1 Feministische Theorie und die Entdeckung der kolonialen Moderne

Die Welt befindet sich in einem anhaltenden Zustand der Kolonialität. Allmählich kommt diese Tatsache auch in der Friedens- und Konfliktforschung an – und sie nötigt uns, die Grundlagen des Faches aus post- und dekolonialer Perspektive zu überdenken. Zum einen ist der politische Prozess der Dekolonisierung tatsächlich unabgeschlossen und berührt viele Gegenstände der Disziplin.Footnote 1 Zum anderen wirken in ehemals kolonisierten ebenso wie in den ehemals kolonisierenden Gesellschaften zahlreiche Prozesse aus einer mehrere hundert Jahre umspannenden gewaltreichen Vergangenheit in der Gegenwart weiter. Dieses Weiterwirken umfasst auch die epistemischen und politischen Prämissen sowie Praktiken der Friedens- und Konfliktforschung selbst. Die Kolonialität bildet die konstitutive Unterseite der Moderne, die koloniale Moderne genannt und dabei vom Mythos ihrer zivilisatorischen und moralischen, ökonomischen und sozialen, politischen und nicht zuletzt epistemischen Überlegenheit entkleidet wird. Entlang des dreiteiligen Konzepts einer Kolonialität der Macht (Quijano 2000), des Wissens (Lander 1993) und des Seins (Maldonado-Torres 2007) argumentiert vor allem dekoloniale Theorie, dass und wie sich während des 500 Jahre andauernden Prozesses der europäischen kolonialen Expansion das umfassende euro-und androzentrische Paradigma – und mit seiner Hilfe der globale Kapitalismus und die darauf basierende politische Weltordnung – weltweit durchgesetzt hat.Footnote 2 Zahlreiche Autor*innenFootnote 3 analysieren und theoretisieren die mit Kolonialismus und Kolonialität einhergehenden Verwerfungen und Vernichtungsprozesse, an deren Konzeption, Durchführung und Rechtfertigung Wissenschaft maßgeblich beteiligt war. Sie ist es bis heute, auch in der Friedens- und Konfliktforschung. Dies gilt nicht etwa nur für anwendungsorientierte Rüstungs- oder Militärforschung, wo ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Wissen und Gewalt leicht erkennbar ist. Dieser Zusammenhang umfasst auch organisationale, finanzielle und wissenschaftspolitische Dimensionen (Exo 2009; Nagel 2009) und ist nicht zuletzt auch in methodologischer, theoretischer und epistemologischer Hinsicht relevant (Brunner 2020). Boaventura de Sousa Santos (2014) spricht von Epistemizid, um den konstitutiven Konnex von Wissens und Gewalt im Zuge der Zerstörung indigener Sprachen, Denkweisen und Gesellschaftsmodelle, der Unterwerfung und Tötung von Millionen Menschen und der rücksichtslosen Ausbeutung natürlicher Ressourcen im globalen Maßstab zum Ausdruck zu bringen.

In den Worten der Feministin Vandana Shiva heißt das: „Die reduktionistische Weltanschauung, die Industrielle Revolution und das kapitalistische Wirtschaftssystem sind die philosophischen, technologischen und wirtschaftlichen Bestandteile desselben Prozesses“ (Shiva 1995, S. 39). Diese intersektionale Perspektive, wie sie von marxistischen und antiimperialistischen Feministinnen schon früh ausgearbeitet wurde, ist der konzeptionellen ‚Entdeckung‘ der kolonialen Moderne inhärent. Selten jedoch tritt die analytische Zentralität intersektionaler Analysen in der heute auch die Friedens- und Konfliktforschung belebenden post- und dekolonialen Debatte als ausdrücklich feministische Perspektive in Erscheinung. Insbesondere Gayatri C. Spivaks aus explizit feministischer Perspektive formulierter Begriff der epistemischen Gewalt (Spivak 2008), der seit fast 40 Jahren die post- und dekoloniale Debatte begleitet und vor allem Feminist*innen zu dessen vertiefter Theoretisierung angeregt hat, bildet eine der wesentlichen Grundlagen für Santosʼ Argument und Begriffsbildung. Spivak artikuliert mit ihrer Frage, unter welchen Umständen Subaltern(isiert‑)e gehört, verstanden oder gar als politische und epistemische Subjekte anerkannt werden, eine scharfe Kritik am imperialen Zusammenhang von Wissen(schaft) und Gewalt(freiheit), von Kolonialismus und Kapitalismus. Die epistemische und politische Verschränkung von Rassismus und Sexismus sowie die Schnittmenge an geteilten Interessen und Epistemologien zwischen lokalen und kolonialen Eliten setzt sie zentral für ihr postkoloniales und zugleich feministisches und kapitalismuskritisches Argument. Auch wenn sie vorrangig als Gründungsfigur der Postcolonial Studies und dabei ohne das Etikett des Feminismus genannt wird, bildet die feministische Weiterentwicklung ihres intersektionalen feministischen Zugangs einen der wesentlichen Faktoren für die Überzeugungskraft zuerst postkolonialer und später dekolonialer Theorien.

