1 Einleitende Bemerkungen

In einer Gesellschaft, die sich heute unter anderem auch Wissensgesellschaft nennt, nehmen die Generierung und die Transformation von Orientierung und Kenntnissen einen hohen Stellenwert ein. Eine Kommunikationsform, bei der solche Prozesse initiiert und moderiert werden, nennt man Beratung (Pohlmann und Zillmann 2006). Dabei wird häufig davon ausgegangen, dass Beratung auf Bedürfnisse reagiert, welche vor allem für die Mitglieder moderner individualisierter Gesellschaften kennzeichnend sind (Seel 2014). Allerdings zeigt schon ein flüchtiger Blick in die Kulturgeschichte, dass solche reflexiven sozialen Interaktionen, welche Orientierung und Wissen hervorbringen und kommunizieren, ein historisch weit zurückreichendes, wahrscheinlich auch kulturell übergreifendes Phänomen darstellen.

Um diesen Blick an einem konkreten Beispiel zu schärfen, soll hier der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit bestimmte frühe Formen der Beratung, die in erster Linie im antiken Griechenland lokalisiert werden sollen, als Vorläufer gegenwärtiger Praktiken von Beratung, so wie wir sie vor allem im Kontext der Psychologie kennen, angesehen werden können. Dabei soll vor allem die zu dieser Zeit herrschende kulturelle Dynamik Berücksichtigung finden: Am Beispiel eines belegbaren kulturellen Entwicklungsschritts im antiken Griechenland soll verdeutlicht werden, dass damals mit der Transformation dessen, was wir heute Beratung nennen, auch ein signifikanter Wandel der herrschenden Mentalität einhergegangen ist.

Im Titel des Beitrags finden sich einige Begriffe, deren Bedeutung zunächst zu klären sind, bevor diskutiert werden soll, welche frühen Formen von Beratung im Umkreis dessen, was heute mehr oder weniger psychologischer Praxis entsprechen könnte, identifiziert und unterschieden werden können. Mir ist bewusst, dass dies ein gewagtes hermeneutisches Unterfangen darstellt. Es kann weder davon ausgegangen werden, dass auch nur eine Facette der Psychologie in ihrem modernen heterogenen Verständnis ein Analogon im antiken Griechenland besitzt, noch wird es gelingen, die radikale Differenz der Kulturen und Lebensformen von damals und heute zu überwinden. Zweifellos hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein mehr oder weniger kongruentes Verständnis des im Beitragstitel angesprochenen Gegenstands – der psychologisch orientierten Beratung (vgl. z. B. Boeger 2013; Nußbeck 2014; Warschburger 2009) – entwickelt und es kann an dieser Stelle davon auch nicht vollständig abgesehen werden. So soll in einem Prozess kulturellen Fremdverstehens der Versuch unternommen werden, für die Themenstellung relevante Begriffe, Diskurse und Praxisformen der gesellschaftlich-kulturellen Verhältnisse im antiken Griechenland zu rekonstruieren und diese dann in Relation zur Terminologie unserer Zeit zu bringen.

Da eine Brücke zu einem Zeitabschnitt zu bauen ist, der etwa 2500 Jahre zurückliegt, wird der Terminus „psychologisch orientierte Beratung“ oder auch „Beratung im Kontext psychologischer Praxis“ bewusst nicht zu stark eingegrenzt. Wenn man sich an den ebenfalls in der Überschrift genannten Begriffen Mantik und Sokratik, zu deren näheren Bestimmung ich später kommen werde, orientiert, so lassen sich zur Eingrenzung des Zeitraums, um den es hier in erster Linie geht, zwei Eckdaten benennen: Kroisos, der letzte König der Lydier und einschlägig bekannter mehrfacher Kunde des Orakels von Delphi – die damals führende Institution mantisch orientierter Beratung – herrschte ca. 559 bis 547 v. Chr. (Schulz 2010, S. 111). In diesem Zeitraum wurden nach archäologischen Befunden auch die ersten Monumentalbauten in Delphi errichtet (vgl. Maaß 2007). Sokrates wiederum wurde 399 v. Chr. der Schierlingsbecher überreicht, Platons Dialoge entstanden in den darauffolgenden Jahrzehnten. Es geht also um einen Zeitraum von etwa 200 Jahren, wo es, wie aufzuzeigen versucht werden soll, zu einem grundlegenden Wandel im Bewusstsein der Griechen gekommen ist. Wir können diesen Mentalitätswandel natürlich nur auf der Grundlage von überlieferten Quellen aus dieser Zeit nachvollziehen. Es ist deshalb auch anzunehmen, dass er vor allem nur eine bestimmte Schicht erfasste, die ökonomischen und politischen Einfluss auf das öffentliche Leben der damaligen Zeit nahm.

Dieser Wandel ging einher – so die These – mit einer Veränderung der Praxis und des Verständnisses dessen, was wir heute, aber ebenso auf damalige Problemstellungen bezogen, Beratung nennen können: nämlich jene Situation, in der eine Person oder ein Familienverband vor der Frage steht, wie in einer die unmittelbare oder nähere Zukunft betreffende Frage oder in Fragen, welche die Lebensführung insgesamt berühren, zu verfahren, zu handeln, zu entscheiden sei. Zur Klärung solcher Fragestellungen wird eine weitere Person oder auch Institution, die dann freilich durch Personen repräsentiert wird, zurate gezogen. Es wird dabei davon ausgegangen, dass die hinzugezogene Person oder Institution über die Expertise oder Kompetenz verfügt, die ratsuchende Person bei der Klärung ihrer Frage in welcher Form auch immer zu unterstützen, eine Orientierung anzubieten und Hinweise (sogenannte Ratschläge) zur Bewältigung der mit den Fragen gegebenen Problemlage zu erteilen. Diese wie gesagt bewusst vage gehaltene Bestimmung von Beratung schließt sehr viele heute bekannte Formen von Beratung ein, sie soll aber auch zum Verständnis ähnlicher Situationen im antiken Griechenland die Analysegrundlage bilden.

Zur näheren Bestimmung dessen, was im Kontext dieses Beitrags psychologisch orientierte Beratung genannt wird, soll auf ein Zitat aus dem frühen platonischen Dialog Laches zurückgegriffen werden. Dort räsoniert Sokrates mit zwei politischen und militärischen Führern der damaligen Zeit über die Tapferkeit. Es wird dabei meines Wissens zum ersten Mal die heute vielleicht dominante Form der Beratung im Kontext der Psychologie, nämlich die Psychotherapie, dem griechischen Wortlaut nach angedeutet. Bei näherer Betrachtung dieses Zitats wird sich allerdings zeigen, dass aufgrund der bedeutenden kulturellen und mentalen Unterschiede zwischen der griechischen Antike und unserer Zeit nicht direkt vom vermeintlichen Wortinhalt auf die Bedeutung geschlossen werden kann.

