive pulmonary disease“, COPD) z. B. hat in den letzten Jahren bei Frauen erheblich zugenommen, sodass die Auftretenshäufigkeit nun gleich verteilt ist [41]. Diese Beobachtung ist vermutlich teilweise auf eine zunehmende Angleichung der Lebensweise (Risiken am Arbeitsplatz, Rauchen) zurückzuführen. Zusätzlich scheint diese Erkrankung in der Vergangenheit bei Frauen zu selten diagnostiziert worden zu sein (s. Abschn. „Gender-Bias“; [41]).

Unerwünschte Ereignisse („adverse events“)

Glücklicherweise sind Narkosen heute sehr sicher und vergleichsweise komfortabel für die Patienten geworden. Trotzdem kommt es gelegentlich zu unerwünschten Ereignissen [82]. Das Risiko, eine unerwünschte Arzneimittelreaktion zu erleiden, ist bei Frauen generell um ca. 50–75% gegenüber Männern erhöht [71]. Dies betrifft neben den bereits besprochenen substanzspezifischen unerwünschten Wirkungen auch Ereignisse wie Anaphylaxien oder Hautreaktionen [71]. Als Ursachen kommen neben unterschiedlicher und evtl. durch Östrogene beeinflusster Pharmakokinetik und -dynamik auch immunologische Faktoren infrage [71].

Risiko für „adverse events“ ist bei Frauen um ca. 50–75% höher als bei Männern

Intraoperative Wachheit wurde häufiger bei Frauen beschrieben [26, 36]. Buchanan et al. [14] berichteten bei gleichem Anästhetikaangebot von höheren Werten für den Bispektralindex™ (BIS) bei Frauen und somit ebenfalls erhöhtem Risiko für „awareness“. Stonell et al. [83] konnten bei gleichen BIS-Werten keinen Unterschied für die Generierung von Erinnerungen während der Anästhesie finden.

Das weibliche Geschlecht ist ein unabhängiger Risikofaktor für „postoperative nausea and vomiting“ (PONV) und als solcher in den Risiko-Score nach Apfel eingegangen [7]. Beattie et al. [9] berichten, dass PONV häufiger in der follikulären Phase als in der Lutealphase vorkam, und postulieren einen Zusammenhang mit dem weiblichen Zyklus. Droperidol verringerte in dieser Untersuchung die Auftretenshäufigkeit, änderte aber nichts an der Abhängigkeit vom Zyklustag. In einer systematischen Übersicht von Eberhart et al. [27] wurde dagegen kein signifikanter Einfluss einer bestimmten Zyklusphase auf die Häufigkeit von PONV nachgewiesen.

Frauen scheinen ein höheres Risiko für Blutungskomplikationen nach Gabe von thrombolytischen Substanzen, niedermolekularen Heparinen und Glykoprotein-IIb/IIIa-Inhibitoren zu haben [11]. Dies wird häufig durch niedrigere Clearance, also faktische Überdosierung, erklärt [11]. In einer Multizenterstudie wurde die häufigere Überdosierung bei Frauen für Glykoprotein-IIb/IIIa-Inhibitoren bestätigt. Allerdings konnte hier auch gezeigt werden, dass Frauen selbst bei korrekter Dosierung dieser Substanzen ein höheres Blutungsrisiko aufweisen [1]. Sehr wichtig ist die Kenntnis der QT-Zeit-verlängernden Medikamente. Dazu gehören in erster Linie Antipsychotika wie Haloperidol und Levomepromazin, die trizyklischen und neueren Antidepressiva wie Citalopram, Fluoxetin, Paroxetin und Venlafaxin, aber auch Vertreter anderer Gruppen wie z. B. Amiodaron, Methadon und Erythromycin. Eine gute Übersicht gibt die Website http://www.qtdrugs.org [5]. Interessant aus der Perspektive dieses Beitrags ist, dass weibliches Geschlecht ebenso wie Alter > 65 Jahre, vorbestehende Herzerkrankung, Bradykardie, Hypokaliämie, Hypomagnesiämie, hohe Wirkstoffkonzentration oder Komedikation das Risiko für QTc-Verlängerung und Torsades des Pointes erhöhen [2, 5, 86].

Behandlungsergebnis

Bezüglich des Behandlungsergebnisses nach Narkosen, Interventionen und Operationen lassen sich einige Unterschiede feststellen (Tab. 4). Die Aufwachzeit nach Narkosen ist bei Frauen kürzer [14]; Frauen haben aber häufiger mit einigen unangenehmen Folgen wie PONV und Halsschmerzen zu kämpfen [62]. Die Rate an postoperativem Schmerz ist höher, wie in einer 2011 veröffentlichten Multizenterstudie bestätigt wurde [14].

