1 Einleitung: die moralische Frage

Die öffentliche Debatte kocht, die Ethik schweigt. Der Streit um gendergerechte Sprache füllt die Feuilletons und Kommentarspalten, er erhitzt die Gemüter, er führt zu scharfen Polemiken und harten Vorwürfen. An der Debatte beteiligen sich längst nicht nur Feministinnen und Fachleute aus Linguistik und Kommunikationswissenschaft. Intellektuelle unterschiedlicher Couleur erheben ihre Stimme, Politiker und Politikerinnen werfen sich für gendergerechte Sprache in die Bresche oder fordern ihr gesetzliches Verbot, und ungezählte BürgerInnen in sozialen Medien toben, wüten, schimpfen. Nur von Seiten der philosophischen Ethik hört man so gut wie nichts.

Ist die Antwort auf die Frage nach gendergerechter Sprache so eindeutig, dass das ethische Engagement nicht lohnt? Doch selbst wenn diese Antwort eindeutig wäre, stände es der Ethik gut zu Gesicht, sie auf den Punkt zu bringen und zu begründen und sich so mit ihrem normativ-analytischen Handwerkszeug für den öffentlichen Diskurs nützlich zu machen. Ich meine, dass die polemiklastige öffentliche Debatte von der aufklärerischen Leistung einer ethischen Analyse sogar erheblich profitieren könnte.

Einen solchen Beitrag zur Debatte will ich hier leisten, indem ich der Frage nachgehe: Sind wir moralisch verpflichtet, eine gendergerechte Sprache zu verwenden?

Die Frage stellt sich natürlich nur dann, wenn das Ziel, dem gendergerechtes Sprechen und Schreiben dienen soll, moralisch richtig ist: die Gleichstellung der Geschlechter. Genauer gesagt ist das Ziel eine Gleichstellung, die nicht nur in formaler Gleichberechtigung aller Menschen ungeachtet ihrer Geschlechtszugehörigkeit besteht, sondern in tatsächlicher Gleichbehandlung, gleichen Zugangschancen zu allen sozialen Positionen und – darum geht es hier vor allem – in gleicher gesellschaftlicher Sichtbarkeit von Frauen und Männern. Dieses Ziel dürfte allerdings im Westen weitgehend unstrittig sein, auch unter den meisten Gegnern gendergerechter Sprache. Ich werde es hier jedenfalls nicht eigens diskutieren, sondern setze es als selbstverständlich richtig voraus. Damit konkretisiert sich die Frage: Ist die gendergerechte Sprache für dieses Ziel notwendig oder hinreichend oder leistet sie zumindest einen bedeutsamen Beitrag?

Ein Zweifel könnte sich melden: Ist es überhaupt angemessen, beim Thema gendergerechte Sprache nach Moral und moralischer Pflicht zu fragen? Darin stecken zwei Fragen. Die erste Frage ist die grundlegende: Darf Sprache überhaupt nach moralischen Gesichtspunkten beurteilt werden? Das wird vor allem von manchen Kritikern gendergerechter Sprache bezweifelt. Josef Bayer etwa hält die Frage für sinnlos und meint, man könne dann auch fragen, ob „das Verdauungssystem gerecht oder ungerecht ist“ (Bayer 2020; vgl. Payr 2021, 115 f.).Footnote 1

Doch der Vergleich hinkt. Magen und Darm handeln nicht, sie funktionieren lediglich (oder auch nicht). Mit der Sprache aber handeln wir. Zwar handelt die Sprache nicht als solche, sie ist kein Subjekt. Auch hat sich niemand die Sprache ausgedacht, sie ist gewachsen. Aber Sprechen und Schreiben sind Handlungen, und solche sprachlichen Handlungen können wir nach moralischen Gesichtspunkten beurteilen (vgl. Stefanowitsch 2018, 21). Wir tun es auch unentwegt. Schon wenn wir uns über den Zuruf „Blöde Kuh!“ empören, beginnt die moralische Beurteilung. Nicht nur Beleidigungen, sondern auch Diffamierungen, Lügen, Euphemismen und Verzerrungen beurteilen wir moralisch. Dasselbe gilt für die positiven Gegenstücke wie wahrhaftiges, sachliches Sprechen usw., nur dass uns unsere Billigung meist nicht so auffällt wie unsere Entrüstung. Diese moralischen Beurteilungen betreffen zumeist nur einzelne Sprechakte? Stimmt. Aber es ist kein guter Grund erkennbar, warum wir zwar einzelne Sprechakte und die in ihnen gebrauchten Ausdrücke, nicht aber sprachliche Strukturen moralisch beurteilen können sollten. Auch mit ihnen handeln wir, und zwar dauernd.

Die zweite zweifelnde Frage ist spezieller: Ist es richtig, beim Thema gendergerechte Sprache eine moralische Pflicht ins Spiel zu bringen? Die Sorge könnte sein, dass damit eine nicht vorhandene Position konstruiert, ein normativer Pappkamerad aufgebaut wird, der sich anschließend leicht abschießen lässt. Oder die Frage nach einer moralischen Pflicht könnte bereits als falsche Weichenstellung wahrgenommen werden, die uns in die Sphäre der Polemik führt, von der die öffentliche Diskussion so voll ist („Sprechverbote“, „Gedankenpolizei“, „Moralkeule“).

Auch diese Sorgen gehen fehl. Denn Moral ist nicht gleich Moralpolemik. Und dem Streben nach einer gendergerechten Sprache liegt durchaus die Annahme zugrunde, dass wir uns solch einer Sprache bedienen sollen. Menschen, die von sich aus gendergerecht sprechen und schreiben, tun dies ja nicht, weil es so hübsch ist oder weil es leichter fällt als die Standardsprache zu nutzen. Sie tun es, weil sie es für erforderlich halten. Regierungen fordern Hochschulen zum Gebrauch gendergerechter Sprache auf (z.B. in Baden-Württemberg), Gutachter*innen verlangen es von Autor*innen, und manche Verlage und Zeitschriften bestehen ebenso darauf. All das geschähe nicht, wenn die Akteur*innen es nicht für eine berechtigte Forderung hielten. Und diese Forderung ist moralischer Art. Was sonst? Weder das Recht noch die Grammatik noch die Ästhetik fordern das „Gendern“.

Schon der Begriff „gendergerechte Sprache“ transportiert die moralische Forderung unzweideutig. Was gerecht ist, ist keine Sache des persönlichen Geschmacks, sondern begründet moralische Pflichten. Ähnliches gilt für den Alternativausdruck „gendersensible Sprache“. Eine solche Sprache soll ja nicht auf absonderliche persönliche Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen, sondern eine Sensibilität zum Ausdruck bringen, die wir einander schulden. Auch der Begriff „diskriminierungsfreie Sprache“ lässt für Zweifel am normativen Anspruch keinen Platz. Menschen zu diskriminieren, stellen wir nicht dem persönlichen Belieben anheim, sondern ist moralisch unzulässig.