Σωκράτης

Εἴ τις ἄρα ἡμῶν τεχνικὸς περὶ ψυχῆς θεραπείαν καὶ οἷός τε καλῶς τοῦτο θεραπεῦσαι, καὶ ὅτῳ διδάσκαλοι ἀγαθοὶ γεγόνασιν, τοῦτο σκεπτέον. (Platon 1986b, Laches 185e)

Übersetzung (Julia Kerschensteiner):

Sokrates

Ob also einer von uns sachverständig ist in der Behandlung der Seele und imstande, diese Behandlung gut vorzunehmen, und wer darin tüchtige Lehrer hatte, das muss untersucht werden.

Dieses Zitat und insbesondere die Übersetzung bedürfen einiger Anmerkungen:

  1. 1.

    „Sachverständig“ heißt im griechischen Original „technikos“. Dies meint und schließt ein, dass man die Sache, um die es geht, gut beherrscht. Es geht in erster Linie um ein praktisches Umsetzungswissen, um ein Können. Der Begriff der techne hatte vor allem in dem Zeitraum, um den es hier geht, eine eminente Bedeutung für die Ausbildung des antiken griechischen Selbstverständnisses. Ich komme darauf noch zurück.

  2. 2.

    „therapeian“ verweist noch nicht auf unser heutiges spezifisches Verständnis von Therapie als einen herbeigeführten Heilungsprozess. Die allgemeine Bedeutung war vielmehr jemanden begleiten, jemandem dienen, jemandem eine Gefälligkeit erweisen, für etwas Sorge tragen u. ä. Der therapon war ein Gefährte oder Begleiter, Patroklos etwa wird in der Ilias der therapon des Achilles genannt (vgl. Konstan 1997, S. 40).

  3. 3.

    Im Ganzen betrachtet spricht Sokrates hier von der Kunst der Sorge um die Seele. Es ist bekannt, dass „psyche“ ursprünglich den Atem meinte, aber gerade in der Zeit, auf die ich mich hier beziehe, im übertragenen Sinn oft auch auf Voraussetzungen oder Prinzipien des Lebens oder der Lebensführung anspielte (vgl. Mesch 2008; Meyer 2012). So ist es wohl auch von Sokrates gemeint: er bezieht sich auf das praktische Wissen und die damit verbundene „objektive Tüchtigkeit der Person“ (Stekeler-Weithofer 2012, S. 92) im Hinblick auf die Sorge für das eigene Leben.Footnote 1

  4. 4.

    Sokrates deutet weiter an, dass zu untersuchen wäre, ob und inwiefern diese Sorge um die eigene Lebensführung mehr oder weniger gut oder gekonnt erfolgen kann. Dies bedeutet, es ist vorstellbar, dass man es in diesem Bereich zu mehr oder weniger Können, zu größerer und geringerer Meisterschaft bringen kann. Auch auf diesen Punkt werde ich später noch einmal zurückkommen.

  5. 5.

    Ferner ist für Sokrates die Sorge um das eigene Leben lehr- und lernbar. Es kann mehr oder weniger tüchtige Lehrer geben. Dies schließt ein, dass man in dieser Angelegenheit auch mehr oder weniger gut beraten werden kann, auch wenn Sokrates dies nicht direkt anspricht.

  6. 6.

    Wenn man schließlich die performative Ebene des Zitats betrachtet, so tritt Sokrates an dieser Stelle, aber auch im gesamten Dialog als Berater auf. Dies gilt auch für viele weitere Dialoge, die von Platon verfasst wurden. Wir müssen es offen lassen, ob Sokrates auch sich selbst als Berater verstanden hätte, wenn er unser Verständnis dieser Aufgabe gekannt hätte. Wir können aber seine Tätigkeit als Wahrnehmung einer Beratungsrolle rekonstruieren. In welcher Weise er diese Rolle aufgreift und ausfüllt, werde ich zum Ende dieses Beitrags näher beleuchten.

Im Anschluss an das eben anhand der Quelle entwickelte Verständnis soll im Folgenden von psychologisch orientierter Beratung die Rede sein. Es ist jene Form der Beratung, in der – in welcher Weise auch immer – die Sorge um das eigene Leben, dessen Führung und Gestaltung Gegenstand eines Dialogs zwischen involvierten Akteuren – Ratsuchenden und Ratgebenden – darstellt.

Bei dieser Rekonstruktion von Sorge um die eigene Seele oder Selbstsorge steht natürlich die Auseinandersetzung von Michel Foucault mit antiken, allerdings eher spätantiken Konzepten der Lebenskunst Pate (vgl. z. B. Foucault 2004). Aus Platzgründen sollen an dieser Stelle seine auf eine Ästhetik der Existenz zielenden Überlegungen nicht weiterverfolgt werden. Auch der Terminus Archäologie im Titel mahnt an Foucault (1981). Im Anschluss an seine Lesart werden deshalb hier begriffliche, diskursive und lebenspraktische Formationen angesprochen, die sich um das skizzierte Verständnis von psychologisch orientierter Beratung und dessen Veränderung im genannten Zeitraum drehen. Im Titel werden schließlich zwei Prototypen früher antiker Formen von Beratung angesprochen, die Mantik und die SokratikFootnote 2. Es ist allerdings noch eine dazwischenliegende Form hinzuzufügen: die Sophistik. Es kann hier jedoch nur kurz auf den Beratungsansatz der Sophisten in Athen eingegangen werden. Im Zentrum des Beitrags stehen der Übergang von der Mantik und dem damit verbundenen Beratungsverständnis zur Beratungstätigkeit von Sokrates.Footnote 3

2 Mantik

Nach Wolfram Hogrebe (2007), dessen Werk um die Mantik als besondere Erkenntnis- und Deutungspraktik des Menschen kreist, kann die Kunst der Weissagung (Mantik) eine frühe Orientierungstechnik genannt werden. Sie wendet sich im Unterschied zu den von Menschenhand durch Vereinbarung geschaffenen Zeichen den meist dunklen, schwer entzifferbaren Zeichen der natürlichen Welt zu. Diese Zeichen, man könnte sie mit Husserl (1992, S. 30 ff.) auch Anzeichen nennen, verweisen in der Regel auf Künftiges. Mantik ist nach dieser Lesart die Kunst der richtigen Auslegung natürlicher Zeichen als Anzeichen für meist künftige Ereignisse. Oder in Anlehnung an Wolfram Hogrebe (1992) gesprochen: Mantische Deutungen sind Versuche, die bedrohlichen, aber auch freundlichen Züge des Universums in der Mimik seiner Ereignisse zu verstehen und auszulegen.