Wie Spivak und zahlreiche weitere feministische Autor*innen lange vor der aktuellen post- und dekolonialen Debatte zeigen, hat die koloniale Moderne das bis heute wirksame, patriarchale und heteronormative Geschlechtersystem erst mit hervorgebracht (McClintock 1995; Oyewùmí 1997; Stoler 1995). Solche feministischen Interventionen an den politischen und epistemischen Bruchzonen des post/de/colonial turn sind zentral für die in diesem Paradigmenwandel verhandelten theoretischen und epistemischen Grundlagen, greifen sie doch in großer Selbstverständlichkeit auf Jahrzehnte intersektionaler Wissensproduktion an der Schnittstelle der global gedachten Kategorien race, class, gender und sexuality zurück, die ihrerseits insbesondere von Schwarzen (Crenshaw 1991; Collins 1990) und Indigenen Theoretiker*innen (Smith 2005) sowie von Queerfeminists of Colour (Lugones 2007) geprägt wurde. Von dieser interdisziplinären, intersektional-feministischen Grundlagenforschung, die gemeinsam mit antikolonialer Theorie und Praxis eine der Wegbereiter*innen aktueller post- und dekolonialer Debatten ist, kann die Friedens- und Konfliktforschung viel lernen – und tut es bereits.

2 Epistemischer Rassismus/Sexismus und Heteronormativität als Strukturprinzipien von Kolonialität und Kapitalismus

Auch unzitiert wirken intersektionale feministische Theoreme und Konzepte in den überwiegend euroamerikanisch, anglophon und männlich codierten Kanon post- und dekolonialer Theoriebildung hinein. Ein mit dem bereits erwähnten Konzept der epistemischen Gewalt eng verwandtes Beispiel dafür ist das Konzept des epistemischen Rassismus/Sexismus. Dessen Schrägstrich verbindet bewusst jene beiden Mechanismen von Diskriminierung und Ausbeutung miteinander, die die Grundlage für den heute global durchgesetzten Kapitalismus und dessen Ausbeutung menschlicher und natürlicher Ressourcen bilden. An Ramón Grosfoguels Text The Structure of Knowledge in Westernized Universities. Epistemic Racism/Sexism and the Four Genocides/Epistemicides of the Long 16th Century (2013) lässt sich exemplarisch zeigen, wie sehr dessen Argument von der Arbeit einer nur kurz erwähnten Marxistin und ihren feministischen Zeitgenoss*innen geprägt ist. Die Anfänge von Caliban and the Witch. Women, the Body and Primitive Accumulation (Federici 2004) gehen bis in die Mitte der 1980er-Jahre zurück. Ähnliche Argumentationen wurden damals von Maria Mies (1986), Carolyn Merchant (1983) und Vandana Shiva (1989) verhandelt. Diese frühen, in vielen Sprachen geführten, feministischen Debatten zum konstitutiven Zusammenhang von Sexualisierung, Rassifizierung, Kapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus bleiben im anglophonen, von Autoren dominierten Hauptstrang des post- und decolonial turn bemerkenswert unerwähnt.

