Karl Marx hat in seinem Spätwerk eine Richtung eingeschlagen, die als „Russian Road“ (Shanin 1983) beschrieben worden ist. Zwei Jahre nach Veröffentlichung der Erstauflage des ersten Kapital-Bandes, im Herbst 1869, fing er an, Russisch zu lernen, um sowohl die Debatten der russischen Sozialrevolutionär*innen als auch die ökonomische Literatur zum russischen Grundeigentum aus erster Hand rezipieren zu können. Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der damaligen Peripherie des kapitalistischen Weltsystems hat Marx nicht nur die sozialrevolutionären Sichtweisen zur russischen Dorfgemeinde mit ihrem Kollektiveigentum übernommen und dieses zu einer Einrichtung erklärt, die es gegen die Invasionen des kapitalistischen Privateigentums zu verteidigen gelte. Er hat in diesem Zusammenhang auch geschichtsteleologischen Deutungen seiner Kritik der politischen Ökonomie eine Absage erteilt. Es sei falsch, schrieb Marx 1877 in einem Brief an die sozialrevolutionäre Zeitschrift Otetschestwennyje Sapiski (deutsch: Vaterländische Blätter), „meine historische Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa [gemeint ist das Kapitel über die sog. ursprüngliche Akkumulation im ersten Kapital-Band – UL] in eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges [zu] verwandeln, der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist, was immer die geschichtlichen Umstände sein mögen, in denen sie sich befinden“ (MEW 19, 111). Wer historische Prozesse in ihrer Tragweite verstehen will, müsse kontextualisieren und vergleichen; „man wird niemals dahin gelangen mit dem Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein.“ (Ebd., 112)

So einleuchtend die These von der Russian Road ist, so erschließt sie doch nur einen Teil des marxschen Spätwerkes. Die beiden prominentesten Texte dieses Werkabschnitts, die Schrift über die Pariser Commune aus dem Jahr 1871 sowie die 1875 verfasste Kritik des Gothaer Programms der deutschen Sozialdemokratie, handeln nicht von Russland und der Unangemessenheit geschichtsphilosophischer Stufenmodelle. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass Marx mit diesen Texten eine auf die Russian Road zulaufende French Road beschritten hat, auf der sich – analog zu den russischen Sozialrevolutionär*innen – diverse Theoretiker*innen und Praktiker*innen des französischen Sozialismus tummeln. Für die Commune-Schrift dürfte diese Beschreibung evident sein, hat Marx hier doch die Praxis des französischen Sozialismus in Form seines epochalen Sozialexperiments reflektiert. Aber auch die Kritik des Gothaer Programms ist linksrheinisch orientiert und speist sich aus den sozialistischen Debatten, die in Frankreich in den 1830er und 40er Jahren geführt wurden. Werkgeschichtlich betrachtet hat Marx insgesamt drei Mal die French Road beschritten. Im Jahr 1843 führt sie ihn in personam nach Paris und zum Sozialismus. In den späten 1840er Jahren, als die geschichtsphilosophischen Tendenzen in seinem Werk am stärksten sind, gerät Marx für kurze Zeit in den Bann des Jakobinismus und vertritt ein putschistisches Revolutionsmodell. In den 1870er Jahren wird der Sozialismus dann von ihm – parallel zur Russian Road mit ihrer Fundamentalkritik der Geschichtsphilosophie – demokratie- und gerechtigkeitstheoretisch rückgebunden – eine Operation, die sich als zumindest teilweise Rehabilitation des seit dem Kommunistischen Manifest vielgescholtenen „utopischem Sozialismus“ lesen lässt.Footnote 1

Ziel des vorliegenden Textes ist es, die normativen Gehalte des marxschen Spätwerkes zu rekonstruieren. Meine These lautet, dass dessen French Road auf eine radikale Gleichheitskonzeption hinausläuft, die eine Brücke schlägt zwischen Theorien der Gerechtigkeit und solchen des guten Lebens. Vieles von dieser Gleichheitskonzeption bleibt beim späten Marx implizit und muss aus den egalitären Argumenten, mit denen er andere Gerechtigkeitsauffassungen kritisiert, oder aus der Darstellung des Sozialexperiments der Commune erschlossen werden. In einem ersten Schritt komme ich auf die Debatte über das Gerechtigkeitsverständnis von Marx zurück, die in der anglo-amerikanischen Philosophie in den 1970er und 80er Jahren geführt wurde. Deren offene Fragen und ungelöste Probleme lassen sich weiterbearbeiten, wenn Iris Marion Youngs (2011 [1990]) Kritik des „distributiven Paradigmas“ gefolgt wird und der gegenwärtige „family dispute“ (Lippert-Rasmussen 2018a, 81) zwischen distributivem und relationalem Egalitarismus auf Marx bezogen wird. Zweitens schlage ich eine demokratietheoretische Interpretation der Commune-Schrift vor und lege die egalitäre Begründungslogik frei, auf der die marxsche Argumentation beruht: Die wichtigste institutionellen Innovation der Commune, die radikaldemokratische Verantwortlichkeit, zielt auf egalitäre Kontrolle von Entscheidungsmacht. In einem dritten und letzten Schritt diskutiere ich die zentralen philosophischen Aspekte der Kritik des Gothaer Programms: das Verhältnis von Produktion und Distribution sowie die Gerechtigkeitsprinzipien, die für verschiedene Phasen der „kommunistischen Gesellschaft“ gelten.Footnote 2 Beim späten Marx, so wird deutlich, gibt es einen Primat relationaler Gleichheit, der nicht nur über die Geltungsansprüche distributiver Gerechtigkeit entscheidet, sondern auch die Qualität von Arbeit in die gerechtigkeitstheoretische Reflexion einbezieht.

1 Gerechtigkeit, Gleichheit und Marx

Marx war kein Moralphilosoph. Nicht nur hat er keine moralphilosophischen Abhandlungen geschrieben, er hatte – nach seinem Bruch mit dem Junghegelianismus – auch eine ausgeprägte Abneigung gegen den entsprechenden Theorietypus bzw. dessen damalige Manifestationen. „Die deutsche Philosophie“, heißt es in den 1845/46 verfassten Manuskripten zur Deutschen Ideologie, „[musste], weil sie nur vom Bewußtsein ausging, in Moralphilosophie verenden“ (MEW 3, 349). Diese Ablehnung speist sich bei Marx einerseits aus einer politischen Kritik an Moralisierungen: Es ist falsch, soziale Struktureigenschaften zu individuellen Verhaltensdefiziten zu erklären bzw. Individuen mit moralischen Ansprüchen zu traktieren, deren Erfüllung eben jene Strukturen verhindern. Andererseits ist diese Ablehnung – zumindest innerhalb einer bestimmten Phase des marxschen Werkes – auch geschichtsphilosophisch motiviert. Moralische Problematisierungen erscheinen als ideologische Manöver, die vom Gang der Weltgeschichte und den „revolutionären Aufgaben“ (ebd., 405) ablenken, die das Proletariat darin zu erfüllen hat.

Wie ausgeprägt auch immer seine Abneigung gegen die Moralphilosophie gewesen sein mag, sie hat Marx nicht davon abgehalten, sich selbst auf normatives Terrain zu begeben. Und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen ist das marxsche Werk voller ethischer Wertungen, gerade auch dort, wo es, wie im Kapital, Wissenschaftlichkeit beansprucht. Eine positivistische Trennung von Tatsachenaussagen und Werturteilen, wie sie etwa Max Weber zum Wissenschaftsideal erhoben hat, war Marx fremd.Footnote 3 Zum anderen hat Marx, wo es ihm politisch geboten erschien, normative Fragen auch explizit reflektiert – zumeist, indem er Metaethik und Sozialtheorie miteinander verband.