Die genannte Orientierungsfunktion stand im Dienst des Sicherungsverhaltens des Menschen. Allgemein gesagt: Mantische Interpretationen sind insbesondere für ein Leben typisch, welches mit Ungewissheit und Wagnissen verbunden ist. Denn vor allem in riskanten Situationen mit ungewissem Ausgang sieht sich der Mensch gezwungen, alle infrage kommenden Anzeichen, die in Zusammenhang mit dem weiteren Verlauf der Dinge stehen (könnten), zu befragen, wie der in der Situation vorliegende Sachverhalt sich weiterentwickeln könnte und welches Handeln einem günstigen Ausgang dienlich ist und welches nicht. Im griechischen Denken der frühen archaischen Zeit sah man das Geschick, in das das eigene Leben hineingestellt ist, mehr oder weniger als unabänderlich an. Es ist in den Augen der Sterblichen meist der sogenannte Ratschluss der Götter gewesen, der über das Schicksal des Einzelnen befand. Das frühe epische Schrifttum, aber auch noch die Dramen aus der klassischen Zeit künden von tragischen Entwicklungen, die sich ergeben, wenn der oder die Einzelne sich dem vorbestimmten Schicksal zu widersetzen oder ihm zu entgehen sucht.

Der Psychoanalytiker Manfred Pohlen (1984) hat dazu festgehalten, dass die Griechen aufgrund dieses Verständnisses ihrer Lebenssituation geradezu einen Zukunftshunger ausgebildet hätten. Dieser Hunger wurde gespeist durch Zukunftsangst. Die Praktiken der Mantik boten hierfür einen Ausweg. Das Wissen um die Beschaffenheit des eigenen Geschicks erleichterte das Sich-Einfügen in den mehr oder weniger vorbestimmten Lebensweg. Durch die Anerkennung des von den Göttern Geschickten als ihre individuelle Geschichte, wollten die Griechen mittels mantischer Zukunftsdeutung ihrer Zukunftsangst Herr werden.

Praktiken der Mantik gab es im antiken Griechenland sehr viele. Das gesamte Tableau natürlicher Erscheinungen bot sich dafür an. Bekannt aus den Quellen sind beispielsweise die Deutung des Vogelflugs und des Stands der Gestirne, die Betrachtung der Eingeweide geschlachteter Tiere, die Auslegung von Wettererscheinungen und des Rauschens der Bäume in heiligen Hainen und anderes mehr. Man sprach im Übrigen von einer Kunstfertigkeit, bei Platon (1986c, Phaidros 244c) etwa wird die Kunst der Weissagung mantike techne genannt. Diese Kunst wurde meist von Sehern und Propheten ausgeübt. Wolfram Hogrebe (2007) berichtet über die Schiffspassage aus der Ilias, wo dem Seher Kalchas die Steuerung der Schiffe zu den Gestaden Trojas anvertraut wird. Denn er sei, so Homer (2004, Ilias, I, 69–70), der beste unter den Vogeldeutern, der erkennt, was sein wird, was ist und was zuvor war. So befremdlich dies uns heute erscheinen mag, Seher hatten in ihrer Zeit eine klare Legitimation: Sie hatten mantischen Einblick in den Willen der Götter und konnten ihn auch den Menschen vermitteln. Es war wiederum Kalchas, der den Ausbruch der Pest im Lager der Griechen als Strafaktion Apolls identifiziert hatte. Agamemnon hatte diesen beleidigt, weil er die Tochter eines trojanischen Priesters von Apoll nicht freigelassen hatte. Wir wissen, dass Agamemnon dann seine Entscheidung revidiert und sich an einer anderen Sklavin schadlos hält, was dann aber den Zorn des Achill hervorruft.

Was diese und viele ähnliche Narrative aus der griechischen Mythologie zum Ausdruck bringen, ist, dass der Mensch dem göttlichen Willen nur schwer entkommt. Aber, und dies macht die Mantik als Orientierungs- und Beratungstechnik so interessant, der Mensch versucht sich auch immer wieder zum göttlichen Ratschluss ins Benehmen zu setzen, sich zu widersetzen oder sich ihm zu entwinden und dabei auch eigene Ziele, soweit es die Vorstellungen der Götter zulassen, zu verfolgen. Es scheint dabei mit heutigen Worten gesprochen um die Auslotung des eigenen Handlungsspielraums zu gehen und um die Frage, ob oder inwieweit der Einzelne bei der Entwicklung und Umsetzung eigener Pläne die Götter auf seiner Seite hat oder nicht.

Besonders deutlich zeigt sich diese Wechselwirkung von göttlichem Ratschluss und menschlicher Handlungsorientierung im Orakelwesen. Wir haben hier eine Sonderform der mantischen Praxis vorliegen, bei der die Auslegung natürlicher Zeichen eher eine unterstützende Funktion einnahm. Im Zentrum stand hier eine, wie es Wolfram Hogrebe nennt (1992, S. 143) und im Übrigen es bereits Platon (1986c, Phaidros, 244d) bezeichnete, intuitive Mantik, die ihre Botschaften aus Traum, Rausch, Ekstase, aber auch aus einer meditativen Haltung extrahiert. Dies trifft insbesondere für das wohl berühmteste Orakel der damaligen Zeit, dem Orakel von Delphi, zu (Maaß 2007). Die Stätte und das bedeutendste Bauwerk im heiligen Bezirk, der Tempel, waren dem Gott Apoll zugedacht. Apoll hatte der mythischen Erzählung nach den Ort von einem schlangenartigen Drachenwesen befreit. Er tötete es und wird seitdem als der Herr der heiligen Stätte verehrt. Wenn man die in vielen Narrativen zugeordneten Attribute von Apoll betrachtet, beispielsweise Klugheit, Einsicht, sittliche Grundhaltung, Weitsicht, Selbstbeherrschung, so war er in gewisser Weise der ideale Kandidat für eine Orakelstätte. Ihr und dem Gott zugeordnet war die Priesterschaft, die den Willen und Ratschluss des Gottes an die Sterblichen vermittelte. Im Zentrum dieser Priesterschaft stand die Pythia, von deren Wesen und Auftreten unterschiedliche Zeugnisse existieren. Oft wird sie als eine Art Medium, beschrieben, die in wilder Ekstase und vor sich hinlallend, möglicherweise durch Dämpfe aus der Erde oder Drogen berauscht, in einem besonderen Zustand des Entrücktseins den Ratschlag Apolls kundgibt. Der Priesterschaft um sie herum verbleibt dann die Aufgabe, die kryptische Botschaft ihrer Priesterin zu entschlüsseln und dem das Orakel Fragenden so zu übermitteln, dass daraus ein Sinn und eine zu präferierende Handlungsoption abgeleitet werden kann.