Grosfoguel spricht wie viele andere vom sogenannten langen 16. Jahrhundert, in dem sich vier parallele, die koloniale Expansion konstituierende Vernichtungsprozesse ineinander verschränkten (Grosfoguel 2013; Brunner 2020, S. 37–75): erstens die mit der Vorstellung einer ‚Blutreinheit‘ gerechtfertigte Zwangskonversion und Vertreibung von Juden und Jüdinnen und Muslim*innen auf der iberischen Halbinsel in der Reconquista; zweitens die zeitgleich beginnende Unterwerfung indigener Bevölkerungen in den Amerikas, die mit der lange verhandelten Frage gerahmt wurde, ob diese denn eine Seele hätten; drittens die Versklavung und Verschleppung Schwarzer Menschen vom afrikanischen Kontinent in die Amerikas, welche erst mit theologischem und später mit naturwissenschaftlich säkularisiertem Rassismus gerechtfertigt wurde; sowie viertens die Verfolgung sogenannter Hexen und Häretiker*innen in Europa selbst, wobei vor allem deviante Sexualität zum legitimatorischen Leitmotiv von Folter und Mord avancierte. Erst an diesem, offensichtlich Frauen und ihre Sexualität und Leiblichkeit betreffenden Punkt greift Grosfoguel kurz auf Federici als Quelle zurück.

Der Autorin geht es jedoch um weit mehr als um Sexualität. Sie stellt die Folter und Ermordung marginalisierter Frauen und Männer in Europa, deren früher Widerstand gegen beginnende kapitalistische (Re‑)Produktions- und Lebensweisen als Hexerei verunglimpft und zum Todesurteil wurde, erstens in einen konstitutiven und systematischen Zusammenhang mit den oben genannten Vernichtungsprozessen in den Amerikas und in Afrika sowie mit der sogenannten ursprünglichen Akkumulation, die der kapitalistischen Expansion des Kolonialismus unmittelbar vorangegangenen war. Vor diesem Hintergrund stellt Federici die Arbeitsverweigerung gegen den Frondienst und Widerstand gegen den Waffendienst in einen Zusammenhang mit der weiblichen Verweigerung der sexuellen Reproduktion. Federici nennt den Kapitalismus eine Konterrevolution der herrschenden Klassen angesichts breiter sozialer Konflikte und antifeudaler Kämpfe, in denen sich in Europa erste, von Frauen getragene, gewissermaßen mittelalterlich-proletarische Widerstandsformen gegen die Praxis der Leibeigenschaft verbunden hätten (Federici 2012, S. 27). In den bei Grosfoguel genannten und von Federici schon viel früher miteinander in Bezug gesetzten, interkontinental verwobenen vier Vernichtungsprozessen wurde nicht nur gefoltert und gemordet. Es wurde auch unbequemes, den frühen Kolonisierungsprozess und die Anfänge der kapitalistischen Produktionsweise gefährdendes Wissen ausgelöscht, angeeignet und mit dem, sich wechselseitig verschränkt in der ‚alten‘ und ‚neuen‘ Welt zugleich herausbildenden, euro- und androzentrischen und heteronormativen Paradigma überschrieben. Zu Beginn der heute als Erfolgsgeschichte erzählten Moderne und ihres Zivilisationsprozesses stehen also massive Genozide/Epistemizide, die uns bis in die Gegenwart begleiten.