Im Anschluss an die Neubegründung der politischen Philosophie durch Rawls (1971) haben anglo-amerikanische Philosoph*innen die normativen Gehalte des marxschen Werkes in den 1970er und 80er Jahren intensiv diskutiert. Eine zentrale Frage lautete dabei, ob Marx die kapitalistische Produktionsweise als ungerecht kritisiert, oder ob seine (ethische) Kapitalismuskritik Gerechtigkeit als Kritikfigur verabschiedet.Footnote 4 Die gerechtigkeitsskeptische Perspektive, die maßgeblich von Alan Wood, Richard Miller und Steven Lukes vertreten wurde, konnte anführen, dass Marx es ausdrücklich ablehnt, kapitalistische Ausbeutung als ungerecht zu kritisieren.Footnote 5 Marx habe vielmehr einen Kontextualismus vertreten, der die Geltung von Gerechtigkeitsprinzipien davon abhängig macht, ob sie der jeweils dominanten Produktionsweise „adäquat“ sind.Footnote 6 Nach Alan Wood (2004 [1981]) hat Marx den Kapitalismus daher nicht anhand von „moral values“ wie Gerechtigkeit und Gleichheit kritisiert, sondern auf der Grundlage von „non-moral values“ wie Freiheit, Entfaltung oder Gemeinschaft. Statt einer „morality of Recht“ finde sich bei Marx, so die zentrale Unterscheidung von Steven Lukes (1985), eine „morality of freedom“.

Demgegenüber haben u. a. G.A. Cohen und Norman Geras darauf verwiesen, dass es bei Marx verschiedene Perspektiven auf die kapitalistische Ausbeutung gibt: Während an der „Oberfläche“ der Zirkulation die Rechtsansprüche der Warenbesitzer*innen – im Idealfall – erfüllt sind und „Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham“ (MEW 23, 185) herrschen, habe Marx die Tiefenstruktur des kapitalistischen Produktionsprozesses sehr wohl als ungerecht kritisiert. In der darauf bezogenen Rede von „unbezahlter Arbeit“ (ebd., 556) oder „Gratisarbeit“ (ebd., 330), welche die Produzent*innen für die Kapitalist*innen verrichten, bzw. dem „Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht“ (MEW 42, 601, Herv. im Orig.) oder dem „systematischen Raub an den Lebensbedingungen des Arbeiters“ (MEW 23, 449) sei die normative Grammatik der Gerechtigkeit immer schon enthalten. Zwar proklamiere Marx in der Tat einen Produktionsweisenkontextualismus, doch bewerte er dabei Gerechtigkeitsprinzipien als „höher“ und „niedriger“, was auf einen kontextübergreifenden normativen Maßstab verweist. Warum schließlich sollte Marx – deshalb ist diese Unterscheidung unfundiert – „moralische Werte“ stärker kontextualisiert haben als „nicht-moralische“? Die Schlussfolgerung könne daher nur lauten: „Marx did think capitalism was unjust but he did not think he thought so.“ (Geras 1985, 70)

Wie diese Skizze der Debatte verdeutlich, haben beide Seiten gewichtige Argumente für ihre jeweilige Marx-Deutung anzubieten. Wood & Co. haben Recht, wenn sie behaupten, dass Marx sich gegen distributive Gerechtigkeit als Kritikfigur gewendet hat. Cohen, Geras & Co. haben Recht, wenn sie bei Marx Gerechtigkeit als von ihm selbst nicht wahrgenommene Kritikfigur stark machen. Was beide Seiten jedoch miteinander teilen, ist eine Gleichsetzung von Gerechtigkeit mit distributiver Gerechtigkeit. Bei Wood & Co. führt das dazu, dass gar nicht erst danach gefragt wird, was Gerechtigkeit bei Marx jenseits distributiver Gerechtigkeit bedeuten könnte. Cohen & Co. haben spiegelverkehrt Marxens Kritik an freistehenden Gerechtigkeitsvorstellungen heruntergespielt und distributive Gerechtigkeit derart ausgedehnt, dass z. B. auch „unjust economic relations“ (Geras 1992, 68) in ihren Geltungsbereich fallen. Ein Ausweg aus dieser Sackgasse, in der sich die Debatte um Gerechtigkeit bei Marx verfangen hatte, besteht darin, Iris Marion Youngs Kritik des „distributiven Paradigmas“ der Gerechtigkeitstheorie zu folgen.Footnote 7

In der finalen Fassung ihrer Kritik (2006) geht es Young um zweierlei. Zum einen um einen normativen Primat sozialer Strukturen und Prozesse über Güterverteilungen. Der (primäre) Gegenstand der Gerechtigkeitstheorie ist die „Grundstruktur“ der Gesellschaft; Güterverteilungen sind dann gerecht, wenn sie einer gerechten Grundstruktur entsprechen. Soweit bereits Rawls (1971 und 2001).Footnote 8 Was Rawls dagegen – zumindest nach Young – versäumt hat, ist den nicht-distributiven Gerechtigkeitsproblemen der Grundstruktur ein hinreichend großes Gewicht einzuräumen bzw. sie klar von der Frage der Herleitung gerechter Verteilungsstandards abzugrenzen. Young hat vor allem drei nicht-distributive Gerechtigkeitsprobleme im Blick: 1) hierarchische Arbeitsteilung, d. h. wie die zu verteilenden Tätigkeiten definiert sind und in was für einem Verhältnis sie zueinanderstehen; 2) die Kontrolle von Entscheidungsmacht; 3) etwas, das sie „Normalisierung“ (2006, 959) bezeichnet, nämlich die Aufzwingung von hegemonialen Normen und Standards, deren Nicht-Erfüllung Stigmatisierungen und Ausschlüsse nach sich zieht.

Youngs Kritik des distributiven Paradigmas ist in der politischen Philosophie der Gegenwart vor allem von Autor*innen aufgenommen worden, die auf eine Neubegründung des Gleichheitsdenkens (Egalitarismus) zielen und Konzeptionen einer „demokratischen“, „relationalen“ oder „sozialen Gleichheit“ vertreten. Der relationale Egalitarismus wendet sich gegen Hierarchien und analysiert Bedingungen, unter denen sich Menschen als Gleiche begegnen können.Footnote 9 Die Idee ist, dass Beherrschung, Ausbeutung oder Marginalisierung Ungleichheitsprobleme sind, die sich nicht auf Verteilungsfragen reduzieren lassen.Footnote 10 Dominant ist innerhalb des relationalen Egalitarismus die Auffassung, dass es sich bei diesen Problemen um Gerechtigkeitsprobleme handelt, um die Verletzung von Ansprüchen, zu deren Realisierung Menschen wechselseitig verpflichtet sind. Dabei lassen sich eine starke und eine schwache Variante unterscheiden: Für den starken relationalen Egalitarismus sind Güterverteilungen nur als Elemente und Effekte sozialer (Un‑)Gleichheitsverhältnisse relevant, sie haben keine „relation-independent significance“ (Miklosi 2018, 113, Herv. im Orig.).Footnote 11 Dagegen billigt der schwache relationale Egalitarismus Verteilungsstandards eine eigene normative Relevanz zu, meint jedoch, dass deren Geltungsansprüche von zugrundeliegenden sozialen Verhältnissen (z. B. der „Grundstruktur“ bei Rawls) abhängen (Schemmel 2011).Footnote 12 So sehr der relationale Egalitarismus die philosophische Gleichheitsdiskussion durch seine Kritik an einseitig distributiven Auffassungen, vor allem denjenigen des „luck egalitarianism“, vorangebracht hat, so ist bisher doch offen geblieben, was genau unter relationaler Gleichheit zu verstehen ist. Weitgehende Einigkeit besteht darin, dass es um eine Egalisierung von Machtverhältnissen und Statusordnungen geht. Allerdings wird diese Egalisierung von diversen Autor*innen so aufgefasst, dass Menschen sich wechselseitig als Gleiche behandeln bzw. von Institutionen als solche behandelt werden sollen. Damit jedoch wird relationale Gleichheit in prozedurale überführt und es stellt sich die Frage, ob der relationale Egalitarismus überhaupt einen spezifischen Gegenstand hat.Footnote 13