Die Forschung in diesem freilich hochspekulativen Feld neigt heute zu einem anderen Bild. Wenn wir die einzige uns erhaltene Darstellung der Pythia in der Innenansicht einer berühmten Tonschale betrachten (vgl. Abb. 1), so ergibt sich folgender Eindruck: Pythia, die hier als Göttin Themis in Erscheinung tritt, sitzt nachdenklich in sich versunken auf dem Dreifuß und lässt den Fragenden Aigeus auf ihre Eingebung warten. Das Außersichsein der Priesterin wird ruhig und würdevoll zur Darstellung gebracht, so deutet es der Delphi-Forscher Michael Maaß (2007, S. 15 ff.). Es ist möglich, dass die Ekstase durch aus einer Schale aufsteigende Dämpfe befördert wird. Glaubhaft erscheint jedoch ebenso, dass sie einen natürlichen Vorgang beobachtet, die Bewegung von Wasser oder die Reaktion verschiedener Substanzen, die in die Schale gegeben wurden, und das Ergebnis mantisch auslegt. Das Missverständnis, demzufolge die Pythia als wilde berauschte Kreatur erscheint, könnte auch durch Platons Beschreibung ihrer Funktion zustande gekommen sein (Platon 1986c, Phaidros, 244a–245c). Zur Charakterisierung ihres Zustands greift er auf den Ausdruck mania zurück, den wir heute gerne mit Wahnsinn wiedergeben. Gemeint ist aber eine Art göttliche Inspiration, die mit Raserei und unkontrolliertem Außersichsein nichts gemeinsam hat. Es handelt sich eher um eine Art der „Begeisterung“ durch das Göttliche, um das Schaffen von Raum in der Seele für die Anwesenheit Apolls (vgl. Maaß 2007, S. 17).

Abb. 1
figure 1

Attische rotfigurige Trinkschale (Kyklix), 440–430 v. Chr., Antikensammlung Berlin

Natürlich wissen wir nicht, ob und inwieweit die historischen Pythien diesem durch Platon skizzierten Ideal auch entsprochen haben. Es gibt allerdings weitere Hinweise, die darauf hindeuten, dass Delphi sein Selbstverständnis als Orakelstätte durch Prinzipien der Mäßigung und der Besonnenheit zu definieren wusste. Es ist bekannt, allerdings nicht durch archäologische Funde, sondern durch die spätantiken Reisebeschreibungen von Pausanias belegt, dass offenbar in der Vorhalle des Apollon-Tempels zwei Sprüche der sogenannten Weisen zu lesen waren: nämlich „Erkenne dich selbst“ und „Nichts im Übermaß“ (vgl. Giebel 2001, S. 48). Auch dies passt eher zu dem Bild aus der Tonschale als zu der Vorstellung einer entrückten, rasenden Pythia. Auf die Bedeutung der Weisen für das Orakel von Delphi ist häufig und auch schon in der griechischen Antike hingewiesen worden (vgl. Snell 1953; Althoff und Zeller 2006; Engels 2010). Es ist meist die Rede von sieben Weisen. Diese Kanonisierung geht höchstwahrscheinlich auf Platon zurück. Bei seinen Versuchen und denen anderer Autoren, eine Liste dieser Sieben Weisen zu erstellen, fällt als Erstes ins Auge, wie unterschiedlich diese Listen besetzt sind. Kennzeichnend ist aber für diese Gruppe, zu der unter anderem Thales, Solon und Pythagoras, aber auch Tyrannenherrscher wie Peisistratos – je nach Auflistung – gezählt wurden und deren Mitglieder in einem allenfalls losen Zusammenhang standen, auch wenn eine mythische Erzählung von einem gemeinsamen Wettstreit um den Dreifuß in Delphi berichtet, ihre unmittelbar lebenspraktische, zu konkretem Verhalten auffordernde Ausrichtung. Dieter Zeller (2006) hat ihr Wirken einer volkstümlichen Ethik zugeordnet. Im Unterschied zur philosophischen Ethik, wie sie später vor allem von Aristoteles ausgearbeitet wurde, werden von den Weisen keine Definitionen und auch keine nähere Bestimmung des Ziels der empfohlenen Haltungen und Handlungsweisen vorgenommen. Sie entwickelten keine auf Prinzipien beruhende Lehre, sondern Empfehlungen für die alltägliche Praxis. Manchmal scheint es unmittelbar klug und einsichtig, was sie raten, manchmal dient es der Gesundheit, dem individuellen Ansehen oder der Wohlfahrt des Gemeinwesens.

Ihre Verbindung zu Delphi und den frühen Formen der Beratung ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Zum einen waren sie durch die Formulierung und Wirkung ihrer Sprüche tatsächlich beratend tätig. Dies vielleicht nicht intentional, aber es existieren genügend Quellen bis in die klassische antike Philosophie, die bezeugen, dass die Orientierung an den Worten der Weisen in jedem Fall ein für den Einzelnen förderliches Unternehmen darstellte. Es herrschte somit ein normativer Diskurs, der in einfachen Worten besagte, dass die Weisen gute Ratgeber sind. Zum anderen kommt in den meisten der überlieferten Aussagen eine Mentalität zum Ausdruck, die eine hohe Affinität zum Selbstverständnis und Wirken des Orakelwesens in Delphi aufweist. Die beiden bereits erwähnten Sprüche „Nichts im Übermaß“ und „Erkenne dich selbst“ geben Zeugnis von der Haltung, die man auch von den Pilgern, welche nach Delphi kamen, erwarten konnte. Sie steht im Einklang mit der grundlegenden Orientierung, die mit der Anerkennung des von göttlichen Ratschlüssen mehr oder minder festgelegten, zumindest abhängigen eigenen Schicksals einhergeht.

Allerdings, und hierzu ist es erforderlich, die Orakelpraktiken etwas näher zu betrachten, eröffnete auch die mantische Situation selbst für den Einzelnen einen gewissen Gestaltungsspielraum. Durch die Überlieferung bekannt sind vor allem Orakelsprüche, die sich an Herrschende beispielsweise in Lydien oder Athen richteten. Herodot hat hierzu vieles überliefert, ob es sich um gesicherte historische Fakten handelt, wird wohl nie entschieden werden können. Darauf will ich aber mein Augenmerk gar nicht richten. Was für meine Überlegungen zu frühen Formen der Beratung relevanter und in den letzten Jahren historischer Forschung auch stärker ins Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Orakelwesen im antiken Griechenland insgesamt rückte, war deren Bedeutung für die herkömmlichen Bürger der verschiedenen griechischen Stadtstaaten (vgl. Rosenberger 2001). Delphi und etliche andere Orakel waren Pilgerstätten, zu denen sich zahlreiche Leute selbstverständlich eher aus den oberen Schichten mit sehr unterschiedlichen Anliegen auf den Weg machten. Häufige Anfragen betrafen Heiraten, das Aufnehmen einer Reise, um beispielsweise neue Handelspartner zu finden oder die Gründung von neuen Kolonien außerhalb der griechischen Kernregionen. Gerade angesichts des letzten Punktes müssen wir davon ausgehen, dass Delphi aufgrund von jahrhundertelanger Erfahrung eine hohe Expertise ausgebildet hat. Diese Expertise führte dazu, dass Delphi etwa bei der Gründung von Kolonien im heutigen Ägypten, Sardinien oder auch Südfrankreich angefragt wurde und bei Erfolg großzügig belohnt wurde. Eines der ausgegrabenen Schatzhäuser, in denen jeweils die Gaben aus den griechischen Stadtstaaten gesammelt wurden, konnte beispielsweise Massalia, dem heutigen Marseille, zugeordnet werden. Auf diese Weise wurden Reichtümer von unermesslichem Ausmaß im heiligen Bezirk gesammelt und gehortet. Das Beratungsunternehmen Delphi, so könnte man heute sagen, war ein erfolgreiches Geschäftsmodell.