Einen fünften Vernichtungs- und Transformationsprozess haben ebenfalls schon Federicis feministische Zeitgenossinnen benannt. So sprechen Mies, Merchant und Shiva bereits in den 1980er-Jahren ausdrücklich davon, dass sich im Zuge der politischen und ökonomischen Transformation des langen 16. Jahrhunderts auch das zuvor geltende Verständnis von Natur und Ressourcen desaströs verändert habe: weg von einem ganzheitlichen, sich regenerierenden Kosmos, in dem Lebewesen auf vielfältige Weise miteinander verbunden und daher voneinander abhängig sind, hin zu einem Reservoir an unbelebter Materie, zu dem schließlich auch bestimmte, bis in den Tod ausbeutbare, weil als minderwertig und nicht erkenntnis(produktions‑)fähige Menschen gezählt werden: Frauen*, Knechte, Sklav*innen, als Kranke und Behinderte marginialisierte sowie zu Unmündigen erklärte Menschen. Die Autorinnen stellen fest, dass Sklaverei und Hexenverfolgung ebenso wie die Reconquista und die Entmenschlichung der Indigenen in den Amerikas ideale Experimentierfelder für neue Formen von Repression, Arbeits- und Reproduktionskontrolle dargestellt haben – ausgedacht und ausgeführt nicht durch Europäer_innen im Allgemeinen, sondern von Angehörigen der dort herrschenden Klassen (Federici 2012, S. 130), zur Anwendung gebracht sowohl in der ‚neuen‘ als auch in der ‚alten Welt‘. Die ‚Ergebnisse‘ dieser Herrschaftstechniken und Gewaltpraktiken werden dieser Argumentation zufolge weit über die gemarterten Körper hinaus in einer bis heute anhaltenden rassifizierten und heteronormativ vergeschlechtlichten internationalen Arbeitsteilung und Ressourcenverteilung sowie in einem fragmentierten, mechanistischen Naturverständnis wirksam (Merchant 1983; Shiva 1989). Nicht zuletzt verweist vor allem Merchant auf den späteren Diskurs zu europäischer ‚Hexenverfolgung‘, Kolonisation und Sklavenhandel, in dem berühmte Intellektuelle wie René Descartes, Francis Bacon oder Jean Bodin alle drei Projekte vehement vertraten – und nichtsdestotrotz als ehrenwerte Vorbilder in das kollektive Gedächtnis der Philosophie der Aufklärung und in die Politische Theorie der Moderne eingehen konnten (Merchant 1983, S. 168).

Dreißig Jahre später wird die bereits unter intersektional-feministischen Vorzeichen analysierte, aber nicht ausdrücklich so genannte colonial condition unter anderem von María Lugones (2007) auch queertheoretisch ausdifferenziert. Sie und andere Autor*innen zeigen, dass die rassifiziert-sexualisierte Heteronormativierung und stets hierarchisierte Dichotomisierung der Geschlechter in der kolonialen Moderne nicht einfach vorgängige ‚Naturzustände‘ von Hautfarbe, Geschlecht und Sexualität festgeschrieben und in Klassenverhältnisse überführt, sondern diese als solche erst hervorgebracht hat. In den Kolonien ebenso wie in Europa wurde ein, in vorkolonialen Zeiten nicht auf diese Weise existierendes, von ausdrücklich heteronormativem Rassismus/Sexismus organisiertes Genderregime implementiert (McClintock 1995; Stoler 1995). Dieses liegt der kapitalistischen Produktionsweise und den mit ihr einhergehenden politischen Organisationsformen von Herrschaft bis heute zugrunde und ist zugleich tief in die Epistemologien der kolonialen Moderne eingeschrieben.

Für eine an post- und dekolonialen Perspektiven interessierte Analyse und Kritik gegenwärtiger Kriege und Konflikte stellen diese frühen intersektionalen Gesellschaftsanalysen und deren Aktualisierungen wertvolle Grundlagen bereit – und eine Herausforderung dar. Insbesondere die zuerst genannten, feministischen Autor*innen betonen die materialistische Dimension dieser ineinandergreifenden Prozesse stärker als dies in der späteren post- und dekolonialen Debatte zumeist der Fall ist, in der diskursive und epistemische Aspekte stärker herausgearbeitet werden. Die in der kolonialen Moderne hervorgebrachte, zutiefst verinnerlichte Epistemologie und Praxis des Fragmentierens, Klassifizierens und Hierarchisierens hat die notwendigen Grundlagen dafür bereitgestellt, eine auf Kolonialismus und Kapitalismus basierende internationale Weltordnung der Ausbeutung zu etablieren, die den gegen sie über Jahrhunderte hinweg stets vorhandenen, auch gewaltsamen, Widerständen bis heute standhält. Diesen grundlegenden Zusammenhang sollte die Friedens- und Konfliktforschung (wieder) stärker in den Blick nehmen, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Die genannten Widerstände sind es auch, die der herrschenden Ordnung und ihren Eliten immer wieder Zugeständnisse und Befriedungen abringen. Auch den von ihnen ausgehenden epistemische Herausforderungen sollte sich das Fach stärker als bislang widmen.