Mit der Frage nach einer moralischen Pflicht wird also keineswegs ein Fremdkörper in die Debatte eingeschleust. Ganz im Gegenteil, die Annahme einer solchen Pflicht steht in ihrem Zentrum, wenn auch oft unausgesprochen.Footnote 2 Es geht ja nicht darum, ob die Befürworter*innen so sprechen dürfen. Natürlich dürfen sie das. Sondern es geht darum, ob wir alle so sprechen sollen. Sonst wäre der Charakter dieser Debatte gar nicht verständlich, weder die Vehemenz vieler Befürworter*innen noch die harsche Reaktion vieler Gegner. Denn was diese Gegner in Rage bringt, ist die normative Erwartung, die mit der Annahme einer moralischen Pflicht im Raum steht. Bloße Unbeliebtheit kann die heftige Ablehnung nicht erklären. Der sächsische Dialekt ist auch unbeliebt (außerhalb von Sachsen, versteht sich), aber dass Menschen so sprechen, wird selbstverständlich akzeptiert. Die Haltung wäre völlig anders, wenn wir uns der Erwartung ausgesetzt sähen, wir alle müssten sächseln.

Die moralische Frage in den Vordergrund zu rücken, macht die Debatte nicht nur verständlicher, sondern verändert sie auch. Zwar nicht komplett; auch im Folgenden werden bekannte Argumente auftauchen. Doch sie werden teilweise ins rechte Licht gerückt. Dabei entpuppt sich manch vermeintlich schlagkräftiges Argument als zahnloser Tiger, wie etwa der oft vorgebrachte Einwand, manche Varianten gendergerechter Sprache seien sprachnormwidrig (vgl. Eisenberg 2017; Stöber 2021, 11 f.; Glück 2020, 994; Moritz 2021). Das mag so sein, ist für die Frage nach dem moralisch Gebotenen jedoch unerheblich. Die Frage ist ja gerade, ob sich die Sprachnorm ändern soll. Gegen die Änderung eines geltenden Gesetzes lässt sich auch nicht einwenden, dass es aktuell gilt.

Dasselbe gilt für den häufigen Hinweis darauf, dass die Mehrheit der Bevölkerung gegen gendergerechte Sprache sei (vgl. Glander et al. 2014; Stöber 2021, 19; Payr 2021, 125-131). Auch hier gilt: Mag so sein, ist für die moralische Frage aber nicht von Belang. Was moralisch richtig und falsch ist, entscheidet sich nicht nach Mehrheitsbeschluss. In Russland lehnt eine Mehrheit homosexuelle Beziehungen erwachsener Menschen ab. Das ist auch kein guter Grund dafür, russischen Homosexuellen grundlegende Rechte zu verwehren.

Solche normativen Irrwege finden sich auch auf der anderen Seite des Debattenfeldes. Dazu zählt die Behauptung, es sei „schlicht logisch, dass sich Gleichstellung auch sprachlich bemerkbar macht.“ (Schmollak 2021) Doch die Logik nimmt uns genauso wenig wie die Grammatik die Last ab, das moralisch Richtige und Falsche zu bestimmen. Zeit also, für normative Klarsicht zu sorgen.

Soweit zur Berechtigung und Wichtigkeit der Frage. Bevor ich mich auf die Suche nach einer Antwort mache, muss die Frage noch in dreifacher Weise eingegrenzt werden, damit sie handhabbar ist.

Erstens: Die Debatte um gendergerechte Sprache ist in eine größere Diskussionslandschaft eingebettet, in der es um weitere Probleme von Sprache und Moral geht, um verschiedene Diskriminierungen und Privilegien, um Identitätspolitik und Rassismus, um „politische Korrektheit“ und „cancel culture“. All das blende ich aus. Nicht weil diese Probleme unwichtig sind, sondern weil es sonst unübersichtlich wird. Teilweise stellen sich ähnliche Fragen, teilweise ganz andere. Ich konzentriere mich also um der Klarheit willen allein auf die Frage nach der Pflicht zu gendergerechter Sprache.

Zweitens beschränke ich mich aus naheliegenden Gründen auf die deutsche Sprache. Zwar gelten moralische Pflichten universell, d.h. wenn es eine moralische Pflicht zur gendergerechten Sprache gäbe, dann gälte sie für alle Sprechenden und Schreibenden. Doch Sprachen unterscheiden sich darin, ob sie überhaupt die Kategorie des grammatischen Geschlechts (Genus) kennen, wenn ja welche und wie viele Genera sie haben, an welchen Stellen sie auftauchen und welche Rolle sie in der Sprache spielen. Was es hieße, einer Pflicht zum gendergerechten Sprechen zu unterliegen, bedürfte für jede Sprache einer eigenen Antwort.

Drittens: Im Hinblick auf Gendergerechtigkeit lassen sich verschiedene Aspekte der deutschen Sprache diskutieren. Im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion stehen jedoch Personenbezeichnungen. Die große Streitfrage ist, ob das generische Maskulinum angemessen ist oder zugunsten gendergerechter Formen aufgegeben werden sollte. Darauf beschränke ich mich. Als Formen gendergerechter Sprache gelten Formen der Beidnennung von Frauen und Männern („Studentinnen und Studenten“; „StudentInnen“), der Genderneutralisierung („Studierende“, „Lehrkräfte“) sowie inklusiv gemeinte Formen wie die mit dem Genderstern („Student*innen“).

Sofern ich mich nicht ausdrücklich auf einzelne dieser Formen beziehe, sind sie alle im Folgenden mit „gendergerechter Sprache“ gemeint (auch wenn nur genderneutrale Formen und Personenbezeichnungen mit Genderstern im eigentlichen Sinne als gendergerecht gelten, weil sie auch Menschen mit einer Geschlechtsidentität jenseits des binären Schemas männlich/weiblich repräsentieren). Die marginalen Unterschiede zwischen Genderstern, Unterstrich und Doppelpunkt lasse ich unter den Tisch fallen. Was ich zum Genderstern sage, gilt auch für die anderen Vorschläge, ebenso wie für das Pendant in der gesprochenen Sprache, den Glottisschlag. Der Einfachheit halber spreche ich zumeist nur vom Sprechen, obwohl das Schreiben ebenso gemeint ist.

Wie gehe ich vor? Zunächst stelle ich drei mögliche Argumente für eine moralische Pflicht zur gendergerechten Sprache vor, wovon eines als aussichtsreich gelten kann (2). Dieses Argument hat drei deskriptive Prämissen, die ich in den folgenden drei Abschnitten untersuche. Sie betreffen den Zusammenhang zwischen grammatischem und biologischem/sozialem Geschlecht (3), den Zusammenhang zwischen Sprache und sozialer Wirklichkeit (4) sowie die gleichstellende Kraft gendergerechter Sprache (5). Im Schlussabschnitt bringe ich das Ergebnis auf den Punkt und gebe einen Ausblick (6).