Die übliche Beratungsleistung bestand bei individuellen Anfragen von Personen aus den oberen Schichten der Stadtstaaten im Ziehen eines Losorakels. Man geht heute davon aus, dass die allermeisten Pilger nach Delphi überhaupt keinen direkten Kontakt zur Pythia hatten, sondern aus einem Topf mit weißen und schwarzen Bohnen eine dieser Bohnen verdeckt zogen (Bohnenorakel, vgl. Rosenberger 2001, S. 48 ff.). Ihre Anfrage mussten sie deshalb in Alternativform stellen, die beiden Optionen wurden den weißen und schwarzen Bohnen zugeordnet. Beispielsweise: Soll ich mich mit meiner Familie der Übersiedlung in die neue Kolonie X anschließen? Soll mein Sohn die Tochter aus der Nachbarfamilie heiraten? Wie die Menschen der damaligen Zeit mit dem zugelosten Orakel umgegangen sind, dazu ist kaum etwas bekannt. Man muss sich allerdings vor Augen halten, dass allein durch den Umstand, dass die Reise etwa von Athen nach Delphi und zurück unter Umständen mehrere Wochen dauerte, die Pilger sich mit ihrer Frage an das Orakel, aber auch mit der erteilten Antwort lange und intensiv beschäftigen konnten. Der Weg zum Orakel war eine Pilgerfahrt, welche vorbereitende Opfer vor dem eigentlichen Opfer am Tempel des Apollon mit einschloss. Mit der Reise zur Orakelstätte war, wie wir heute sagen würden, eine Auszeit verbunden. Man ging mit der Frage an das Orakel in gewisser Weise schwanger und nach langer Fahrt wieder zu Hause angelangt, war dann die Zeit reif für die Entscheidung.

Es gibt auch Hinweise, dass durch die Art der Fragestellung die eine, möglicherweise vom Fragenden eher gewünschte Option eine höhere Wahrscheinlichkeit, auch vom Orakel empfohlen zu werden, auf sich ziehen konnte als die andere. Es gab ferner verschiedene Möglichkeiten zu fragen und durch die Art der Frage brauchte man das eigene Vorhaben durch das Ergebnis des Orakels erst gar nicht in Zweifel ziehen lassen. Wieder am Beispiel: Soll ich eine Ziege der Göttin Hera opfern oder einen Ochsen dem Gott Poseidon, damit meine Lieferung von Tonvasen in Sizilien heil ankommt? Soll ich dem Vater meiner Schwiegertochter diese oder eine andere Gunst erweisen, damit aus der Ehe meines Sohnes endlich Kinder hervorgehen? Was an diesen Beispielen deutlich wird, ist, dass es bei der Herstellung der mantischen Situation durchaus Mitgestaltungsmöglichkeiten durch die Anfragenden gab. Man konnte die eigenen Ziele und Präferenzen mit einfließen lassen. Der Mensch der griechischen Antike war also, gerade auch in seinem Selbstverständnis, nicht völlig dem Willen und den Entschlüssen höherer Mächte ausgeliefert. Aber, und das war auch der Hintergrund für das Erfolgsmodell Orakelwesen nicht nur in Delphi, man suchte das Einverständnis und Wohlwollen jener Gottheiten, bei denen man davon ausging, dass sie den Verlauf des eigenen Vorhabens maßgeblich mitbestimmen oder gar determinieren.

Ferner ist zu beachten, dass es um Anliegen und Fragen von hohem Gewicht ging. Nicht selten stand die wirtschaftliche Existenz oder das Fortbestehen des eigenen Familienverbands auf dem Spiel. In solch existenziellen Situationen, die mit hoher Unsicherheit und oft auch mit einem hohen Risiko verbunden waren, suchte man Unterstützung und Rat. Durch das Orakel erhielt man in gewisser Weise eine Legitimation für die eigenen Pläne und deren Umsetzung. Das gilt im Übrigen auch für jene prominenten Beispiele, bei denen es um das politische und militärische Handeln von hohen Entscheidungsträgern, auch kollektiven Entscheidungsträgern wie der Athener Volksversammlung, ging.

Mantische Praktiken werden häufig mit geschlossenen fatalistischen Weltbildern der betreffenden Kulturen und Gesellschaften in Verbindung gebracht. Dies stellt jedoch eine stark verkürzte Sichtweise dar. Denn handelnde Akteure im archaischen Griechenland verfügten bereits über einen Handlungs- und Entscheidungsspielraum, den sie besonders bei sehr gewichtigen Vorhaben mit dem Macht- und Einflussbereich der Götter abzustimmen pflegten. Dazu diente das Orakelwesen. Nimmt man auf die zwar nicht unumstrittene, für die hier vorliegende Analyse aber sicherlich bedeutsame Untersuchung von Julian Jaynes (1988) zur Entstehung von Bewusstsein aufgrund des Zusammenbruchs der bikameralen Psyche Bezug, so nimmt die Mantik ohnehin eine Scharnierfunktion zwischen dem Stadium ein, in dem die Menschen in ihrem Tun ohne innere Reflexion den Stimmen folgten, die sie etwa von Toten ihres Stamms oder von Göttern vernahmen, und dem Stadium, in dem Subjekte im Bewusstsein ihres Handelns ihren eigenen Intentionen folgten. Zu jener Zeit, als die Kunst der Weissagung ihre Blütezeit hatte, sollte mithilfe von mantischen Praktiken der Ratschluss der bereits verstummten Gottheiten entschlüsselt werden. Dabei wird nicht mehr blind dem Imperativ der äußeren Stimmen gefolgt, sondern es geht darum, dem Einzelnen „Handlungsalternativen mit ihren jeweiligen Konsequenzen narrativ zu entfalten“ (Jaynes 1988, S. 289). Mit der damit einhergehenden Auslegung des göttlichen Willens wird eine Situation geschaffen, die ein Sich-zu-sich-selbst-Verhalten ermöglicht und damit einen Spielraum im Handeln konstituiert.

Wer also im Zuge mantischer Praktiken sich die Zukunft voraussagen lassen will, wer wissen will, welche seiner Entscheidungen von den Göttern für gut geheißen und welche von ihnen bestraft werden, muss nicht davon ausgehen, dass der Lauf der Welt und damit auch der Verlauf seines Lebens bereits feststeht. Natürlich weiß man zu wenig, um nachvollziehen zu können, wie sich der Mensch in diesem Zeitraum selbst sah und verstand. Naheliegend ist sogar, dass Selbstthematisierung, so wie wir sie heute kennen, nicht oder zumindest kein wesentlicher Teil des individuellen und kollektiven Verständnisses der Menschen und ihrer Lebenswelt war. Gleichwohl deuten die angesprochenen Hinweise darauf hin, dass – viele weitere Aspekte mussten hier aus Platzgründen ausgespart bleiben – durchaus Möglichkeiten der Interaktion und des Arrangements mit den Kräften, bei denen man davon ausging, dass sie maßgeblichen Einfluss auf das eigene Leben haben, existierten. Wenn wie im Fall von Delphi Weisheitsregeln das von Einsicht geleitete Leben der Ratsuchenden mitbestimmen sollten, dann muss es auch Raum für Selbstbestimmung, zumindest aber für Selbstorientierung im durch die Götter gebahnten Weltenlauf gegeben haben (vgl. auch Oberlin 2015).