Youngs Kritik des distributiven Paradigmas eignet sich ganz ausgezeichnet, um die wesentlichen normativen Problemstellungen des marxschen Spätwerkes zu identifizieren. In diesem findet sich zunächst eine ausgeprägte Normalisierungskritik. Das ist die Russian Road, auf der kritisiert wird, dass die Metropole der Peripherie ein bestimmtes Entwicklungsmodell aufzwingt und Abweichungen von diesem Modell als „rückständig“ stigmatisiert. Auf der French Road rückt in der Commune-Schrift das Problem der demokratischen Kontrolle von Entscheidungsmacht in den Vordergrund; die Kritik des Gothaer Programms postuliert einen Primat der Produktion über die Distribution und erklärt die hierarchische Arbeitsteilung zu einer zentralen ethischen Frage. Der relationale Egalitarismus macht es möglich, diese Problemstellungen als solche der Gleichheit zu verstehen. Der späte Marx erscheint aus dieser Perspektive als Vorläufer, wenn nicht gar selbst als relationaler Egalitarist. Allerdings ist die Auseinandersetzung auch umgekehrt weiterführend. Aus der Perspektive des marxschen Werkes ist eine Reduktion relationaler auf prozedurale Gleichheit besonders unplausibel. Statt dessen tritt eine bisher zu wenig berücksichtigte Möglichkeit in den Fokus: nämlich relationale Gleichheit als gleiche Kontrolle über ein gemeinsames Verhältnis zu verstehen (Viehoff 2014) und sie damit gerade nicht auf eine Behandlung als Gleiche zu reduzieren.Footnote 14

Bevor ich dem späten Marx auf der French Road folge, möchte ich noch kurz (und anektdotisch) andeuten, inwiefern auch schon die vorhergehenden Werkabschnitte relational-egalitaristisch orientiert sind. Im Jahr 1843 formuliert der junge Marx den kategorischen Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, 385). Gefordert wird hier keine Gleichverteilung von Gütern, sondern es wird expliziert, wozu soziale Hierarchien Menschen degradieren, und daraus das moralische Gebot abgeleitet, derartige Verhältnisse zu überwinden. Seit 1844 ist es für Marx ein zentrales ethisches Problem, dass sich die (meisten) Menschen unter kapitalistischen Bedingungen in ihren Arbeiten nicht selbstverwirklichen können, wofür er seit der Deutschen Ideologie maßgeblich die hierarchische Arbeitsteilung zwischen konzeptiven und exekutiven Funktionen verantwortlich macht. Dieses Problem ist in der Gegenwartsphilosophie als eines der „kontributiven Gerechtigkeit“ (Gomberg 2007) artikuliert worden, in der das Richtige und das Gute, die Gerechtigkeitstheorie und die perfektionistische Forderung nach Entfaltung ineinander übergehen.Footnote 15 Kontributive Gerechtigkeit verlangt von Menschen, die an einem sozialen Kooperationszusammenhang teilnehmen wollen, dass sie entsprechend ihren Fähigkeiten einen Beitrag leisten. Und sie formuliert an den Kooperationszusammenhang die Anforderung, gleiche Entfaltungsmöglichkeiten für alle bereitzustellen. Marx hat dieses kontibutive Credo im Kommunistischen Manifest zum Grundsatz einer „Assoziation“ verallgemeinert, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (MEW 4, 482). An der Parallelstelle aus dem ersten Kapital-Band ist von „einer höheren Gesellschaftsform“ die Rede, „deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist“ (MEW 23, 618). Hieran knüpft, wie wir sehen werden, die Forderung aus der Kritik des Gothaer Programm an: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (MEW 19, 21).

Wenn sich Marx also als relationaler Egalitarist mit perfektionistisch-kontributiven Obertönen lesen lässt, heißt das nicht, dass Verteilungsfragen in seinem Werkt abwesend wären. Marx argumentiert an vielen Stellen jedoch im Sinn eines starken relationalen Egalitarismus und interessiert sich für Verteilungen nur als Elemente und Resultate bestimmter sozialer Verhältnisse. Im dritten Kapital-Band z. B. wird die sozialistische Gesellschaft als „Stufe“ beschrieben, „wo der Zwang und die Monopolisierung der gesellschaftlichen Entwicklung (einschließlich ihrer materiellen und intellektuellen Vorteile) durch einen Teil der Gesellschaft auf Kosten des andern wegfällt“ (MEW 25, 827). „Wegfall von Zwang“ und „Entmonopolisierung der gesellschaftlichen Entwicklung“ adressieren relationale Gleichheit. Mit den „materiellen und intellektuellen Vorteilen“, deren Neuverteilung die Entmonopolisierung impliziert, kommt auch distributive Gerechtigkeit ins Spiel, allerdings als etwas kausal Abgeleitetes („einschließlich“).

Wie sieht es schließlich mit der Ausbeutung aus, die Marx ja für das zentrale Merkmal von Klassengesellschaften hält? Ist kapitalistische Ausbeutung ungerecht, weil die einen sich das von den anderen produzierte Mehrprodukt einseitig aneignen? Oder ist sie ungerecht, weil die anderen gezwungen sind (gezwungen = es fehlen akzeptable Alternativen), ihre Arbeitskraft an die einen zu verkaufen und sich von diesen zum Zweck der Profitgewinnung instrumentalisieren zu lassen? Die Antwort bei Marx lautet: beides (vgl. Warren 2015). Allerdings ist der distributive Aspekt der Ausbeutung, die ungleiche Aneignung, Ergebnis von sozialen Verhältnissen, die durch die genuin relationalen Übel des Zwangs und der Abhängigkeit gekennzeichnet sind. Marx vertritt auch hier einen starken relationalen Egalitarismus. Dabei unterstreicht sein Zugriff auf Ausbeutung, dass relationale (Un‑)Gleichheit keine Frage der Behandlung als (Un‑)Gleiche ist, sondern eine der (un)gleichen Kontrolle über ein gemeinsames Verhältnis.

2 Demokratische Verantwortlichkeit statt „Staatshierarchie“: Die Pariser Commune

Heute ist es ganz selbstverständlich, vom „demokratischen Staat“ zu sprechen: Nicht nur ist dieser Terminus in zahlreichen Verfassungen verbürgt, er hat sich auch tief in den Common Sense eingeschrieben. Für Marx war eine solche Rede alles andere als selbstverständlich. Für ihn war – seit er im Jahr 1852 den 18. Brumaire des Louis Bonaparte geschrieben hatte – der moderne Staat ein aus der Gesellschaft herausdifferenzierter, verselbständigter Gewaltapparat, der zwecks eigenem ökonomischen Überleben die Kapitalakkumulation am Laufen halten muss, und dabei – je nach historischer Konstellation – von einzelnen Fraktionen der herrschenden Klasse(n) mehr oder weniger stark für partikulare Zwecke benutzt werden kann. Kurz: Statt der Gesellschaft zu dienen, war der moderne Staat für Marx ein Organ der Klassenherrschaft, das als solches der Demokratie entgegensteht.