2 Die Argumentation für eine Pflicht zur gendergerechten Sprache

Was spricht für eine moralische Pflicht zur gendergerechten Sprache? Da die moralische Dimension in der Debatte bislang wenig transparent gemacht wird, findet sich kaum eine explizite moralische Argumentation. Ich sehe drei Möglichkeiten. Das erste Argument geht folgendermaßen:

Argument 1

Normative Prämisse: Wir müssen für die gesellschaftliche Gleichstellung von Männern, Frauen und geschlechtlichen Minderheiten sorgen.

Erste deskriptive Prämisse: Um dieses Ziel zu erreichen, ist ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Problematik bislang fehlender Gleichstellung und für deren Notwendigkeit erforderlich.

Zweite deskriptive Prämisse: Gendergerechte Sprache schafft ein solches Bewusstsein.

Konklusion: Also müssen wir eine gendergerechte Sprache sprechen.

Diesem Argument zufolge ist gendergerechtes Sprechen ein Sensibilisierungsauftrag. Eine solche Sprache soll auf die sozialen Missstände hinweisen, soll die Aufmerksamkeit darauf hinlenken, soll aufrütteln, auch irritieren (vgl. Hornscheidt 2012; AG Feministisch Sprachhandeln 2015, 5, 12; Collien/Nüthen 2022Footnote 3). Das Argument hat jedoch ein offensichtliches Problem: Es ist nicht gültig, die Konklusion folgt nicht aus den Prämissen. Eine Verwendung gendergerechter Sprache mag das gewünschte Bewusstsein erzeugen, doch das bedeutet nicht, dass wir eine entsprechende Pflicht haben. Dazu müsste gendergerechte Sprache für die Schaffung dieses Bewusstseins notwendig sein. Und es müsste erforderlich sein, dass wir alle so sprechen. Beide Annahmen sind jedoch äußerst unplausibel. Das Bewusstsein für die fehlende Gleichstellung lässt sich auch durch andere Mittel schaffen, wie zahlreiche Debatten zu diesem Thema zeigen. Und selbst wenn gendergerechtes Sprechen für die Bewusstmachung notwendig wäre, könnte diese Aufgabe von einigen Personen mit besonderer gesellschaftlicher Sichtbarkeit übernommen werden. Ja, es wäre zu erwarten, das die bewusstmachende Wirkung sogar verfliegt, wenn alle so sprechen. Denn dann wäre es normal, und was normal ist, fällt nicht auf.

Da Argument 1 ungültig ist, werde ich es nicht weiter verfolgen. Ein zweites Argument kommt ohne den Aspekt der Bewusstmachung aus:

Argument 2

Normative Prämisse: Wir müssen für die gesellschaftliche Gleichstellung von Männern, Frauen und geschlechtlichen Minderheiten sorgen.

Erste deskriptive Prämisse: In der deutschen Standardsprache gibt es keine Gleichstellung von Männern, Frauen und geschlechtlichen Minderheiten; sie benachteiligt vielmehr Frauen und geschlechtliche Minderheiten.

Zweite deskriptive Prämisse: Gendergerechte Sprache ist Gleichstellung in der Sprache.

Konklusion: Also müssen wir eine gendergerechte Sprache sprechen.

In Kurzform besagt das: „Wenn Gleichstellung, dann auch Gleichstellung in der Sprache durch gendergerechte Sprache.“ Formal ist das Argument korrekt, d.h. die Konklusion folgt aus den Prämissen. Das gilt allerdings nur, wenn die „gesellschaftliche Gleichstellung“ in der normativen Prämisse auf eine bestimmte Weise verstanden wird, nämlich als eine im strikten Sinn allumfassende Gleichstellung. Dann muss sich die Gleichstellung unweigerlich auch auf die Sprache erstrecken. Wenn alles, dann wirklich alles.Footnote 4

Das Problem dieses Argumentes ist: Dieses Ziel verfolgt niemand ernsthaft. Denn eine solch allumfassende Gleichstellung gestattet keine Ausnahme. Wir müssten dafür sorgen, dass gleich viele Männer und Frauen den Beruf der Hebamme ausüben. Auch Imbissbudenbesitzer*innen müssten zu gleichen Anteilen Männer und Frauen sein. Genauso müsste es sein bei Bauern und Bäuerinnen, Bauarbeitern und Bauarbeiterinnen, Tankwarten und Tankwartinnen, Kfz-Mechanikern und Kfz-Mechanikerinnen, Lokführern und Lokführerinnen, Gynäkologen und Gynäkologinnen, Urologen und Urologinnen – und sämtlichen anderen Berufen. In Sportvereinen wären Quoten nötig, damit gleich viele Mädchen und Jungen, Frauen und Männer turnen, reiten, boxen und Fußball spielen. Wir müssten auch regeln, dass gleich viele Bücher von männlichen Autoren wie von Autorinnen verlegt werden, und zwar in allen Genres. Vielleicht müssten es sogar zunächst für lange Zeit mehr Autorinnen sein, um den historisch aufgelaufenen Männerüberschuss auszugleichen.

Das klingt nach einer Karikatur des Gleichstellungsstrebens, und das ist es auch. Eine solche Gleichstellung strebt niemand an. Zwar wird in bestimmten Bereichen durchaus eine Angleichung des Geschlechterverhältnisse angestrebt und teilweise durch Maßnahmen wie Quotenregelungen herbeizuführen versucht. Aber mit Parlamentsmandaten, Professuren und Führungspositionen in der Privatwirtschaft handelt es sich um Machtpositionen mit großer Signalwirkung. Die Durchsetzung von Gleichstellung erscheint hier besonders wichtig. Das gilt nicht für sämtliche gesellschaftliche Felder. Sicherlich wäre an vielen Stellen eine größere Gleichverteilung wünschenswert. Dass ein Zustand wünschenswert ist, heißt jedoch nicht, dass seine Herbeiführung moralisch geboten ist. Bei der Sprache kommt hinzu, dass gar nicht klar ist, ob es hier in einer vergleichbaren Weise um soziale „Positionen“ geht. Frauen und Männer sind Abgeordnete oder Vorstandsvorsitzende, aber sie sind keine Worte, sondern werden allenfalls von ihnen repräsentiert.

Und wenn man den Anspruch auf allumfassende Gleichstellung im Rahmen dieses Arguments aufgibt und Ausnahmen gestattet? Dann ist nicht mehr nachvollziehbar, warum sich die Gleichstellung auf die Sprache erstrecken sollte, warum also für sie keine Ausnahme gilt. Ohne die normative Prämisse in dem totalen Sinne zu verstehen, funktioniert das Argument nicht. Ich werde es daher nicht weiter verfolgen. Seine deskriptiven Prämissen werden uns gleichwohl im nächsten, komplexeren Argument wieder begegnen.

Dieses dritte Argument erscheint plausibler:

Argument 3

Normative Prämisse: Wir müssen für die gesellschaftliche Gleichstellung von Männern, Frauen und geschlechtlichen Minderheiten sorgen.

Erste deskriptive Prämisse: In der deutschen Standardsprache gibt es keine Gleichstellung von Männern, Frauen und geschlechtlichen Minderheiten, sie benachteiligt vielmehr Frauen und geschlechtliche Minderheiten.