3 Sokratik

Wenn man verstehen will, welche dynamischen kulturellen Veränderungen sich im Zeitraum von 500–400 v. Chr. im antiken Griechenland und vor allem in Athen ereignet haben, sollte man sich zumindest schlagwortartig ein paar historisch bedeutsame Ereignisse aus dieser Zeit ins Gedächtnis zurückrufen (vgl. Meier 1993): die Befreiung von der Tyrannis, die dem Prinzip der Isonomia folgenden demokratischen Reformen des Kleisthenes und später des Perikles, die dazu führten, dass alle Bürger Athens an der politischen Willensbildung, aber auch an der Judikative maßgeblich beteiligt wurden, die mehrfachen und überraschenden militärischen Erfolge gegen die übermächtigen Perser, die Gründung eines Bundes von mehreren Stadtstaaten, bei dem Athen mehr und mehr die Hegemonie übernahm, die beispiellosen Bauten auf der Akropolis, die in gleicher Weise auf Potenz und Hybris der Bürger Attikas verweisen, die Förderung des öffentlichen Lebens durch verschiedene Kulte wie den Panathenäen-Festzug, dem Dionysos zugedachte Theateraufführungen und die Entwicklungen in Handwerk, Kunst, Technik, Philosophie und Wissenschaft (etwa der Heilkunst), die schließlich zur Gründung mehrerer Schulen (etwa Platons Akademie) führten. Mit dem letzten Beispiel haben wir den beschriebenen Zeitraum schon verlassen, aber er kann als einer der Kulminationspunkte der skizzierten Entwicklung verstanden werden.

Wenn man dieses bei weitem nicht vollständige Tableau von herausragenden Leistungen der griechischen Polis Athen betrachtet, so liegt die These nahe, dass dies auch mit einem grundlegenden Wandel des Selbstverständnisses der Bürger dieser Stadt verbunden war. Der Historiker Christian Meier spricht in diesem Zusammenhang von der Entwicklung einer eigenen, besonderen Mentalität, die er Könnens-Bewusstsein nennt (Meier 1983, S. 435 ff.). Betrachtet man die Entwicklungen zu dieser Zeit bei der Bewältigung handwerklicher, künstlerischer, schiffbaumeisterlicher, architektonischer, militärischer, politischer, erzieherischer und weiterer Herausforderungen, dann fällt auf, dass die meisten erzielten Erfolge in diesen Feldern vor allem mit einer enormen Zunahme technischen Könnens verbunden waren. Den damaligen, an dieser dynamischen Entwicklung beteiligten Menschen wurden somit ungeheure Möglichkeiten des Handelns, Herstellens und Gestaltens bewusst. Genau diese Konzentration des Bewusstseins in der weiteren Entwicklung und Vervollkommnung der genannten Techniken nennt Meier Könnens-Bewusstsein.Footnote 4

Ein eindrucksvolles Zeugnis dieses neuen Bewusstseins bietet das berühmte 2. Chorlied aus der Antigone des Sophokles (1981): „Vielgestaltig ist das Ungeheure, und nichts ist ungeheurer als der Mensch.“ In einer eindrucksvollen poetischen Zusammenstellung wird ein Katalog all dessen präsentiert, wo der Mensch es zu beachtlichen Leistungen gebracht hat. Die Möglichkeiten und Mittel des Handelns wurden in fast allen Bereichen außerordentlich erweitert. In früheren Zeiten wurde von Unbilden, Mühen und Gefahren gesprochen, denen beispielsweise die Seefahrer ausgesetzt sind. Heute – so das Chorlied – gelangt der Mensch „über das graue Meer im winterlichen Südwind unter rings aufbrüllendem Wogenschwall“ sicher ans Ziel. Mit anderen Worten: Der Mensch stellt sich nun den Gefahren. Die Risiken bleiben, doch es existieren Mittel und Wege, ihrer Herr zu werden.

Hier kommt eine neue Haltung, eine neue Einstellung, eine neue Mentalität gegenüber der Natur, aber auch gegenüber dem eigenen Schicksal zum Ausdruck. Das Wort Können in dem neuen Bewusstsein bezieht sich dabei auf alle Bereiche, welche durch techne bearbeitet werden: das Handwerk, die Kunst, die verschiedenen einzelnen Techniken selbst etwa im Bau, in der Landwirtschaft, im Militärwesen und nicht zuletzt die Wissenschaft. Aber auch im sozialen Leben, in der Politik, in der Gerichtsbarkeit, versucht man durch techne die Dinge zu gestalten. Es entstehen die Rhetorik, die Kunst der Argumentation und der Schlussfolgerung (Logik). Mit der Zeit gewinnt vor allem der Aspekt der rationalen, kontrollierten Methodik in den Bereichen, die von der techne bestimmt werden, zentrale Bedeutung.

Besonders deutlich lässt sich diese Entwicklung an den Sophisten zeigen, jener Gruppe von Philosophen, zugleich auch Pädagogen und Beratern, die als professionelle Wanderlehrer Bildungs- und Beratungsleistungen vor allem den heranwachsenden Männern aus den herrschenden Schichten anboten (vgl. Kerferd und Flashar 1998). Wenn in der Volksversammlung der Athener Bürger alle Beschlüsse gefasst werden, die das öffentliche Leben betreffen, so bedarf es der überzeugenden Rede und Argumentation, damit eigene Interessen und Vorstellungen durchgesetzt werden können. Das Nämliche gilt für die Gerichtsbarkeit, bei der ebenfalls keine professionellen Richter, sondern Vertreter aus den verschiedenen Ansiedlungen und Stadtteilen der Polis über Recht und Unrecht abstimmten.

Wir assoziieren heute mit dem Wort Sophist Wortverdreherei und unredliche Argumentation. Dies ist ein Verdienst Platons, der in seinen Dialogen häufig in polemischer Absicht die Sophisten als Kontrastfolie nutzte, um die Besonderheiten seines eigenen philosophischen Zugangs, meist vertreten durch Sokrates, noch deutlicher hervortreten lassen zu können. Genau betrachtet waren jedoch die Sophisten neue, bislang unbekannte Akteure auf dem sich etablierenden Bildungs- und Beratungsmarkt im aufstrebenden Athen (Buchheim 1986). Sie können als Vertreter einer Aufklärungs- und Demokratiebewegung im erweiterten Sinn betrachtet werden (von Fromberg 2007). Sie stellten den Menschen und dessen Anliegen ins Zentrum ihrer philosophischen Betrachtungen und Bildungsbemühungen und waren mit Meier gesprochen auch starke Förderer des Könnens-Bewusstseins. In diesem Zusammenhang ist auf den große Berühmtheit erlangten Homo-mensura-Satz von Protagoras zu verweisen: „Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, dass (wie) sie sind, der nicht seienden, dass (wie) sie nicht sind“ (nach Ries 2005, S. 49). Der Satz ist unterschiedlich interpretiert worden, beispielsweise erkenntnistheoretisch, aber auch moraltheoretisch. Im Kern macht er deutlich, dass die neue Bezugsgröße aller Dinge, vor allem der öffentlichen Angelegenheiten, die ja der Mensch selbst regelt, eben der Mensch ist.