Marx hatte sich nach der gescheiterten Revolution von 1848 für rund 15 Jahre aus dem politischen Aktivismus zurückgezogen, um sich im Londoner Exil dem Studium der kapitalistischen Produktionsweise (und dem journalistischen Broterwerb) zu widmen. Im Jahr 1864 stolperte er dann eher zufällig in die Gründung der „Internationalen Arbeiter-Assoziation“, auch bekannt als Erste Internationale, hinein, spielte in dieser Organisation jedoch schnell eine zentrale Rolle.Footnote 16 Es war auch die Internationale, für die Marx unter dem Titel Der Bürgerkrieg in Frankreich eine „Adresse“ über die Pariser Commune verfasste. Dieser in kürzester Zeit geschriebene Text – er wurde zwei Tage nach der militärischen Niederschlagung der Commune vom Generalrat der Internationale gebilligt – ist zum einen eine flammende Verteidigungsrede des sozialistischen Sozialexperiments, das nach der französischen Niederlage im Krieg gegen Preußen vom 18.3. bis 28.5.1871 in Paris stattfand. Zum anderen enthält er – anhand einer idealisierten Darstellung der institutionellen Innovationen der Commune – weitreichende demokratietheoretische Überlegungen zur politischen Form einer sozialistischen Gesellschaft.Footnote 17

Für Marx war die Commune, wie es im ersten Entwurf heißt, „die größte Revolution unseres Jahrhunderts“ (MEW 17, 538). Die historische Bedeutung, die er ihr zuschreibt, ist in folgender Sequenz kondensiert: „Die Kommune war eine Revolution gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft; sie war eine Wiederbelebung durch das Volk und des eignen gesellschaftlichen Lebens des Volkes. Sie war nicht eine Revolution, um die Staatsmacht von einer Fraktion der herrschenden Klassen an die andre zu übertragen, sondern eine Revolution, um diese abscheuliche Maschine der Klassenherrschaft selbst zu zerbrechen.“ (Ebd., 541, Herv. im Orig.) Die Revolution der Commune ist nach der Deutung von Marx eine demokratische; sie steht für eine radikalisierte Version von VolkssouveränitätFootnote 18 und politische Gleichheit (das politische Gemeinwesen ist nicht länger eine „Maschine der Klassenherrschaft“). Ganz im Sinn des relationalen Egalitarismus beschäftigt sich Marx hier mit nicht-distributiven Aspekten der gesellschaftlichen Grundstruktur. Es geht um eine Demokratisierung politischer Entscheidungsmacht, um „relations of equal (symmetrical and reciprocal) authority“ (Anderson 2012, 41), wofür die „Beseitigung der Staatshierarchie“ (MEW 17, 544) Voraussetzung ist. Entsprechend unterscheidet Marx zwischen legitimen und illegitimen Staatsfunktionen: „Während es galt, die bloß unterdrückenden Organe der alten Regierungsmacht abzuschneiden, sollten ihre berechtigten Funktionen einer Gewalt, die über der Gesellschaft zu stehn beanspruchte, entrissen und den verantwortlichen Dienern der Gesellschaft zurückgegeben werden.“ (Ebd., 340)

Wenn Marx den Antietatismus der Commune anpreist, ist er zugleich darauf bedacht, ihren politischen Charakter zu unterstreichen: Die Commune war „eine durch und durch ausdehnungsfähige politische Form, während alle früheren Regierungsformen wesentlich unterdrückend gewesen waren. Ihr wahres Geheimnis war dies: Sie war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfes der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.“ (MEW 17, 342)Footnote 19 „Ausdehnungsfähig“ meint hier dreierlei, die Inklusion von ausgeschlossenen Gruppen in den politischen Prozess, eine Politisierung bisher als „privat“ betrachteter sozialer Bereiche sowie eine verstärkte demokratische Kontrolle der Exekutive. In der Deutung von Marx stehen Politik und Gesellschaft einander nicht länger gegenüber, sondern die Commune ist „die politische Form der sozialen Emanzipation“ (ebd., 545, Herv. im Orig.). Anders als in den beiden 1843/44 verfassten Schriften für die Deutsch-Franzöischen Jahrbücher (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung und Zur Judenfrage, MEW 1, 347-391) unterscheidet Marx nicht länger zwischen von der bürgerlichen Gesellschaft herbeigeführter „politischer Emanzipation“ und einer „menschlichen“, die es noch zu erreichen gilt. Stattdessen gibt es nur noch eine Emanzipation, die soziale, auf deren politische Form es ankommt. Werkgeschichtlich unternimmt Marx damit – auf Grundlage der Staatskonzeption des 18.Brumaire – einen Schritt zurück zum im Sommer 1843 verfassten Kreuznacher Manuskript. Dessen zentrale demokratietheoretische These war diejenige der „Demokratie gegen den Staat“ (Abensour 1997), nämlich „daß in der wahren Demokratie der politische Staat untergehe.“ (MEW 1, 232)Footnote 20

Marx hebt an der Commune vor allem eine institutionelle Innovation hervor: radikaldemokratische Verantwortlichkeit, d. h. „Beseitigung der Staatshierarchie überhaupt und Ersetzung der hochfahrenden Beherrscher des Volkes durch seine jederzeit absetzbaren Diener, der Scheinverantwortlichkeit durch wirkliche Verantwortlichkeit, da sie dauernd unter öffentlicher Kontrolle arbeiten.“ (MEW 17, 544) Bemerkenswert ist hier zunächst, von welchen radikaldemokratischen Verfahren Marx nicht spricht: dem Plebiszit und dem imperativen Mandat.Footnote 21 Marx (bzw. der Commune in seiner Deutung) geht es nicht um eine Abschaffung der politischen Repräsentationsbeziehung, sondern um deren demokratische Revolutionierung. Das leistet die Commune durch zwei Einrichtungen: durch permanente Absetzbarkeit der Repräsentierenden sowie durch eine proletarische „Politik der Präsenz“ (Phillips 1995): „Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse.“ (MEW 17, 339) Mit Hanna Pitkin (1967) gesprochen, radikalisiert die Commune zunächst die „formale“ und die „deskriptive Repräsentation“: die erstere, indem Autorisierung und Verantwortlichkeit durch permanente Absetzbarkeit sichergestellt werden; die letztere, indem Repräsentativität, das Einspeisen relevanter Informationen über die Repräsentierten, durch eine mehrheitlich proletarische Identität der Repräsentierenden hergestellt wird.Footnote 22 Für Marx ist „substanzielle Repräsentation“ als politisches Handeln im Interesse der Repräsentierten nur auf Grundlage einer derart veränderten formalen und deskriptiven Repräsentation möglich. Interessanterweise hat die Commune auch dem nach Pitkin vierten Aspekt der demokratischen Repräsentationsbeziehung, der „symbolischen Repräsentation“, ihren Stempel aufgedrückt, nämlich durch distributive Einkommensgleichheit: „Von den Mitgliedern der Kommune an abwärts, mußte der öffentliche Dienst für Arbeiterlohn besorgt werden.“ (MEW 17, 339, Herv. im Orig.)