Zweite deskriptive Prämisse: Sprache prägt unser Bild der Wirklichkeit und unseren Umgang mit ihr, konkret: die fehlende Gleichstellung in der Sprache verhindert oder erschwert erheblich die Gleichstellung in der sozialen Wirklichkeit.

Dritte deskriptive Prämisse: Gendergerechte Sprache ist Gleichstellung in der Sprache.

Konklusion: Also müssen wir eine gendergerechte Sprache sprechen.

Die Prämissen von Argument 2 werden hier um eine weitere deskriptive Prämisse ergänzt, die die Rolle der Sprache betrifft. Die „umfassende Gleichstellung“ muss hier nicht in einem totalen Sinn verstanden werden, damit das Argument funktioniert. Die sprachliche Gleichstellung ist nicht mehr Teil des Ziels wie in Argument 2, sondern ein Mittel, um das Ziel zu erreichen. Argument 3 schwebt anscheinend den meisten Befürworter*innen gendergerechter Sprache vor (vgl. Elsen 2014, 82-85; AG Feministisch Sprachhandeln 2015; Lobin/Nübling 2018; Gümüşay 2020, 19 f.; Hartmann 2019; Hanitzsch 2021, 182; Hornscheidt 2021 sowie zahlreiche Leitfäden zu gendergerechter Sprache).

In formaler Hinsicht ist das Argument korrekt. Die normative Prämisse ist gesetzt. Wie sieht es mit den drei deskriptiven Prämissen aus? Zunächst zur ersten Prämisse, in der deutschen Standardsprache gebe es keine Gleichstellung von Männern, Frauen und geschlechtlichen Minderheiten.

3 Genus und Geschlecht

Die fehlende Gleichstellung wird v.a. dem so genannten generischen Maskulinum angelastet. Der Gedanke ist dieser: Es besteht eine enge Verbindung zwischen dem grammatischen Geschlecht (Genus) auf der einen Seite und dem biologischen Geschlecht (Sexus) und dem sozialen Geschlecht (Gender) auf der anderen Seite. Das Genus von Personenbezeichnungen entspricht in vielen Fällen dem biologischen und sozialen Geschlecht und ruft entsprechende Assoziationen hervor. Wenn das Maskulinum generisch, d.h. in geschlechtsübergreifender Absicht verwendet wird, ruft es dennoch männliche Assoziationen hervor und drängt damit Frauen sowie geschlechtliche Minderheiten in den Hintergrund (vgl. Pusch 2017; Stefanowitsch 2018, 35-37; Lobin/Nübling 2018).

Spricht etwas für diese Sichtweise? Ja. Zunächst einmal ist die sprachliche Asymmetrie unübersehbar. Die Formen des generischen Maskulinums sind mit denen des spezifischen Maskulinums identisch, d.h. mit der Bezeichnung für Männer. Frauen dagegen erhalten eine eigene Form. Ein Ausdruck wie „die Philosophen“ kann Menschen unterschiedlichen Geschlechts meinen, er kann sich aber auch nur auf männliche Philosophen beziehen. Für Frauen, die Philosophie betreiben, ist ein spezieller Ausdruck reserviert: „Philosophinnen“. Und während eine reine Frauengruppe durch das Femininum bezeichnet wird, reicht schon ein Mann in einer Gruppe, um das Maskulinum zur Anwendung zu bringen. Für Menschen, die sich jenseits der binären Geschlechterordnung bewegen, kennt die Standardsprache gar keine eigene Form.

Dagegen ließe sich einwenden, dass das generische Maskulinum nichts mit dem biologischen und sozialen Geschlecht zu tun hat. Dies ist einer der häufigsten Einwände seitens der Kritiker gendergerechter Sprache. So heißt es bei dem Kommunikationswissenschaftler Rudolf Stöber: „genus ist nicht gleich sexus. Das ist in der Linguistik allgemein anerkannt.“ (Stöber 2021, 12; vgl. Eisenberg 2017; Bayer 2019; Maron et al. 2019; Glück 2020, 994; Krämer 2020; Payr 2021, 50; Ruge 2021) Dass Genus und Sexus das gleiche sind, behauptet allerdings auch niemand. Die Behauptung ist eine andere: Zwischen Genus und Sexus/Gender besteht eine enge Verknüpfung, und zwar funktionaler und psychologischer Art. Funktional: Das Genus geschlechtsspezifischer Personenbezeichnungen entspricht in aller Regel dem Geschlecht der Bezeichneten. Wörter mit männlicher Bedeutung sind fast immer maskulin (z. B. „der Mann“, „der Vater“, „der Bruder“), Wörter mit weiblicher Bedeutung sind fast immer feminin (z. B. „die Frau“, „die Mutter“, „die Schwester“). Ausnahmen haben meist andere Gründe (z. B. Diminutiva wie „das Mädchen“).

Die psychologische Verknüpfung wurde in zahlreichen psycholinguistischen Studien untersucht und – jedenfalls in gewisser Hinsicht – bestätigt.Footnote 5 Diese Studien unterscheiden sich in ihrem genauen thematischen Fokus und in ihrer Methodik. Alle aber untersuchen, was die Proband*innen mit verschiedenen Arten von Personenbezeichnungen mental verbinden, d.h. was für Vorstellungen sie bei Personenbezeichnungen im generischen Maskulinum, mit Beidnennungen von Männern und Frauen, mit geschlechtsneutralen Formulierungen usw. haben. Insgesamt wird das maskuline Genus auch dann, wenn es geschlechtsübergreifend gemeint ist oder gemeint sein könnte, eher mit dem männlichen Geschlecht verbunden. Der Nexus zwischen Genus und Sexus/Gender ist offensichtlich. Das so genannte male-as-norm-Prinzip macht sich anscheinend immer wieder bemerkbar. Das generische Maskulinum wird anders wahrgenommen, als seine Verteidiger oft behaupten.

Der bekannte Einwand, Genus und Sexus ständen in keiner Verbindung, ist somit schlicht falsch. Dass insbesondere Linguisten dies immer wieder behaupten, kann erstaunen (vgl. Eisenberg 2017; Bayer 2019; Glück 2020, 994). Wenig hilfreich ist an der Stelle auch der Hinweis darauf, dass das Genus in den indoeuropäischen Sprachen ursprünglich nichts mit dem Geschlecht zu tun hatte, sondern ganz anderen Unterscheidungen diente (vgl. Eisenberg 2017). Ursprüngliche und heutige Funktion sind zwei Paar Schuhe. Entscheidend ist allein die heutige Funktion. Auch wenn das Genus-System einst eine andere Rolle spielte, hat sich die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen im Laufe der Geschichte sekundär darüber gelegt und es gewissermaßen gekapert.