Tab. 4 Unterschiede im postoperativen Behandlungsergebnis. (Modifiziert nach [13])

Bei einigen lebensbedrohlichen Zuständen scheinen Frauen besser geschützt zu sein. Raju u. Chaudry [73] fassen in einer Übersicht die Erkenntnisse aus Tiermodellen und klinischen Studien zusammen: Frauen tolerieren traumatisch bedingte Massivblutung und Sepsis besser als Männer. Östrogene scheinen hier eine stabilisierende Wirkung auf die kardiale, pulmonale und hepatische Funktion zu haben. Die Autoren beschreiben für Androgene eine immunsupprimierende und Herz-Kreislauf-deprimierende Wirkung. Dementsprechend zitiert eine andere Übersicht einige Studien, denen zufolge Frauen nach Trauma weniger Pneumonien, Sepsis und Multiorganversagen entwickeln [88]. Die Ergebnisse sind aber noch nicht konsistent, evtl. da der hormonelle Status zur Unfallzeit nicht festgestellt wurde. Deitch et al. [24] zeigten an über 4000 Traumapatienten in der Notaufnahme, dass prä- und perimenopausale Frauen trotz signifikant höherer Punktzahl im Injury Severity Score signifikant niedrigere Laktatkonzentrationswerte hatten als gleichaltrige Männer. Nach einigen Operationen, insbesondere nach offener oder angiographischer koronarer Revaskularisierung, scheinen weibliche Patienten eine höhere Frühsterblichkeit zu haben [56]. Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede bleiben nicht immer signifikant, wenn die Ergebnisse im Hinblick auf andere Risikofaktoren wie Alter (bei Frauen meist höher) oder Begleiterkrankungen wie Diabetes korrigiert werden [50]. Bei Herzoperationen allgemein ist das weibliche Geschlecht aber laut euroSCORE ein unabhängiger Risikofaktor für die peri- und postoperative Mortalität [3].

Akutes Nierenversagen ist eine häufige perioperative Komplikation. Die Inzidenz liegt bei gefäß- und kardiochirurgischen Eingriffen zwischen 5 und 30% [46]. Männer sind nach diesen Eingriffen seltener als Frauen betroffen. Im Tierexperiment erholte sich die Nierenfunktion weiblicher Versuchstiere allerdings besser von ischämiebedingten Schäden als die männlicher Tiere. Die Autoren vermuteten, dass dieser gegensätzliche Effekt durch das höhere Alter der Patientinnen bedingt war und somit hormonell zu erklären sein könnte [46]. Zudem sind tierexperimentelle Ergebnisse zur Erläuterung von klinischen Studien nur bedingt heranziehbar.

Fungieren Frauen als Blutspender können sie ebenfalls das Behandlungsergebnis beeinflussen. Bei Intensivpatienten in Nordamerika verschlechterte sich der Gasaustausch nach Transfusion von gefrorenem Frischplasma („fresh frozen plasma“, FFP), das von weiblichen Spendern stammte, signifikant stärker als nach Gabe von „männlichem“ FFP [35]. Dieses Ergebnis konnte in Japan an Patienten, die während einer Operation transfundiert wurden, bestätigt werden [63]. Diese Erkenntnisse werden mit dem Vorhandensein von antileukozytären Antikörpern, die während einer Schwangerschaft gebildet werden können, erklärt und haben bisher in mehreren Ländern (USA, Vereinigtes Königreich) zu einer „male only policy“ bzw. dem Bestreben geführt, zur Plasmaspende nur Männer oder Frauen, die bisher nicht schwanger waren, zuzulassen. Diese Strategie konnte die Zahl der Fälle von „transfusion related acute lung injury“ (TRALI) im Vereinigten Königreich dramatisch reduzieren [20]. In Deutschland gibt es einzelne Blutspendedienste, die Multiparae ausschließen, aber eine generelle Richtlinie existiert diesbezüglich nicht.

Gender-Bias

Ein Gender-Bias in der Versorgung mit Koronarangiographien wurde bereits vor 20 Jahren im New England Journal of Medicine konstatiert [8] und 2010 erneut in einer Studie bestätigt [48].

In der Intensivmedizin wurden Unterschiede in der Behandlung von weiblichen und männlichen Patienten beschrieben.