3 Feministische Friedens- und Konfliktforschung als Vermittlerin post- und dekolonialer Theorie

Die Implikationen der kolonialen Moderne für gegenwärtige Macht‑, Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse werden in der Friedens- und Konfliktforschung erst allmählich zur Kenntnis genommen, so wie sich das Feld auch lange gegen feministische Einwände und Erweiterungen zur Wehr gesetzt hat (Batscheider 1993; Brunner 2018b; Clasen et al. 2011; Davy et al. 2005). In der Tat war die Analyse von Kolonialismus, Imperialismus und Kapitalismus(kritik) für viele ‚Pioniere‘Footnote 4 des Faches einst durchaus zentral – auf die eurozentrische epistemologische Dimension ihrer Theoriearbeit hatte diese Erkenntnis hingegen nur wenig Auswirkungen.Footnote 5 Feministische Analysen wiederum spielten in der institutionell weitgehend frauenfreien und vermeintlich geschlechtslosen ‚Gründerzeit‘ der Disziplin so gut wie gar keine Rolle. Das überrascht nicht unbedingt. Beide Perspektiven – eine anti-eurozentrische ebenso wie eine anti-androzentrische – bringen Gewissheiten und Kräfteverhältnisse des Feldes ins Wanken. Weiße Frauen (in den ersten Jahrzehnten der institutionalisierten Friedens- und Konfliktforschung), nicht-weiße Wissenschaftler*innen (in der Gegenwart) und, wenn auch weniger sichtbar, Menschen aus kleinbäuerlichen oder Arbeiter*innenfamilien, irritieren darüber hinaus auch die bürgerlichen, andro- und eurozentrischen Gepflogenheiten des akademischen Alltags.

Während das Verständnis des Internationalen und der Globalisierung im Kontext von Krieg, Gewalt, Konflikt und Frieden auch in kritischen Perspektiven zumeist vom Universalismus und der Heteronormativität moderner Sozialtheorie getragen und, insbesondere im englischsprachigen Raum, von oft theorieschwachen und anwendungsorientierten empirischen Fallstudien dominiert wird, sind es im deutschsprachigen Raum heute insbesondere feministische Autor*innen, von denen die Rezeption intersektionaler post- und dekolonialer Perspektiven vorangetrieben und in das Fach der Friedens- und Konfliktforschung ‚übersetzt‘ wird (Brunner 2016a, 2017, Brunner 2018a, 2020; Cárdenas 2016, 2018; Dittmer 2018; Engels 2015; Exo 2015a, Exo 2015b, Exo 2017; Jenss 2018; Krause 2021; Zöhrer 2020). Sie verdeutlichen, dass eine postkoloniale Dezentrierung ebenso wie eine dekoloniale Reformulierung wissenschaftlicher Disziplinen erfordert, auch deren eigenen Anteil an der kolonialen Moderne zu problematisieren.

Manuela Boatcă und Sérgio Costa warnen davor, den postcolonial turn als Faktum zu setzen und vorschnell nach einem decolonial turn zu rufen (Boatcă und Costa 2010, S. 71). Es gehe erst einmal darum, den colonial turn der jeweiligen Disziplinen zurückzuverfolgen. Eine solche „Hegemonie(selbst)kritik“ (Dietze 2008) steht der Friedens- und Konfliktforschung gut zu Gesicht, ist diese doch seit ihren Anfängen notwendigerweise eine „Dissenswissenschaft“ (Jaberg 2011, S. 61). Hervorgegangen aus einer sozialen Bewegung, trägt sie ein für akademische Verhältnisse überdurchschnittliches Maß an Herrschafts- und Selbstkritik in sich. In dieser Hinsicht ist die noch junge Disziplin der Peace Studies den Gender Studies (errungen im Kontext der Zweiten Frauenbewegung) und gerade auch den Postcolonial Studies (als institutionelle Verarbeitung antikolonialer Befreiungskämpfe) strukturell und auch wissen(schaft‑)spolitisch durchaus vergleichbar. Begleitet vom kontroversen gesellschaftlichen Diskurs zu angrenzenden Themenfeldern – wie gegenwärtig etwa zu Black Lives Matter oder zu #metoo – öffnet sich auch die Friedens- und Konfliktforschung den heute überwiegend als ‚Identitätsfragen‘, und damit nur unzureichend, verhandelten Fragen von race und gender. Deutlich zurückhaltender ist das Fach hingegen, wenn es um globale Klassenverhältnisse oder um antimuslimischen Rassismus geht, dessen akademische Bearbeitung über weite Strecken als Wiederbelegung der kolonialen mission civilisatrice gelesen werden kann (Brunner 2016b; Dietze 2017). Es stünde der grundsätzlich gesellschaftskritischen Tradition und dem internationalen beziehungsweise globalen Anspruch der Friedens- und Konfliktforschung gut an, die aktuellen, vermeintlich singulären Kontroversen im geopolitischen, ökonomischen wie auch epistemischen Kontext der kolonialen Moderne zu verorten, miteinander in Beziehung zu setzen und dabei eine herrschaftskritische Perspektive einzunehmen, die eine Gegenerzählung zur gegenwärtigen, rassifizierten kolonial-modernen „Sexualpolitik“ (Dietze 2017) des imperialen Teilens und Herrschens ermöglicht.