Was folgt aus diesen Einsichten für die erste deskriptive Prämisse und die Frage nach der moralischen Pflicht? Ist es nun richtig, dass Männer, Frauen und geschlechtliche Minderheiten in der deutschen Standardsprache nicht gleichgestellt sind? So sieht es aus. Allerdings ist zu beachten, dass die männliche Schlagseite des generischen Maskulinums in den psycholinguistischen Studien, wenn überhaupt, nur bei einer Mehrheit der ProbandInnen auftritt. Diese Mehrheit ist manchmal groß und manchmal knapp. Wie die Gender-Linguistinnen Helga Kotthoff und Damaris Nübling feststellen: „Bei allen Experimenten zeigte sich […], dass keines auf eine hundertprozentige ‚Maskulina evozieren nur Männer‘-Regel gestoßen ist.“ (Kotthoff/Nübling 2018, 116) Lässt sich eine moralische Pflicht, die ja für alle gälte, auf psycho-sprachliche Verbindungen bauen, die bei vielen Menschen, aber längst nicht bei allen existieren? Das erscheint fragwürdig.

Um einem Missverständnis vorzubeugen: Leitend für diesen Zweifel ist mitnichten die irrige Meinung, dass moralische Fragen empirisch zu entscheiden sind, konkret: dass es auf die faktische Zustimmung aller ankommt. Doch wenn es darum geht, den Gebrauch von Zeichen moralisch zu beurteilen – und Sprache ist Zeichengebrauch –, kommt es auch darauf an, wofür die Zeichen stehen. Und dieses Stehen-für ist in der Tat ein empirisches Faktum; zudem eines, dem es oft an Eindeutigkeit mangelt. Ein Hakenkreuz hat bei uns eine eindeutige Semantik. Was eine freiwillig hergestellte Glatze zum Ausdruck bringt, ist hingegen keineswegs eindeutig. Ein Revival der Skinheads? Der Wunsch nach einem männlichen Erscheinungsbild? Eine Vorliebe für Bruce Willis? Oder doch einfach nur die Ratlosigkeit, was man sonst mit den schwindenden Haaren machen soll? Der normative Umgang ist bei eindeutigen Zeichen gut begründet (z.B. Verbot von Hakenkreuzen), bei uneindeutigen Zeichen schwierig.

Zurück zu den psycholinguistischen Forschungsergebnissen: Sie unterscheiden sich nicht nur je nach Studienteilnehmer*innen, sondern auch je nach den konkreten untersuchten sprachlichen Ausdrücken. Unter anderem macht sich der Numerus bemerkbar. Während generisch-maskuline Personenbezeichnungen im Singular („ein Philosoph“) in hohem Maße männliche Vorstellungen hervorrufen, werden sie im Plural („die Philosophen“) durchaus weit überwiegend geschlechtsübergreifend verstanden (vgl. De Backer/De Cuypere 2012; Kotthoff/Nübling 2018, 94, 114 f.). Vor allem aber werden die jeweiligen Personenbezeichnungen selbst sehr unterschiedlich wahrgenommen, je nachdem ob sie mit Geschlechtsstereotypen behaftet sind oder nicht behaftet sind (Kosmetiker, Ingenieure vs. Musiker, Nachbarn) (vgl. ebd.). Es ist also komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint. Obwohl das generische Maskulinum eine männliche Schlagseite hat, ist die einfache Gleichsetzung: „generisches Maskulinum = Männer“ zu simpel. Damit wird die erste deskriptive Prämisse des Argumentes pro moralische Pflicht nochmals fragwürdiger.

Die Unterschiede in den semantischen Assoziationen verweisen auf etwas noch wichtigeres: Die Geschlechterassoziationen sind offensichtlich kontingent. Das heißt, mit welchen Vorstellungen die sprachlichen Ausdrücke verbunden werden, ist nicht von vornherein festgelegt. Wovon hängt es dann ab? Es liegt nahe, die Ursachen in den Erfahrungen zu suchen, die wir machen, in den Bildern, die wir mit Begriffen verbinden, in dem Wissen, das wir von Personengruppen haben, kurz: in der sozialen Wirklichkeit (vgl. Stein 2021). Dafür spricht, dass die jeweiligen Geschlechtsassoziationen stark von geschlechtsspezifischen Stereotypen der Tätigkeitsfelder abhängen, auf die sich die Personenbezeichnungen beziehen. Während sie z.B. mit Bezug auf „Eishockey“ vor allem männliche Assoziationen hervorrufen, sind es bei „Gymnastik“ überwiegend weibliche (vgl. Kusterle 2011, 135-137). Auf die gesellschaftliche Bedingtheit deutet ebenso, dass Berufsbezeichnungen stärker männlich interpretiert werden als Rollenbezeichnungen (vgl. De Backer/De Cuypere 2012). Denn viele Berufe waren oder sind immer noch männlich geprägt. Bei „Chirurgen“ stellen sich die meisten Menschen männliche Ärzte vor, weil dieser Beruf traditionell eine Männerdomäne ist.Footnote 6 Rollenbezeichnungen wie „Nachbarn“ oder „Zuschauer“ hingegen rufen eher geschlechtsneutrale Vorstellungen hervor, weil sie seit jeher alle Geschlechter umfassen.

Für die gesellschaftliche Bedingtheit der mentalen Repräsentationen spricht zudem die Tatsache, dass das Übergewicht männlicher Assoziationen auch bei genus-neutralen Begriffen wie „Kinder“ und „Angestellte“ auftritt (vgl. Heise 2000). Sogar bei manchen neutralisierten Formen, die um der Geschlechtergerechtigkeit willen benutzt werden, sind die männlichen Repräsentationen stärker (vgl. Steiger/Irmen 2007, 196). Für die vielfach festgestellte männliche Schlagseite des generischen Maskulinums ist wohl weniger – oder zumindest nicht nur – diese grammatische Form selbst verantwortlich zu machen als vielmehr unsere Vorstellungswelt und die sie prägende soziale Wirklichkeit (vgl. Stein 2021).

Wir müssen also feststellen: Die erste deskriptive Prämisse lässt sich so nicht aufrechterhalten. Sie ist aber auch nicht völlig falsch. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Für diese gemischte Wahrheit ist in der öffentlichen Debatte bislang wenig Platz. Sie wird dominiert von den Extrempositionen „Das generische Maskulinum inkludiert alle“ (Payr 2021, 8) und es „versteckt die Frau besser als jede Burka“ (Pusch 2020). Beide Positionen betreiben eine Essentialisierung des generischen Maskulinums. Sie tun so, als sei ihm seine Bedeutung eingeschrieben, unabhängig von menschlichem Tun.

Die Debatte erinnert strukturell an den Streit um das muslimische Kopftuch. Die einen sagen: Das Kopftuch ist Ausdruck patriarchaler Unterdrückung. Die anderen sagen: Muslimische Frauen tragen es aus freien Stücken. Beide haben Recht – und Unrecht, insofern sie ihre Perspektive verabsolutieren. Tatsächlich ist es so: Manche Musliminnen tragen das Kopftuch freiwillig, anderen wird es aufgezwungen. Die symbolische Bedeutung wohnt nicht dem Stück Stoff inne. Sie oszilliert und ist abhängig vom Handeln der Akteure.