Permanente Absetzbarkeit der Repräsentierenden ist für Marx der eigentliche Sinn des allgemeinen Wahlrechts.Footnote 23 „Das allgemeine Stimmrecht, bisher entweder für die parlamentarische Sanktion der Heiligen Staatsmacht oder als Spielzeug in der Hand der herrschenden Klassen mißbraucht, vom Volk nur anwendbar, um einmal in vielen Jahren die parlamentarische Klassenherrschaft zu sanktionieren (deren Werkzeuge zu wählen), wird seinem wirklichen Zweck angepaßt: durch die Gemeinden ihre eignen Beamten für Verwaltung und Gesetzgebung zu wählen.“ (MEW 17, 544) Der entscheidende Punkt ist, dass auch der Verwaltungsapparat der demokratischen Kontrolle durch Wahlen unterworfen werden soll. Marx entwickelt auf dieser Grundlage eine Fundamentalkritik der Bürokratie und der ihr inhärenten Hierarchien: Die Commune stehe für eine „Beseitigung der Täuschung, daß Verwaltung und politische Leitung Geheimnisse wären, transzendente Funktionen, die nur den Händen einer ausgebildeten Kaste – Staatsparasiten, hochbezahlten Sykophanten und Sinekuristen in den höheren Stellungen anvertraut werden könnten, die die Gebildeten der Massen aufsaugen und sie in den unteren Stellen der Hierarchie gegen sie selbst kehren.“ (Ebd.) Während Bürokratien Unfehlbarkeit für sich beanspruchen und aus ihrer Tätigkeit ein Geheimnis machen, das „Geheimnis der Herrschaft“, verkörpere die Commune demokratische Fallibilität und Transparenz: „In der Tat, die Kommune machte keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit, wie dies alle die alten Regierungen ohne Ausnahme tun. Sie veröffentlichte alle Reden und Handlungen, sie weihte das Publikum ein in alle ihre Unvollkommenheiten.“ (Ebd., 348)

Hat Marx damit für eine Abschaffung der Gewaltenteilung plädiert? Klar ist, dass die Commune die Trennung von Exekutive und Legislative beseitigt: „Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit.“ (MEW 17, 339) Über die Judikative heißt es dagegen nur: „Die richterlichen Beamten verloren jene scheinbare Unabhängigkeit, die nur dazu gedient hatte, ihre Unterwürfigkeit unter alle aufeinanderfolgenden Regierungen zu verdecken, deren jeder sie, der Reihe nach, den Eid der Treue geschworen und gebrochen hatten. Wie alle übrigen öffentlichen Diener, sollten sie fernerhin gewählt, verantwortlich und absetzbar sein.“ (Ebd.) Marx ging es um eine Demokratisierung auch des Justizwesens. Was er vor Augen hatte, war die Klassenjustiz des 19. Jahrhunderts; die Vorzüge einer (halbwegs) unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit kannte er noch nicht.

Neben der radikaldemokratischen Repräsentationskonzeption sind aus demokratietheoretisch-egalitaristischer Perspektive noch mindestens zwei weitere Aspekte bemerkenswert, die Marx an der Commune hervorhebt. Zum einen ihr Dezentralisierungsimpuls: „Sobald die kommunale Ordnung der Dinge einmal in Paris und den Mittelpunkten zweiten Ranges eingeführt war, hätte die alte zentralisierte Regierung auch in den Provinzen der Selbstregierung der Produzenten weichen müssen.“ (MEW 17, 339) Die Commune sollte „die politische Form selbst des kleinsten Dorfs sein“ (ebd., 340). Zum anderen betont Marx die Entkopplung von politischen Rechten und nationaler Zugehörigkeit, die offensichtlich schon zu seinen Zeiten ein drängendes Problem war: „Als eine Arbeiterregierung, als der kühne Vorkämpfer der Befreiung der Arbeit“, war die Commune, so Marx, „im vollen Sinn des Worts international. […] Zwischen dem durch ihren Verrat verlornen auswärtigen Krieg und dem durch ihre Verschwörung mit dem fremden Eroberer entzündeten Bürgerkrieg hatte die Bourgeoisie Zeit gefunden, ihren Patriotismus durch die Organisation von Polizeijagden auf die Deutschen in Frankreich zu betätigen. Die Kommune machte einen Deutschen zu ihrem Arbeitsminister.“ (Ebd., 346)

Interessanterweise reflektiert Marx nicht erst in der Kritik des Gothaer Programms, sondern bereits in der Commune-Schrift auf das Verhältnis von Produktion und Distribution. „Die Arbeiterklasse weiß“, heißt es im ersten Entwurf in beschwörendem Duktus,

daß sie durch verschiedene Phasen des Klassenkampfes hindurch muß. Sie weiß, daß die Ersetzung der ökonomischen Bedingungen der Sklaverei der Arbeit durch die Bedingungen der freien und assoziierten Arbeit nur das progressive Werk der Zeit sein kann […], daß sie nicht nur eine Veränderung der Verteilung erfordern, sondern auch eine neue Organisation der Produktion, oder besser die Befreiung (Freisetzung) der gesellschaftlichen Formen der Produktion in der gegenwärtigen organisierten Arbeit (erzeugt durch die gegenwärtige Industrie) von den Fesseln der Sklaverei, von ihrem gegenwärtigen Klassencharakter, und ihre harmonische nationale und internationale Koordinierung. (MEW 17, 546)

Eine „Veränderung der Verteilung“ wird hier als notwendig, aber nicht hinreichend dargestellt. Sie müsse durch eine „neue Organisation der Produktion“ ergänzt werden, die nicht länger durch Klassenherrschaft gekennzeichnet sei. Diese Stelle lässt sich so lesen, dass die distributive gegenüber der relationalen Gleichheit eine eigene Bedeutung behält. Einen starken relationalen Egalitarismus vertritt Marx an dieser Stelle nicht.

Die Commune-Schrift markiert innerhalb des marxschen Werkes einen ethisch-politischen Lernprozess: „Die Arbeiterklasse“, so heißt es pointiert, „kann nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen.“ (MEW 17, 336) Im zweiten Entwurf war Marx noch weitergegangen und hatte unmittelbar im Anschluss an diesen Satz geschrieben, dass „das politische Werkzeug ihrer Versklavung […] nicht als politisches Werkzeug ihrer Befreiung dienen [kann].“ (Ebd., 592) Marx macht sich hier massiv anarchistische Sichtweisen zu eigen. Und auch im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Kommunistischen Manifest, das ein Jahr später, 1872, erscheint, wird dieser Punkt akzentuiert, indem Marx und Engels das Manifest für „stellenweise veraltet“ (MEW 18, 96) erklären: „Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, daß ‚die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann‘.“ (Ebd.) Engels hat diese Interpretation 1891 nicht nur mit seiner radikaldemokratischen Deutung der „Diktatur des Proletariats“ bekräftigt. Bezogen auf die beiden sozialistischen Strömungen, welche die Commune maßgeblich getragen hatten, Blanquist*innen und Proudhonist*innen, spricht er von einer „Ironie der Geschichte […], daß die einen wie die andern das Gegenteil von dem taten, was ihre Schuldoktrin vorschrieb“ (MEW 17, 622): Die proto-leninistischen Blanquist*innen ordneten ihre putschistische Avantgardekonzeption dem demokratischen Prozess unter; die anarcho-syndikalistischen Proudhonist*innen ließen sich auf die politische Form überhaupt erstmal ein.Footnote 24

3 Relationale Gleichheit, distributive und kontributive Gerechtigkeit

Der nach der Commune-Schrift zweite zentrale ethisch-politische Text des marxschen Spätwerks sind die als Kritik des Gothaer Programms bekannten Randglossen zum Entwurf des sozialdemokratischen Vereinigungsprogramms, die Marx 1875 verfasste. Auf dem Parteitag in Gotha schlossen sich Ende Mai desselben Jahres die von Marx und Engels geprägte Sozialistische Arbeiterpartei, die „Eisenacher“, und der von Ferdinand Lassalle gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein zusammen. Marx war mit dem Programmentwurf ob seiner Zugeständnisse an die Lassalleaner*innen überhaupt nicht einverstanden. Hauptsächlicher Stein seines Anstoßes war die prominent platzierte lassalleanische Forderung nach einem „unverkürzten Arbeitsertrag“, den die Arbeiter*innen als Lohn erhalten sollten.Footnote 25 Für Marx ist diese Forderung zum einen Anlass, grundsätzlich auf das Verhältnis zwischen Einkommensverteilung und Produktion zu reflektieren. Zum anderen rekonstruiert er den „unverkürzten Arbeitsertrag“ als Prinzip distributiver Leistungsgerechtigkeit, diskutiert dessen normativen Defekt und schlägt alternativ einen Standard vor, der kontributive und distributive Gerechtigkeit miteinander verbindet: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (MEW 19, 21) Wir sind hier immer noch bzw. mehr denn je auf der French Road, denn Marx kommt mit der Gegenüberstellung der Verteilungsprinzipien von Leistung und Bedürfnis auf die ethisch-politischen Debatten zurück, welche die französischen Sozialist*innen in den 1830er und 40er Jahren führten: Er bezieht Partei für Etienne Cabet, Théodore Dézamy und Louis Blanc in deren Gegnerschaft zur „natürlichen Aristokratie“ des Saint-Simonismus und schlägt vor, die „two major principles of social justice that rose to prominence in the nineteenth century – the principle of desert and the principle of need“ (Johnston 2011, 187) in unterschiedlichen Durchsetzungsgraden relationaler Gleichheit zu kontextualisieren.