Raine et al. [72] untersuchten die Daten von über 46.000 Patienten, die auf 91 britischen Intensivstationen aufgenommen worden waren. Bei Myokardinfarkt und intrakranieller Blutung wurden Männer bei niedrigerem Acute Physiology And Chronic Health Evaluation (APACHE) II Score, also früher, auf eine Intensivstation aufgenommen als Frauen. Männer hatten bei gleichem APACHE II Score ein höheres Risiko, an Pneumonie oder Pumpversagen zu versterben. Die Autoren erklären diese Daten mit der „gender norme hypothesis“, also der Zuordnung bestimmter Erkrankungen zu einem Geschlecht, die zu Über- oder Unterversorgung führen kann.

Wie bereits erwähnt, scheint es bei der Diagnose der COPD ebenfalls einen Gender-Bias gegeben zu haben. Ein Kommentar im American Journal of Respiratory and Critical Care Medicine zitiert zwei Arbeiten, nach denen Ärzte bei Männern mit gleicher klinischer Symptomatik eher die Diagnose COPD stellen als bei Frauen. Sobald die Ergebnisse einer Spirometrie miteinbezogen wurden, wurde dieser Gender-Bias kleiner bzw. verschwand. Einer weiteren hier aufgeführten Untersuchung zufolge wurden Spirometrien bei Männern allerdings häufiger als bei Frauen veranlasst, Letzteren aber dafür eher zur Aufgabe des Rauchens geraten. In dieser Studie wurde für Alter, „pack-years“, geografische Herkunft und Dyspnoe kontrolliert [41].

Bei der Diagnose von depressiven Störungen ist damit zu rechnen, dass sie bei Männern zu selten gestellt wird, da die Kriterien der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems-10 (ICD-10; z. B. Antriebslosigkeit, Mangel an Interesse, gedrückte Stimmung, Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls) eher den Symptomen von erkrankten Frauen entsprechen, während Männer mit Depressionen zu externalisierenden Verhaltensweisen wie Alkoholabusus oder gesteigerter Aggressivität neigen [60].

Nicht nur das Geschlecht des Patienten, sondern auch das des Arztes kann eine Rolle bei der Versorgung spielen. In einer Untersuchung mit gesunden Probanden hatten Männer höhere Schmerzschwellen und -toleranzen, wenn der Untersucher weiblich war [53]. Männliche und weibliche Studenten fragten bei unspezifischen Symptomen an der Halswirbelsäule Frauen eher nach psychosozialen Faktoren in der Anamnese und gaben Frauen eher unspezifische Diagnosen als Männern [40].

Fazit

  • Das anästhesiologische Vorgehen sollte auch vom Geschlecht des Patienten abhängig gemacht werden. Das Wissen um einige Unterschiede wurde gegenwärtig schon in die klinische Praxis integriert. Zum Beispiel gilt weibliches Geschlecht in etablierten Risiko-Scores (PONV, Abschätzung der perioperativen Mortalität bei herzchirurgischen Eingriffen) als eigenständiger Faktor. Bei der medikamentösen Prophylaxe von PONV ist die Zahl der Risikofaktoren ausschlaggebend. Auch bei Verwendung der TCI geht das Geschlecht in die Berechnung der zugeführten Medikamentenmenge ein.

  • Andere Erkenntnisse, wie z. B. die Entdeckung einer erhöhten TRALI-Inzidenz nach Transfusion von „weiblichem“ FFP, haben in anderen Ländern, nicht aber in Deutschland, zu einer Male only policy bei der Plasmaspende geführt. Weitere geschlechtsabhängige Unterschiede betreffen wesentliche iatrogene Risiken, wie die medikamenteninduzierte QT-Zeit-Verlängerung und viele allgemeine Medikamentennebenwirkungen, und werden noch zu wenig beachtet.

  • Auch die gewünschte Wirkung von Hypnotika, Muskelrelaxanzien, Lokalanästhetika, Opioiden und anderen perioperativ eingesetzten Substanzen kann sich bei Frauen und Männern unterscheiden. Zur Formulierung klinischer Handlungsempfehlungen reicht die Studienlage im Moment noch nicht aus.

  • Allgemeine geschlechtsspezifische Unterschiede in Bezug auf physiologische Gegebenheiten und Komorbiditäten sind bereits gut bekannt. Zusätzlich kann das Wissen um die Existenz eines Gender-Bias in der Diagnostik von somatischen oder psychischen Begleiterkrankungen und intensivmedizinischen Krankheitsbildern dazu beitragen, die Arbeit des Anästhesisten noch sicherer und effektiver zu machen. Insgesamt ist die Kenntnis von geschlechtsspezifischen Unterschieden ein Schritt auf dem Weg zu einer individualisierten Medizin, zu der auch die Beachtung weiterer Aspekte wie Alter, Rasse und spezielle genetische Faktoren des Patienten gehören.