So ähnlich verhält es sich mit dem generischen Maskulinum. Seine Semantik lässt sich ebenso wenig auf einen Nenner bringen. Sie hängt von vielen Faktoren ab, u.a. von den realen Geschlechterverhältnissen.

Für die Begründung einer moralischen Pflicht ist das Ergebnis dennoch schwierig. Denn das Argument dafür beruht ja darauf, dass die erste deskriptive Prämisse ganz richtig ist. Aber das ist sie nicht.

Wie sieht es mit der zweiten deskriptiven Prämisse aus?

4 Sprache und soziale Wirklichkeit

Die zweite deskriptive Prämisse besagt, zur Erinnerung, dass Sprache unser Bild der Wirklichkeit und unseren Umgang mit ihr prägt, konkret: die fehlende Gleichstellung in der Sprache verhindert oder erschwert die Gleichstellung in der sozialen Wirklichkeit.

Ein Problem fällt unmittelbar ins Auge: Der zweite, konkretisierende Teil dieser Prämisse ist nicht ganz richtig. Denn von einer gänzlich fehlenden Gleichstellung in der Sprache kann, wie wir gesehen haben, keine Rede sein. Das Problem scheint jedoch nicht unüberwindbar zu sein. Denn die Prämisse lässt sich leicht abschwächen, ohne dass sie ihr Potential zur Pflichtbegründung von vornherein einbüßt. So könnten wir sie umformulieren: Die teilweise fehlende Gleichstellung in der Sprache verhindert oder erschwert die Gleichstellung in der sozialen Wirklichkeit.

Lässt sich diese Prämisse plausibilieren? Grundsätzlich steht der Einfluss von Sprache auf unsere Wahrnehmung außer Frage. So sehen wir manche Phänomene erst, wenn wir Worte für sie haben. Wenn die Worte fehlen, drohen auch die Phänomene nicht in den Blick zu geraten. Auch die Grammatik kann die Weltsicht prägen. Je nachdem welche Zeitformen eine Sprache zur Verfügung stellt, unterscheidet sich auch das Zeitverständnis. Die Linguistik spricht vom „sprachlichen Relativitätsprinzip“. Auch in der Philosophie ist der Gedanke bekannt. Man denke an Wittgensteins berühmtes Diktum: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“ (Wittgenstein 1984, 67, Satz 5.6)

Unser Wahrnehmen und Denken wird also von der Sprache geprägt. Wie weit diese sprachliche Relativität allerdings im Einzelnen reicht, lässt sich schwerlich bemessen. Das gilt auch für die genderbezogene sprachliche Relativität. Denn wir haben keine Vergleichsgesellschaft, in der – unter sonst gleichen Bedingungen – durchgehend gendergerechtes Deutsch gesprochen wird. Immerhin aber können wir die deutschsprachigen Gesellschaften mit Gesellschaften vergleichen, in denen Sprachen gesprochen werden, die kein Genus kennen. Wenn die tendenziell fehlende Gleichstellung der Geschlechter, die sich im Deutschen mit dem Genussystem verbindet, die Gleichstellung in der sozialen Wirklichkeit verhindert oder erschwert, wäre zu erwarten, dass Sprachgemeinschaften ohne Genus ein Mehr an Gleichstellung aufweisen (vgl. Klein 2019; Trutkowski 2020). Solche Sprachen sind etwa Chinesisch und Türkisch. Bei aller Vorsicht vor kulturellen Pauschalisierungen darf man China und die Türkei wohl mit Recht als zutiefst patriarchalische Länder bezeichnen. Auch Japanisch und Thailändisch kennen kein Genus, auch diese Gesellschaften weisen krasse Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern auf, genauer: ein hohes Maß an Frauenfeindlichkeit. Von gleicher gesellschaftlicher Sichtbarkeit von Frauen und Männern kann keine Rede sein.

Diese Vergleiche beweisen allerdings nicht, dass eine sprachliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern keinen Einfluss auf die Gesellschaft hat. Denn die patriarchalischen Strukturen dieser Gesellschaften könnten andere Ursachen haben. Aber die Vergleiche zeigen zumindest, dass der Einfluss von sprachlicher Gleichstellung nicht überragend ist. Das legt die Vermutung nahe, dass die zweite deskriptive Prämisse die Wirkung von Sprache auf die soziale Wirklichkeit überschätzt. Heißt: Die Prämisse ist nicht richtig, oder wiederum vorsichtiger formuliert: nicht ganz richtig. Aber dieses „nicht ganz richtig“ hat Folgen für das Argument. Denn es führt dazu, dass gendergerechte Sprache für die reale Gleichstellung zumindest nicht hinreichend ist. Dieses Ergebnis wiegt allerdings nicht schwer, da kaum jemand erwarten dürfte, allein sprachliche Gleichstellung führe zu einer gesellschaftlichen Gleichstellung.

Die Prämisse hat jedoch noch ein zweites Manko. Es hat sich bereits im vorigen Abschnitt angedeutet. Die Prämisse nämlich denkt das Verhältnis zwischen Sprache und sozialer Wirklichkeit als einseitige Kausalbeziehung: Sprache präge via Wahrnehmen und Denken unsere soziale Wirklichkeit. Doch das Verhältnis ist wechselseitig. Die soziale Wirklichkeit prägt auch unser Wahrnehmen und Denken und damit das, was wir mit der Sprache verbinden. So hat es schon der Begründer des sprachlichen Relativitätsprinzips, Benjamin Whorf, auf den Punkt gebracht: „Which was first: the language patterns or the cultural norms? In main they have grown up together, constantly influencing each other.“ (Whorf 2012, 200) Und wir haben oben schon gesehen, dass Personenbezeichnungen dann vorrangig männlich verstanden werden, wenn die sozialen Positionen vor allem mit Männern besetzt sind. Die Gesellschaft hat der Sprache ihren Stempel aufgedrückt.

Auch ein Blick in die Geschichte zeigt, dass das Verhältnis zwischen Sprache und sozialer Wirklichkeit keine Einbahnstraße ist. Denn die enorme Entwicklung vom Beginn der modernen Frauenbewegung bis heute, von der weitgehenden Rechtlosigkeit der Frauen im 19. Jahrhundert bis zu Gender Mainstreaming, Rapperinnen und Bundesverfassungsrichterinnen ging ohne gendergerechte Sprache vonstatten. Das spricht dafür, dass auch die ausstehenden Entwicklungen zur Erreichung umfänglicher Gleichstellung ohne sie auskommen.

Das macht die zweite deskriptive Prämisse zwar nicht gänzlich verkehrt, aber einseitig. Und es eröffnet einen anderen Weg, mit unserer Sprache umzugehen. Statt das generische Maskulinum beiseite zu schieben, können wir seine Bedeutung verschieben.Footnote 7 Wir können seine bislang nur unvollständig vorhandene Generativität ausdehnen, und zwar durch soziale Veränderungen, durch reale Gleichstellung. Wenn Frauen ebenso selbstverständlich in der Chirurgie arbeiten wie Männer, wird sich das, was wir mit dem Wort „Chirurgen“ verbinden, entsprechend wandeln, so wie es bei anderen Begriffen schon der Fall ist. Wir sind den heute vorherrschenden mentalen Assoziationen nicht ausgeliefert. Wir können die Sprache neu stempeln (vgl. Elsen 2014, 73; Pollatschek 2020; Trutkowski 2020).