Veranschaulichen lässt sich das neue Bewusstsein auch an der symbolischen Programmatik, wie sie durch die neuen Bauten auf der Akropolis zum Ausdruck kommt. Heiner Knell (1979) hat dies in aller Deutlichkeit herausgearbeitet, ich möchte an dieser Stelle nur zwei Hinweise aufgreifen: der Parthenonfries, der um die gesamte Cella des Parthenontempels läuft, zeigte zum ersten Mal Menschen, nämlich Bürger Athens im sogenannten Panathenäen-Zug, neben den Göttern an einem Tempel oder zumindest tempelähnlichen Bau. Auch die mythologischen Szenen in den Metopen und in den Giebeln des Parthenon können als Symbol eines neu erwachten Bewusstseins der Stärke und Macht Athens gelesen werden.

All dies macht deutlich, dass die Selbstvergewisserung des Menschen der griechischen Antike immer weniger von den Gottheiten abhing und immer mehr aus sich selbst heraus erfolgte. Man darf dabei nicht übersehen, dass dies keine einheitliche Bewegung war. Es gab auch Kräfte, die sich gegen diesen Trend stellten und stärker an kulturellen Traditionen festhielten. Sokrates hat, wenn wir die unterschiedlichen Quellen zu seinem Wirken zusammenzufügen versuchen, möglicherweise danach getrachtet, eine vermittelnde Position einzunehmen. Gleichzeitig hat er aber auch radikale Neuerungen in der Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst und seiner Lebensführung herbeigeführt. Ich werde mich hier auf jene wesentlichen Elemente konzentrieren, die es erlauben, das Wirken von Sokrates, so wie es in erster Linie in den eher früheren Dialogen Platons beschrieben wird, als eine Vorform psychologisch orientierter Beratung auszuweisen.

Das Motto des delphischen Orakels, „Erkenne dich selbst“ aus der Tradition der Weisen, nahm auch Sokrates in die Unterredungen mit seinen Schülern auf. Er gab dem damit verbundenen Verständnis aber eine neue Wendung. Die traditionelle Lesart, für die auch das Orakel in Delphi stand, sah in der Forderung „Erkenne dich selbst!“ eine weitgehende Anerkennung des von den Göttern auferlegten Schicksals. Zumindest muss man sich – wie zuvor gezeigt wurde – mit dem, was die Götter einem zugedacht haben, in irgendeiner Weise arrangieren.

Bei Sokrates erfährt die Idee der Selbsterkenntnis eine radikale Umdeutung. Sie wird zur Voraussetzung einer bewusst gestalteten Lebensführung des Einzelnen. Damit bildet sie die Grundlage einer auch begründeten Form des eigenen Lebens. Selbsterkenntnis mündet in Selbstführung als reflektierte Lebensgestaltung, welche nun mit der Verpflichtung verbunden ist, jederzeit vor sich und anderen Rechenschaft (logon didonai) über das eigene Handeln abgeben zu können. Geradezu lehrbuchhaft führt dies Sokrates in der von Platon verfassten Apologie vor, wo er sich vor Gericht für sein Handeln und seine Gespräche mit Athener Bürgern eben durch Argumente verteidigt. Ein ungeprüftes Leben, so seine Aussage dort, sei für einen Menschen nicht lebenswert (Platon 1986a, Apologie, 38a).

Diese Einsicht und die daran geknüpften Begründungen beziehen sich auf den am Anfang dieses Beitrags genannten Gedanken der sachverständigen Sorge um die eigene Lebensführung (vgl. Kniest 2003). Dabei darf nicht übersehen werden, wie sehr Sokrates in seinem Reden und Handeln immer wieder auf die Tradition zurückgreift. Er beruft sich in der Apologie Platons, aber auch in anderen Dialogen mehrfach auf das delphische Orakel und dessen Gott. In der Apologie verteidigt er sich, er folge in seinem Tun dem Gott, womit er offenkundig Apollon und dessen auf Rationalität hinweisende Attribute meint. Wie alle Bürger Athens übernahm auch Sokrates Aufgaben im Bereich des Militärs und der Politik und riskierte dabei zumindest den Quellen nach mehrfach sein Leben (vgl. Martin 1967). Allerdings erfolgt die Bezugnahme auf traditionelle Elemente des öffentlichen Lebens in Athen und deren Integration in sein Denken in einer Weise, die immer die persönliche Handschrift von Sokrates erkennen lässt. So versucht er etwa einen Spruch des Orakels von Delphi, nämlich dass er der Weiseste aller Weisen sei, durch das Abwägen von Argumenten und das Führen von Gesprächen mit unterschiedlichen Vertretern des öffentlichen Lebens in Athen zu prüfen. Darin liegt gewiss eine Portion Ironie, dass er ein ihn preisendes Urteil aus dem Munde des Gottes, dem er ja folgen will, eigens einer Prüfung unterzieht. Aber gerade hier zeigt sich, wie Sokrates es mit der Tradition hält und möglicherweise hat sein freier Umgang damit auch zu seinem Prozess geführt.

Wenn Sokrates von der Sorge und der Prüfung der Lebensführung spricht, greift er im Übrigen ebenfalls auf den Begriff der techne zurück. So verfolgt er das für die damalige Zeit charakteristische Vorhaben, praktisches Können weiter auszubilden, ja geradezu zu vervollkommnen. Für diesen Diskurs steht ihm aber insbesondere der Begriff der arete zur Verfügung, welcher seit Schleiermacher oft mit dem Wort Tugend übersetzt wird, im Grunde aber die Vortrefflichkeit oder hohe Qualität einer Sache oder Angelegenheit, auch einer Person meint. Sokrates übernimmt den Diskurs um die arete von den Sophisten (Kerferd und Flashar 1998, S. 11 ff.) und bezieht ihn auf die Sorgfalt, mit der jemand sein Leben führt und gestaltet. Es geht mit einem Wort um das gute Leben, das Sokrates in erster Linie als gutes Leben in der Polis und für die Polis, im und für das Gemeinwesen begreift. Auch diese Einsicht teilt er mit den Sophisten. Während diese aber das gute Leben in der Polis in erster Linie vom individuellen Erfolg abhängig machen, ob es also gelingt, Macht und Einfluss zur Durchsetzung eigener Interessen zu gewinnen, geht es Sokrates vor allem darum, darüber nachzudenken, in welcher Weise und wofür überhaupt Einfluss zu nehmen sei. Dies führt zur Reflexion des Guten überhaupt und es liegt nahe, dass genau dieses Motiv auch sein Schüler Platon aufgegriffen und mit „seinem“ Sokrates als Hauptakteur weiterentwickelt hat. Sokrates selbst, darauf deuten zumindest die frühen Dialoge hin, scheint die Frage nach dem Guten und ihm verwandten Attributen wie der Tapferkeit oder der Besonnenheit in aller Ernsthaftigkeit gestellt und nach allen Seiten hin ausgeleuchtet zu haben. Es sieht aber auch danach aus, dass Sokrates bei der Behandlung dieser sogenannten Was-ist-Fragen (Martens 2004, S. 65 ff.) meist über die Destruktion nicht hinauskam und seine Dialogpartner oft verwirrt und ratlos zurückließ. Ich komme gleich darauf zurück.