Für Marx ist die Forderung nach „unverkürztem Arbeitsertrag“ eine „lose Vorstellung, die Lassalle an die Stelle bestimmter ökonomischer Begriffe gesetzt hat.“ (MEW 19, 18) Sie beruht auf einem falschen Verständnis distributiver Gerechtigkeit: „Was ist ‚gerechte‘ Verteilung? Behaupten die Bourgeois nicht, daß die heutige Verteilung ‚gerecht‘ ist? Und ist sie in der Tat nicht die einzige ‚gerechte‘ Verteilung auf Grundlage der heutigen Produktionsweise? Werden die ökonomischen Verhältnisse durch Rechtsbegriffe geregelt, oder entspringen nicht umgekehrt die Rechtsverhältnisse aus den ökonomischen?“ (Ebd.) Wogegen Marx sich hier wendet, ist eine verselbständigte Diskussion distributiver Gerechtigkeitsprinzipien, also das, was Rawls als „allokative Gerechtigkeit“ ablehnt.Footnote 26 Alternativ dazu macht er einen Produktionsweisenkontextualismus der Distribution von Konsumgütern stark: Prinzipien der Einkommens‑/Konsumgüterverteilung haben eine eigene normative Relevanz, ihre Geltung hängt aber davon ab, ob sie der jeweils herrschenden Produktionsweise entsprechen. Marxens Argumentation kommt an dieser Stelle einem schwachen relationalen Egalitarismus nahe, der Verteilungen nicht rein instrumentell versteht.

Marx spitzt diesen Punkt nochmals zu, indem er eine zweite Verteilung, diejenige der Produktionsmittel, ins Spiel bringt. Es sei

überhaupt fehlerhaft, von der sog. Verteilung Wesens zu machen und den Hauptakzent auf sie zu legen. Die jedesmalige Verteilung der Konsumtionsmittel ist nur Folge der Verteilung der Produktionsbedingungen selbst; letztere Verteilung aber ist ein Charakter der Produktionsweise selbst. Die kapitalistische Produktionsweise z. B. beruht darauf, daß die sachlichen Produktionsbedingungen Nichtarbeitern zugeteilt sind unter der Form von Kapitaleigentum und Grundeigentum, während die Masse nur Eigentümer der persönlichen Produktionsbedingung, der Arbeitskraft, ist. Sind die Elemente der Produktion derart verteilt, so ergibt sich von selbst die heutige Verteilung der Konsumtionsmittel. Sind die sachlichen Produktionsbedingungen genossenschaftliches Eigentum der Arbeiter selbst, so ergibt sich ebenso eine von der heutigen verschiedne Verteilung der Konsumtionsmittel. (MEW 19, 22)

Die gerechtigkeitstheoretisch entscheidende Frage richtet sich auf diese zweite Verteilung der Produktionsmittel: Wird der distributive Egalitarismus an dieser Stelle rehabilitiert? Marxens Antwort ist ein klares Nein: Die Verteilung der Produktionsmittel ist „ein Charakter der Produktionsweise selbst“, ihre Relevanz ist „relation dependent“, sie ist rein instrumentell.Footnote 27 Gegen Ansätze allokativer Gerechtigkeit verwendet Marx ein sarkastisches Bild: „Es ist, als ob unter Sklaven, die endlich hinter das Geheimnis der Sklaverei gekommen und in Rebellion ausgebrochen, ein in veralteten Vorstellungen befangener Sklave auf das Programm der Rebellion schriebe: Die Sklaverei muß abgeschafft werden, weil die Beköstigung der Sklaven im System der Sklaverei ein gewisses niedriges Maximum nicht überschreiten kann!“ (MEW 19, 26)

Auf Grundlage seines Produktionsweisenkontextualismus unterscheidet Marx drei Gerechtigkeitsstandards der Verteilung von Einkommen/Konsumgütern: rechtmäßige Aneignung, Leistung und Bedürfnis. Der erste Standard bleibt in der Kritik des Gothaer Programms weitgehend implizit. Er ist derjenige, der dem Kapitalismus adäquat ist: Die Einkommensverteilung ist den Kräften des Marktes und der privaten Verfügungsgewalt über Produktionsmittel überlassen. Distributive Gerechtigkeit reduziert sich auf prozedurale, auf die Frage, ob Arbeitsverträge rechtmäßig sind – ein Punkt, den Marx mit den libertären Eigentumstheorien im Anschluss an Locke teilt. Dagegen werden die beiden anderen Standards in der Kritik des Gothaer Programms zumindest skizzenhaft diskutiert: Sie entsprechen verschiedenen Phasen des Sozialismus/Kommunismus (Tabelle 1).

Tabelle 1 Prinzipien der Einkommens‑/Konsumgüterverteilung im marxschen Produktionsweisenkontextualismus

Eine Einkommensverteilung gemäß dem Leistungsprinzip, d. h. Leistungsgerechtigkeit, ist für Marx nur unter sozialistischen Bedingungen möglich, da es hier keine Klasse von Produktionsmittelbesitzer*innen mehr gibt, die sich das Mehrprodukt einseitig aneignen. Der „Arbeitsertrag“, den die Produzent*innen als Einkommen erhalten, ist dabei allerdings keineswegs „unverkürzt“, sondern es müssen eine Reihe von Abzügen gemacht werden.Footnote 28 „Erst jetzt“, nachdem der „Arbeitsertrag“ sich erheblich „verkürzt“ hat, schreibt Marx, „kommen wir zu der ‚Verteilung‘, die das Programm, unter Lassalleschem Einfluß, bornierterweise allein ins Auge faßt, nämlich an den Teil der Konsumtionsmittel, der unter die individuellen Produzenten der Genossenschaft verteilt wird.“ (MEW 19, 19) Marx protestiert hier nicht nur dagegen, Produktion und Distribution voneinander zu trennen, sondern er wendet sich auch gegen ein „borniertes“ Verständnis distributiver Gerechtigkeit, in dem das einzige Distribuendum das Einkommen ist. Anhand welcher Prinzipien andere Distribuenda wie Bildungsmöglichkeiten oder Gesundheitsversorgung zu verteilen sind, darüber schweigt er sich aus. Wir können jedoch – zugegebenermaßen spekulativ – annehmen, dass die Antwort für Marx so evident war, dass er nicht einmal die entsprechende Frage gestellt hat: In einer sozialistischen Gesellschaft werden Bildungsmöglichkeiten und Gesundheitsversorgung von Anfang an gleich bzw. nach Bedürfnis verteilt. Wenn diese Spekulation gerechtfertigt ist, dann war Marx – zumindest im Fall der ersten Phase der sozialistischen Gesellschaft – gerechtigkeitstheoretisch nicht nur Kontextualist, sondern auch Pluralist: Es gibt zwei verschiedene Verteilungsprinzipien, Leistung und Gleichheit/Bedürfnis, die für unterschiedliche Güter gelten.Footnote 29

Wie beschreibt Marx nun die erste Phase des Sozialismus mit seiner Einkommensverteilung anhand von Leistung?

Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eignen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt. Demgemäß erhält der einzelne Produzent – nach den Abzügen – exakt zurück, was er ihr gibt. Was er ihr gegeben hat, ist sein individuelles Arbeitsquantum. Z. B. der gesellschaftliche Arbeitstag besteht aus der Summe der individuellen Arbeitsstunden. Die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstags, sein Anteil daran. Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, daß er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich viel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück. (MEW 19, 20, Herv. im Orig.)

Konsumgüterverteilung nach Leistung bedeutet: Jede Produzentin* erhält exakt das zurück, was sie* zum gesellschaftlichen Kooperationszusammenhang beigetragen hat. Marx zufolge werden bei derartiger Leistungsgerechtigkeit Äquivalente nicht mehr nur – wie im Kapitalismus – der Form nach, sondern auch dem Inhalt nach getauscht.

Warum herrscht nun in dieser ersten Phase keine Einkommensgleichheit, was Marx ja – wie wir gesehen haben – an der Pariser Commune gerade gerühmt hat? Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn die relationalen Voraussetzungen der ersten Phase in Betracht gezogen werden. Marx hat sich dazu allerdings nur ex negativo geäußert, als etwas, das in der zweiten Phase nicht mehr vorhanden ist:

In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen! (MEW 19, 21)

Die erste Phase des Sozialismus, so lässt sich dieser Passage entnehmen, zeichnet sich dadurch aus, dass nur eine Form relationaler Ungleichheit überwunden ist, klassenspezifische Ausbeutung, nicht jedoch die hierarchische Arbeitsteilung mit ihrer „Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit“ (Tabelle 2). Zudem sind ihre Arbeitsverhältnisse instrumentell (und vermutlich auch kompetitiv) verfasst (Arbeit ist noch nicht „erstes Lebensbedürfnis“). Für solche Verhältnisse aber ist nicht Gleichheit, sondern Leistung das normativ angemessene Prinzip der Konsumgüterverteilung (Miller 1999).

Tabelle 2 Relationale Ungleichheit im Sozialismus

Marx billigt damit dem Saint-Simonismus eine partielle, d. h. auf die erste Phase des Sozialismus bezogene Berechtigung zu. Saint-Simon und seine Anhänger*innen hatten in den 1820er und 30er Jahren versucht, dem französischen Sozialismus eine strikt meritokratische Orientierung zu geben. „In der Gesellschaftsordnung der Zukunft“, heißt es in der Doctrine de Saint-Simon, wird „jeder nach seinen Fähigkeiten eingestuft (franz: placer) und nach seinen Werken entlohnt (franz: remunérer) werden.“ (Bazard et al. 1962 [1829] 111, korr. Übers., Herv. im Orig.) Und der Slogan für diese Entlohnung lautet: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jede Fähigkeit nach ihren Werken“ (ebd., 103). Innerhalb der hierarchischen Arbeitsteilung sollen Menschen nach ihren Fähigkeiten „platziert“ werden, wobei differenzielle Fähigkeiten und die aus ihnen entspringenden differenziellen Leistungen eine unterschiedliche Entlohnung rechtfertigen.

Interessanterweise begnügt sich Marx an dieser Stelle nicht damit zu sagen: Mit den Verhältnissen ändern sich die Prinzipien, sondern er unternimmt eine genuin normative Kritik der Leistungsgerechtigkeit.

Das Recht der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen proportionell; die Gleichheit besteht darin, daß an gleichem Maßstab, der Arbeit, gemessen wird. Der eine ist aber physisch oder geistig dem andern überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann während mehr Zeit arbeiten; und die Arbeit, um als Maß zu dienen, muß der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt werden, sonst hörte sie auf, Maßstab zu sein. Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn […]. Ferner: Ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht; einer hat mehr Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre etc. Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein. (MEW 19, 20 f., Herv. im Orig.)

Diese Stelle lädt zu einem Missverständnis ein. Diesem zufolge war Marx kein Egalitarist, sondern er lehnt das Gleichheitsideal ab, weil es Gleichartigkeit und damit ein Hinwegtrampeln über Differenzen impliziert.Footnote 30 In der Tat nimmt Marx hier eine Gleichsetzung prozeduraler Gleichheit mit identischer Behandlung vor – um diese dann zu problematisieren. Gleiches Recht müsse, um kein Recht der Ungleichheit zu sein, je nach Kontext und Problem zwischen identischer und unterschiedlicher Behandlung changieren. Marx betont an dieser Stelle die Tendenz des modernen Rechts zum Formalismus und ignoriert dessen Potenzial zur Herstellung substanzieller Gleichheit. In einer substanziellen oder materialen Rechtskonzeption ist identische Behandlung jedoch nur ein Instrument prozeduraler Gleichheit. Deren fundamentales Kriterium ist etwas, das Ronald Dworkin (1978, 227) als „treatment as an equal“ bezeichnet hat: „same respect and concern“, gleiche Achtung und Rücksichtnahme. Prozedurale Gleichheit fordert, dass sowohl die identische wie auch die unterschiedliche Behandlung diesem Kriterium genügen.

Doch kommen wir zum eigentlichen Thema zurück, Marxens normativer Kritik der Leistungsgerechtigkeit. Gegen diese wendet er ein, dass sie ein Prinzip der Ungleichheit ist, das Unterschiede belohnt, die sich niemand als Verdienst zurechnen kann: „distributive shares are decided by the outcome of the natural lottery; and this outcome is arbitrary from a moral perspective.“ (Rawls 1971, 74) Aufschlussreich ist diese Stelle in zweierlei Hinsicht: Zum einen zeigt sich hier, dass Marx – wie Kant und Rawls – basale menschliche Gleichheit nicht im Sinn von „natürlicher“, sondern von „moralischer“ Gleichheit versteht (er setzt „ungleiche individuelle Begabungen“ voraus). Zum anderen ist es frappierend zu sehen, dass Marx von den drei klassischen Argumenten gegen Leistungsgerechtigkeit nur das am stärksten normative verwendet, das egalitaristische der Geburtslotterie: Die „natürliche Aristokratie“ der Besten ist moralisch genauso illegitim wie die soziale des Feudalismus. Das Leistungsprinzip ist jedoch auch schon deshalb nicht plausibel, so ließe sich mit Marx selbst sagen, weil die „Produktivkraft der Arbeit“ in erster Linie durch den Grad der gesellschaftlichen Kooperation bestimmt wird und nicht durch individuelle Beiträge. Ferner ist Leistung kein kontextübergreifender Maßstab: Sie setzt immer voraus, dass etwas als Leistung anerkannt, wird und ist daher etwas Abgeleitetes.Footnote 31

Während die erste Phase des Sozialismus der meritokratischen Gerechtigkeit folgt, gilt für die zweite Phase der Grundsatz: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinem Bedürfnis!“ (MEW 19, 21) Marx knüpft hier an Louis Blanc an, der 1851 gefordert hatte „De chacun selon ses moyens, à chacun selon ses besoins“ bzw. an das Titelblatt von Cabets 1840 erschienener Reise nach Ikarien, auf dem gestanden hatte: „À chacun suivant ses besoins. De chacun suivant ses forces.“Footnote 32 Und auch dass dieser Gerechtigkeitsgrundsatz egalitär zu verstehen ist, wird bei Blanc deutlich. Dieser hatte 1850, in der 9. Auflage seiner Organisation du travail geschrieben: „L’égalité n’est donc que la proportionnalité, et elle n’existera d’une manière véritable que lorsque chacun […] produira selon ses facultés et consommera selonn ses bésoins.“ (Zitiert nach Rawls 1974, 654, Herv. im Orig.)Footnote 33 Wird der Grundsatz von Cabet, Blanc und Marx mit demjenigen der Saint-Simonist*innen („Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Werken“) verglichen, dann fällt auf, dass kontributive und distributive Gerechtigkeit auseinandertreten und dass erstere relational-egalitär gewendet wird. Distributiv werden die Menschen nicht mehr nach ihren Leistungen entlohnt, sondern sie bekommen das, was sie brauchen. Kontributiv wird weiterhin erwartet, dass sie sich gemäß ihren Fähigkeiten in den gesellschaftlichen Kooperationszusammenhang einbringen. Aber sie werden darin nicht mehr autoritär platziert, da es keine hierarchische Arbeitsteilung mehr gibt. Die kontributive Seite impliziert dabei auch: Alle sollen sich frei und gleich entfalten können.