Der relative institutionelle Erfolg sowie die Orientierung der Friedens- und Konfliktforschung an der Politikwissenschaft und den Internationalen Beziehungen implizieren allerdings auch ein beachtliches Maß an Verinnerlichung des dominanten euro- und androzentrischen Paradigmas. Das erschwert nicht nur im sogenannten Mainstream des Fachs eine solche Positionierung. An das koloniale Erbe kritischer Sozialwissenschaften erinnert aktuell Gurminder Bhambra, wenn sie eine Dekolonisierung der Frankfurter Schule Kritischer Theorie einfordert. Diese verweigere es bis heute, Kolonialismus und Sklaverei als für die Moderne konstitutiv und Stimmen aus dem Globalen Süden als relevante Produzent*innen von Theorie anzuerkennen (Bhambra 2021). Der zwar modernitätsskeptische, aber immer noch universalistische Impetus Kritischer Theorie, der die Anfänge der Friedens- und Konfliktforschung gerade im deutschsprachigen Raum geprägt hat, reicht also nicht weit genug, weil er bewusst, oder aber ignorant, eurozentrisch bleibt. Die colonial condition nicht als konstitutiv für globale Macht‑, Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse und daher auch Möglichkeitsbedingung für deren Beforschung anzuerkennen, stellt jedoch, ebenso wie die Resilienz gegenüber geschlechtersensiblen Perspektiven auf internationale Gewaltverhältnisse, ein systemimmanentes Bias und nicht zuletzt auch eine Methode zur Sicherung von Privilegien dar. Gerade für die deutschsprachige Friedens- und Konfliktforschung, deren Gründungsgeneration stark von der Frankfurter Schule geprägt, an post- und dekolonialen (und in deutlich geringerem Ausmaß auch an feministischen) Perspektiven zwar interessiert ist, ihnen gegenüber letztlich jedoch skeptisch bleibt, ist der post/de/colonial turn also durchaus eine Herausforderung. Umso mehr, wenn er von feministischen Stimmen artikuliert wird.Footnote 6

4 Wiederbelebung herrschaftskritischer Friedens- und Konfliktforschung durch feministische, post- und dekoloniale Perspektiven