Betrachtet man das Wirken und die Leistung von Sokrates für die Entwicklung eines frühen Typs psychologisch orientierter Beratung, so ist vor allem auf einen weiteren Punkt hinzuweisen. Die skizzierte Grundhaltung der Sorge um das eigene Leben mündet unmittelbar in eine neue Form des Philosophierens und Beratens: nämlich in den Dialog (vgl. Pleger 1998). Im Unterschied zur mantischen Technik, bei der der Ratschluss der Götter dem Fragenden übermittelt und auch im Unterschied zu den Sophisten, welche durch eine belehrende Pädagogik den Schüler anleiteten, wie überzeugend zu reden und zu argumentieren sei, trat Sokrates als ein Erzieher auf, der eigentlich gar nichts zu lehren hatte und auch nichts lehren wollte. Diesen neuen Typus von Pädagogik nennt Sokrates selbst in einem Dialog Platons mäeutische Technik (Hebammenkunst; Platon 1986d, Theätet, 149a–151d). Die Grundidee besteht darin, dass Sokrates als Lehrender und Beratender kein Wissen vermittelt, sondern bei der Gewinnung von Wissen dem Lernenden wie eine Hebamme Hilfestellung leistet. Auf diese Weise bleibt die Erkenntnis dem Schüler nicht äußerlich. Es wird ihm kein Wissen, zu dem er keinen Bezug hat, übermittelt, sondern die Erkenntnis wird in einem gemeinsamen dialogisch-argumentativen Prozess erst geschaffen. Das Denken wird so zum Gespräch, Wissensbildung Teil eines kommunikativen Prozesses. Der Lernende eignet sich auf diese Weise selbst sein Wissen an. Es wird Teil seiner Persönlichkeit (Böhme 1992, S. 134).

Man darf freilich nicht übersehen, dass – wie schon zuvor angedeutet – durch den sogenannten sokratischen Dialog sehr oft eine Situation des Nichtwissens, der Ratlosigkeit oder Aporie hergestellt wurde. Gerade die frühen Dialoge führen dies deutlich vor Augen. So bleibt der anfangs vorgestellte Dialog Laches, bei dem sich die Dialogpartner darum bemühen, den Begriff der Tapferkeit zu bestimmen, ohne befriedigendes Ergebnis. Ferner führt Sokrates sein Gegenüber oft geradezu vor, was im Ergebnis nicht selten zur Konsequenz hat, dass der Gesprächspartner in seinem Selbstverständnis, in seiner Persönlichkeit eher erschüttert als gestärkt wird. Es wird in diesem Zusammenhang an einer Stelle im Dialog Menon (Platon 1994, 80a) für Sokrates das Bild des Zitterrochens und seiner elektrischen Schläge genannt, um metaphorisch zum Ausdruck zu bringen, mit welcher emotionalen Energie die Gespräche geführt wurden und mit welchen Konsequenzen für die Beteiligten sie verbunden waren. Das bedeutet: Wie auch immer im Einzelnen Sokrates diese Dialoge angelegt hat und unabhängig davon, zu welchen Ergebnissen er dabei gekommen ist, mit dem Athener „Streetworker“ der Philosophie ist jedenfalls ein neuer Typ der Wissens- und Erfahrungsbildung in einer auf Beratung angelegten Situation geschaffen worden. Dabei handelt es sich um ein genuin dialogisches Setting mit offenem Ausgang.

4 Schlussgedanken

Rufen wir uns zum Abschluss die eingangs zitierten Worte in Erinnerung, die Sokrates zur Behandlung der Seele an seine Gesprächspartner im Dialog Laches gerichtet hat: Es war dort von Könnerschaft in der Art, wie jemand sich um sich selbst kümmert und sein Leben führt, die Rede. Aus dem Wirken des attischen Philosophen geht hervor, dass in dieser Frage von den Göttern, aber auch von anderen Menschen, die beispielsweise wie die Sophisten in der Frage der Lebensführung selbstbewusst und kompetent auftreten, nicht viel zu erwarten ist. Natürlich wird sich der besonnene Bürger in seinem Tun und Lassen an den Traditionen und Normen des öffentlichen Lebens orientieren. Doch in letzter Konsequenz ist der Mensch in der Frage, wie er sein Leben zu führen habe, auf sich selbst zurückgeworfen. Er muss vor anderen für sein Handeln Rede und Antwort stehen, doch ist er es selbst, der sich am Ende zu rechtfertigen und die Konsequenzen zu tragen hat. Dazu gibt den Quellen zufolge gerade Sokrates ein anschauliches und lehrreiches Beispiel. Schlussendlich hat er für seinen Zugang zur Frage nach einem mit Meisterschaft geführten Leben mit dem Leben bezahlt.

Sokrates haben wir als Prototyp eines psychologischen Beraters kennen gelernt, der seinen Klienten gerade in der Frage der Selbstsorge und Selbstprüfung das Äußerste abverlangt. In der Beratung selbst gibt er kein Wissen weiter, eher vermittelt er ein dialogisches Können, nämlich die in der gemeinsamen Unterredung begründeten Art und Weise, wie bei Fragen, welche die eigene Lebensführung betreffen, verfahren werden kann. Es handelt sich dabei um methodisches oder prozessuales Wissen, wie wir heute vielleicht sagen würden.Footnote 5 Eine Erfolgsgarantie auf dem Weg der Selbstprüfung im kritischen Dialog gibt es freilich nicht.

Auch wenn Sokrates mit diesem Zugang eine radikale Wende angesichts möglicher Formen individueller Selbstvergewisserung einleitet, darf nicht übersehen werden, dass schon die Tradition bei der Frage nach der Führung des eigenen Lebens Praktiken kannte, die dem Handelnden einige Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf das von den Göttern auferlegte Geschick bot. Wir haben die Mantik der Griechen, insbesondere das Orakelwesen, als eine Kommunikationssituation kennengelernt, bei der die Fragesteller gerade auch ihr ureigenes Interesse mit eingebracht haben. Ebenso setzt Sokrates bei seiner Form der Beratung auf die Kommunikation und regt im Dialog das Gegenüber an, selbst in freilich begründeter Weise zu entscheiden, wie das Leben zu führen sei –, auch wenn dabei der Ratschluss der Götter in den Hintergrund tritt.