Ironischerweise demonstriert die gendergerechte Sprache selbst, dass sich Bedeutungen erschaffen und verschieben lassen. Zum Beispiel der Genderstern: Er ist eine semantische Setzung. Einem Zeichen, das bis vor kurzem etwas völlig anderes bedeutete, wurde absichtlich eine neue Bedeutung zugewiesen. Gestern noch ein Fußnotenzeichen, heute Symbol für eine bestimmte Personengruppe. Wenn sich einem sprachlichen Zeichen so dezisionistisch eine neue Bedeutung verpassen lässt, kann man das auch an anderer Stelle tun. Hier neue Bedeutungen konstruieren, dort sich der Maskulinität der Standardsprache ausgeliefert sehen – das ist widersprüchlich.

Die zweite deskriptive Prämisse hat sich damit in zweifacher Weise als einseitig entpuppt. Wiederum ist sie nicht völlig falsch, aber eben auch nicht so richtig, wie sie sein müsste, um eine moralische Pflicht zu stützen. Die Möglichkeit, die mentale Dimension des generischen Maskulinums umzuformen, hat zudem unmittelbar gewichtige Folgen für den normativen Status der gendergerechten Sprache: Sie ist für das Ziel der Gleichstellung nicht notwendig. Damit ist sie weder hinreichend noch notwendig. Das spricht nun doch deutlich gegen eine moralische Pflicht zur gendergerechten Sprache.

5 Gendergerechte Sprache und Gleichstellung

Zwei Prämissen des Arguments für eine moralische Pflicht zum Gendern haben sich als zweifelhaft herausgestellt. Eine gendergerechte Sprache ist weder hinreichend noch notwendig für das Ziel der Gleichstellung. Lohnt es sich überhaupt noch, die dritte deskriptive Prämisse unter die Lupe zu nehmen? Durchaus. Denn auch wenn gendergerechte Sprache weder hinreichend noch notwendig ist, könnte sie immer noch ein sehr hilfreicher Beitrag zur Gleichstellung sein. Eben weil sie Gleichstellung in der Sprache ist. Das jedenfalls behauptet die dritte deskriptive Prämisse.

Und stimmt es, ist gendergerechte Sprache Gleichstellung in der Sprache? Hier müssen wir die verschiedenen Varianten gendergerechter Sprache unterscheiden. Wie eingangs gesagt, stellt genau genommen jede Beidnennung von Männern und Frauen („Lehrer und Lehrerinnen“, „LehrerInnen“) keine Gleichstellung dar, weil sie Menschen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität außen vor lässt.

Doch auch die Variante mit Genderstern kann nicht überzeugen. Denn sie ändert nichts an der grundsätzlichen Asymmetrie bei den Personenbezeichnungen. Die Grundform steht für die Männer, während Frauen die Abweichung darstellen, gekennzeichnet durch ein Anhängsel („innen“). So sieht es auch Luise Pusch, die Grande Dame der deutschsprachigen feministischen Linguistik: „Männer bekommen den Wortstamm und somit den ersten Platz, Transgender-Personen bekommen den zweiten Platz, Frauen wird mit der Wortendung der letzte Platz zugewiesen. Das ist für Frauen nicht akzeptabel.“ (Pusch 2019)

Pusch schlägt stattdessen vor, das große I mit dem Genderstern zu fusionieren bzw., da ein solches Zeichen auf der Tastatur nicht existiert, Alternativen zu nutzen wie „Leser!nnen“, „Leserïnnen“, „Leserînnen“, „Leser1nnen“. Inwiefern diese Vorschläge das Problem der Rangordnung beheben, erschließt sich allerdings nicht. Pusch geht es aber letztlich auch um etwas anderes: „Wichtig ist, dass der feminine Gesamteindruck bleibt.“ (ebd.) Sie beabsichtigt also gar keine Gleichstellung.

Das wiederum lenkt den Blick auf ein anderes Problem: Personenbezeichnungen mit Genderstern, ebenso wie Puschs Vorschläge und das Binnen‑I, machen die Männer in sehr vielen Fällen unsichtbar. Das gilt insbesondere für den Plural: Ob es um „Philosoph*innen“, „Jurist*innen“, „Doktorand*innen“, „Demonstrant*innen“, „Freund*innen“ oder „Autor*innen“ geht – die maskuline Endung wird eliminiert. Bringt nicht der Nominativ und der Akkusativ die Eliminierung mit sich, tut es spätestens der Dativ: „den Teilnehmer*innen“, „den Mitarbeiter*innen“, „den Schüler*innen“. Auch im Singular fällt die maskuline Form oft unter den Tisch: „Ärzt*in“, „Jüd*in“, Bäuer*in usw. Selbst wenn in der geschriebenen Sprache das Maskulinum sichtbar bleibt, wie bei „die Teilnehmer*innen“, wird in der gesprochenen Sprache die Sprechpause häufig weggelassen, so dass nur die feminine Form zu hören ist. All das ist nach der Logik gendergerechter Sprache diskriminierend. Das Ziel der Gleichstellung wird nicht erreicht. Sehr viele angeblich gendergerechte Personenbezeichnungen tragen dieses Etikett zu unrecht (vgl. Payr 2021, 82-84; Starke 2021). Das ist dermaßen offensichtlich, dass es verwundern muss, wie viele Verfechter des Gendersterns damit der Gendergerechtigkeit zur Durchsetzung zu verhelfen glauben. Dieser gendergerechte Kaiser ist sehr nackt.

Man könnte einwenden: Ist das nicht pingelig? Muss man jede fehlende Wortendung beanstanden? Doch dieser argumentative Ausweg ist versperrt. Denn es ganz genau zu nehmen zeichnet das Streben nach sprachlicher Gleichstellung aus. Es kommt auf jede Form, jedes Zeichen, jede bedeutungstragende Silbe an. Dann kann man nicht plötzlich über fehlende Suffixe und Flexionsendungen hinwegsehen, wenn das die Repräsentation eines Geschlechts unterbindet. Die vermeintliche Unsichtbarkeit des einen Geschlechts zu beseitigen, indem man in vielen Fällen das andere unsichtbar macht, ist keine Option. Ein „Mitgemeintsein“ kann es nach der Idee gendergerechter Sprache nicht geben.

Wie man es auch dreht und wendet: Das Ziel der sprachlichen Gleichstellung wird nicht erreicht, zumindest nicht durch die Form, die heute zumeist als Inbegriff sprachlicher Gendergerechtigkeit gilt. Nimmt man das Problem der grammatisch bedingten Hierarchie zwischen den drei Gruppen (Männer, Nicht-Binäre, Frauen) hinzu, gilt dieses Ergebnis für sämtliche Varianten gendergerechter Sprache außer den geschlechtsneutralen Formen. „Gendergerechte Sprache“ ist nicht gendergerecht. Die dritte deskriptive Prämisse ist also weitgehend falsch.