Marx und die egalitären französischen Sozialist*innen teilen die perfektionistische Annahme, dass Gleichheit in Fragen des guten Lebens nicht neutral sein kann. Vielmehr konkretisiert sie sich in Gemeinschaften, in denen Menschen wechselseitig füreinander sorgen, d. h. die Bedürfnisse der anderen reflexiv in Betracht ziehen.Footnote 34 Erst in solchen Gemeinschaften sind die sozialen Verhältnisse nicht nur egalitär, sondern auch nicht-instrumentalistisch verfasst und erst unter solchen Bedingungen kann Arbeit „zum ersten Lebensbedürfnis“ werden (in meiner Arbeit verwirkliche ich mich, indem ich für die anderen sorge). Kurz: Für Marx sind relationale Gleichheit/Gerechtigkeit und Aufhebung von Entfremdung in z. B. „Resonanz“ (Rosa 2016) zwei Seiten ein und derselben emanzipatorischen Medaille. Das hat Auswirkungen auf den Stellenwert distributiver Gerechtigkeit. Wenn zur Entfremdung eine „Verkehrung“ in der Relevanzordnung von „Haben“ und „Sein“ (MEW 40, 540) gehört, dann ist davon auszugehen, dass unter Bedingungen relationaler Gleichheit Fragen distributiver Gerechtigkeit weniger wichtig werden. Das Problem „fairer Anteile“ verliert seine alles überragende Bedeutung: Statt sich vorzurechnen, wie viel ihnen gerechterweise zusteht, begegnen sich die Menschen mit einer Disposition der Sorge und der Großzügigkeit (vgl. Scheffler 2015). Distributive Gerechtigkeit geht (vielleicht nicht vollständig, aber doch weitgehend) in relationaler Gleichheit auf. Je mehr relationale Gleichheit wir haben, desto plausibler wird der starke relationale Egalitarismus, der distributiver Gerechtigkeit eine eigenständige normative Kraft abspricht.

Zum Schluss möchte ich noch auf einen Deutungsvorschlag eingehen, der sich von meiner Rekonstruktion unterscheidet. Er lautet: Die Pointe von Marx besteht gerade darin, dass er nicht über Gleichheit und Ungleichheit räsoniert, sondern Ross und Reiter beim Namen nennt. Es geht um die Überwindung von Klassenherrschaft und Ausbeutung in der Perspektive der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft, in welcher der ökonomische Zusammenhang demokratisch kontrolliert wird. Schließlich heißt es auch in der Kritik des Gothaer Programms: „Anstatt der unbestimmten Schlußphrase des Paragraphen, ‚die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit‘, war zu sagen, daß mit der Abschaffung der Klassenunterschiede von selbst alle aus ihnen entspringende soziale und politische Ungleichheit verschwindet.“ (MEW 19, 26) Ich lese diese Stelle nicht als Absage an philosophische Überlegungen zu Gleichheit und Ungleichheit, sondern als Aufforderung zu ihrer klassenspezifischen Konkretisierung. Marx betont dabei völlig zu Recht, dass es einen starken Zusammenhang zwischen verschiedenen Formen der Klassenungleichheit gibt. Was an ihre Stelle treten soll, ist jedoch keineswegs ausgemacht. Vielmehr bedürfen die alternativen sozialistischen Institutionen einer egalitaristischen Reflexion. Wie eine solche aussehen kann, hat Marx in der Schrift über die Pariser Commune vorgeführt.

4 Fazit

Ich habe in diesem Text ein doppeltes Ziel verfolgt: Zum einen wollte ich zeigen, dass es im marxschen Spätwerk nicht nur eine Russian Road, sondern auch eine French Road gibt, auf der Marx die Theorie und Praxis des französischen Sozialismus reflektiert. Beide Straßen laufen aufeinander zu und entfernen sich dabei immer weiter von geschichtsteleologischen Tendenzen, die es im marxschen Werk auch gibt. Zum anderen habe ich die Steine, mit denen die French Road philosophisch gepflastert ist, die radikale Gleichheitskonzeption, einer Analyse unterzogen. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Egalitarismusdiskussion lässt sich das marxsche (Spät‑)Werk als Plädoyer für relationale Gleichheit lesen. Marx war ein Kontextualist, der die normative Kraft von Gerechtigkeitsprinzipien auf soziale Verhältnisse (Produktionsweisen) zurückführt. Zugleich war er jedoch auch ein Universalist, für den Gleichheit ein kontextübergreifender Maßstab ist, um soziale Verhältnisse und Distributionen zu beurteilen. Für ihn zeichnete sich eine sozialistische Gesellschaft der Gleichen dadurch aus, dass sie Entscheidungsmacht konsequent demokratisiert und egalitäre Produktionsverhältnisse schafft, auf deren Grundlage Selbstverwirklichungsmöglichkeiten und Fürsorgepflichten ausbalanciert werden können. Die Pointe von Marxens relationalem Egalitarismus besteht dabei in einer historischen Relativierung von distributiver Gerechtigkeit: Je egalitärer die sozialen Verhältnisse eingerichtet sind, desto weniger wichtig wird ihm zufolge das (Gleichviel‑)Haben.

Wenn die gegenwärtige Egalitarismusdiskussion dabei helfen kann, das marxsche (Spät‑)Werk besser zu verstehen, lässt sich umgekehrt auch fragen, was Marx zu dieser Debatte beizutragen hat. Konzeptionell ist bislang ungeklärt, wie relationale Gleichheit genau zu fassen ist. Von Marx aus betrachtet erscheint es weiterführend, die Konzeption der gleichen Kontrolle auszuarbeiten. Für ihn ging es nicht darum, dass die Ausbeutenden die Ausgebeuteten als Gleiche behandeln, sondern Verhältnisse der Ausbeutung sollten in solche der gleichen Kontrolle über die Produktionsbedingungen überführt werden. Eine weitere Frage ist, worin sich die marxsche Position vom heutigen liberalen Egalitarismus unterscheidet. Nach Jonathan Wolff (2010) zeichnet sich dieser durch vier Fehlentwicklungen aus: eine neutralistische Abkehr von der Frage der guten Gesellschaft, eine Ignoranz gegenüber den Produktionsverhältnissen, eine obsessive Beschäftigung mit dem Haben sowie ein von der libertären Rechten übernommener Verantwortungsfetischismus.Footnote 35 Und es lässt sich noch ein fünfter Punkt hinzufügen, der auch Wolff selbst trifft: das beinahe grenzenlose Vertrauen in den Staat als Stiftungsinstanz von Gerechtigkeit. Nach dem vorliegenden Text dürfte klar sein, dass Marx zu allen fünf Problemen nach wie vor interessante Gegenentwürfe anzubieten hat. Diese sind auch für den gegenwärtigen relationalen Egalitarismus relevant und zwar genau dort, wo er davor zurückschreckt, seine radikale Kritik an Hierarchien auf die kapitalistische Produktionsweise und den modernen Staat zu beziehen.