Gewalt und anderen Formen der Konfliktaustragung in ihrem Verhältnis zu Macht und Herrschaft vor allem im globalen Kontext zu analysieren und zu theoretisieren ist eine der zentralen Aufgaben der Friedens- und Konfliktforschung. Von der feministischen ebenso wie von der post- und dekolonialen Auseinandersetzung mit diesem Verhältnis kann sie weiterhin viel lernen. Ihre eigene Rolle dabei einer hegemonie(selbst)kritischen Betrachtung zu unterwerfen und sich noch weiter über ihre eigenen disziplinären Grenzen hinaus zu öffnen, wird dabei ebenso nützlich wie herausfordernd sein. Denn auch die vermeintlich aufgeklärten und aufklärenden Wissenschaften waren und sind an der Entstehung und Verfestigung von Gewalt‑, Macht und Herrschaftsverhältnissen auf vielfältige Weise beteiligt (Brunner 2020, S. 271-298). Daraus folgt erstens, dass sich auch alle herrschaftsnahen akademischen und politischen Rahmungen, etwa staatlich oder zwischenstaatlich organisierter, politischer Gewalt selbst auf dem „epistemischen Territorium der [kolonialen] Moderne“ (Vázquez 2011, S. 29) befinden und auf diesem operieren – sei es durch Rechtfertigung konkreter Gewaltpolitiken oder durch die Bereitstellung und Naturalisierung ihrer epistemischen und kognitiven Grundlagen. Zweitens ist einzuräumen, dass auch in hohem Maße reflexive und kritische Wissensproduktion – wie etwa die frühe Kritische Friedensforschung – sich nicht automatisch jenseits dieses Territoriums positionieren und mittels postulierter moralischer Autorität von diesem distanzieren kann. Angemessener und langfristig zielführender im Sinne einer herrschaftskritischen Neuorientierung der Friedens- und Konfliktforschung erscheint es, deren Standorte und Standpunkte vor dem Hintergrund der kolonialen Moderne einer kritischen Relektüre zu unterziehen, die insbesondere auf dem Erfahrungsschatz intersektionaler feministischer post- und dekolonialer Perspektiven beruht. Das bedeutet, dass wir nicht nur die Anlassfälle und Themenfelder unserer Analysen, die je konkreten Kriege und Konflikte oder deren versuchte Transformationen, im Kontext der kolonialen Moderne betrachten müssen. Wir sind herausgefordert, auch unsere Theorien und Methodologien, Konzepte und Begriffe, Arbeits- und Kommunikationsweisen der akademischen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung mit Gewaltverhältnissen und deren potenzieller Reduktion vor diesem Hintergrund neu verstehen zu lernen.

Intersektionale, feministisch-post-dekoloniale Perspektiven bringen wesentliche Voraussetzungen mit, die Friedens- und Konfliktforschung daran zu erinnern, dass die uns gegenwärtig beschäftigenden Herrschafts- und Gewaltverhältnisse oft weit in die Geschichte zurückreichen und stets mehr umfassen als das, was wir aus privilegierter Forschungsperspektive wahrnehmen und immer nur vorläufig benennen können. Viele kritische und feministische Protagonist*innen der Disziplin haben das, insbesondere mit Hilfe des von Johan Galtung popularisierten marxistischen Konzepts der strukturellen Gewalt (Galtung 1975) immer schon betont. Vor allem intersektional denkende feministische Autor*innen, die sich mit Gewalt im internationalen Kontext beschäftigen, weisen seit vielen Jahrzehnten darauf hin: Gewalt ist auch epistemisch und symbolisch, normativ und diskursiv, strukturell und systemisch – und stets sind ihre unterschiedlichen Dimensionen miteinander verzahnt. Post- und dekoloniale Theorien, die ihre Ursprünge nicht zufällig in den antikolonialen Befreiungskämpfen jener Menschen haben, die von Europäer*innen über Jahrhunderte hinweg erniedrigt, ausgebeutet, verachtet und vernichtet wurden, wissen über diese Zusammenhänge besser Bescheid als eine Friedens- und Konfliktforschung euro- und androzentrischer Provenienz, die zwar realisiert, dass ein post/decolonial turn vor der Tür steht, es aber noch nicht wagt, diese Tür weiter zu öffnen. Es gilt zu erkennen, dass es viele Stimmen gibt,Footnote 7 die die normative Orientierung an Gerechtigkeit und Würde für alle Menschen, die auch der Friedens- und Konfliktforschung gut vertraut ist, kompromissloser und radikaler zum Ausdruck bringen als sie selbst sich dies zugesteht.Footnote 8 Ihnen besser zuhören zu lernen und dabei die eigenen Annahmen und Privilegien schrittweise verlernen zu üben ist ein herausfordernder, aber auch glaubwürdiger Schritt der Öffnung einer wissenschaftlichen Disziplin hin zu jener Welt, die zu analysieren und in der wirksam werden zu wollen sie selbst behauptet.