„Gendergerechter Sprache“ den Ehrenkranz der Gerechtigkeit zu verleihen, ist noch aus einem weiteren Grund falsch. Sie schafft nicht nur großenteils keine Gleichheit im Sinne gleicher und gleichrangiger Sichtbarkeit, sondern bereits das ihr zugrundeliegende Verständnis von Gleichheit ist problematisch: Gleichheit durch Unterscheidung. Normalerweise heißt Gleichheit, Menschen in grundlegender Weise gleich zu behandeln (oder ihnen gleiche Chancen zu gewähren, gleiche Rechte zuzusprechen usw.). Das legt auf sprachlicher Ebene nahe, für alle die gleichen Personenbezeichnungen zu verwenden. Oder wie es die Schriftstellerin Nele Pollatschek pointiert sagt: „Der Weg zu Gleichheit ist Gleichheit.“ (Pollatschek 2020)

Die meisten Varianten „gendergerechter Sprache“ aber weisen den Geschlechtern eigene Formen zu. Damit werden nicht nur ständig die Unterschiede zwischen den Geschlechtern betont, sondern es wird überhaupt die geschlechtliche Dimension hervorgehoben. Und nur dieses Merkmal wird hervorgehoben, nicht der Beruf, nicht das Alter, nicht die Interessen, nicht die Staatsangehörigkeit, nicht das religiöse Bekenntnis oder sonst etwas, sondern fortwährend nur: das Geschlecht. Das Geschlecht wird zur entscheidenden Kategorie des Menschseins, die bei allem Reden über Menschen mitgesagt werden muss. „Gendergerechte Sprache“ sexualisiert damit die Sprache. In diesem Sinne schreibt der Sexualwissenschaftler Kurt Starke: „Sich für ein einziges Merkmal, das Geschlecht, zu entscheiden, und bei jeder Gelegenheit nur das Geschlecht hervorzuheben, ist einseitig, überflüssig und ganz und gar ungerecht.“ (Starke 2021) Pollatschek formuliert es persönlicher und drastischer: „[…] das ist gut gemeint, aber es fühlt sich nicht gut an. Ich fühle mich in solchen Situationen auf mein Geschlecht reduziert. Ich fühle mich so, weil es de facto so ist.“ Und: „Wer aus meinem ‚Schriftsteller‘ ein ‚Schriftstellerin‘ macht, kann auch gleich ‚Vagina!‘ rufen.“ (Pollatschek 2020; vgl. Rosenfeld 2014) Auch für Alice Schwarzer scheint aus diesen Gründen zumindest beim Genderstern der „urfeministische Gedanke der Menschwerdung von Frauen und Männern vor lauter Gendern auf der Strecke geblieben zu sein.“ (Schwarzer 2018; vgl. Hornscheidt 2021)

Unter Ausklammerung der geschlechtsneutralen Formen müssen wir feststellen: „Gendergerechte Sprache“ ist sexistisch (vgl. Hornscheidt 2012, 216 f.; Pollatschek 2020; Payr 2021, 55; Stein 2021).Footnote 8 Auch aus diesem Grund ist sie weit davon entfernt, gerecht zu sein. Und mit jeder getrennten Benennung von Menschen verstärkt sie die semantische Separierung in unseren Köpfen. Mit jedem „Lehrer und Lehrerinnen“, mit jedem „Politiker*innen“ wird der teilweise vorhandene Nexus zwischen Genus und Sexus tiefer in die deutsche Sprache eingefräst. Das ständige Nennen geschlechtsspezifischer Formen saugt den Begriffen nachweislich ihre Geschlechtsneutralität aus, die sie bislang zumindest zum Teil haben (vgl. Kotthoff/Nübling 2018, 103, 114, 117). Die „gendergerechte Sprache“ verstärkt das, zu dessen Beseitigung sie erfunden wurde: das als einseitig männlich wahrgenommene generische Maskulinum. Sie ist eine self fulfilling language policy.

Eine Option kam bislang nicht zur Sprache: die generische Verwendung des Femininums. Was ist davon zu halten? Wenn der Vorschlag ernst gemeint ist, zeigt er ein großes Zutrauen in die semantische Formbarkeit sprachlicher Ausdrücke, konkret: in die Möglichkeit, formal geschlechtsspezifische Ausdrücke in einem generischen Sinne zu verwenden. Damit bestätigt er meine Argumentation. Dass aber gerade das Femininum diese Rolle übernehmen sollte, ist unplausibel. Denn die Geschlechtsspezifizität ist hier bislang weitaus stärker. Der Weg zu einem generischen Verständnis wäre hier sehr viel weiter als beim Maskulinum, das ohnehin traditionell in weiten Teilen im generischen Sinne verwendet wird. Warum den schwierigeren Weg gehen, wenn es einen leichteren gibt? Das Gegenargument dürfte hier lauten: um Frauen stärker sprachlich zur Geltung zu bringen. Doch steht der generisch gemeinte Gebrauch des Femininums diesem Ziel entgegen. Wenn das Ziel ist, das Femininum generisch zu gebrauchen, heißt das, es semantisch zu entfeminisieren. Generischer Gebrauch des Femininums und stärkere sprachliche Sichtbarmachung von Frauen durch genau diesen generischen Gebrauch: Diese beiden Ziele schließen sich aus.

6 Fazit und Ausblick

Das als aussichtsreich identifizierte Argument für eine moralische Pflicht zur Verwendung „gendergerechter Sprache“ hat drei deskriptive Prämissen. Keine von ihnen hat sich als unproblematisch erwiesen. Die ersten zwei Prämissen sind einseitig: Das Verhältnis zwischen Genus und Sexus/Gender ist nicht so eindeutig, wie die erste Prämisse behauptet. Und das Verhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit ist nicht so einseitig, wie die zweite Prämisse behauptet. Damit ist die „gendergerechte Sprache“ weder hinreichend noch notwendig, um das Ziel der Gleichstellung zu erreichen. Das macht eine Pflicht schon zumindest fragwürdig. Die dritte Prämisse hat sich sogar als nahezu komplett falsch erwiesen. Die behauptete sprachliche Gleichstellung wird durch „gendergerechte Sprache“ nicht erreicht. Was gar nicht Gerechtigkeit schafft, kann auch keine Gerechtigkeitspflicht sein. Damit ist das Argument pro „gendergerechte Sprache“ in sich zusammengebrochen. Die Konklusion wird nicht gestützt, es gibt keine Pflicht zum „gendergerechten“ Sprechen.

Einschränkend muss man sagen: Vor der Implosion der dritten Prämisse konnten sich die genderneutralen Formen retten. Von den Problemen der Ungleichheit und der Sexualisierung sind sie nicht betroffen. Haben wir also zumindest eine Pflicht zur Verwendung genderneutraler Formen? Das ist aufgrund der wackeligen deskriptiven Prämissen eins und zwei fraglich. Weder was das Verhältnis zwischen Genus und Sexus/Gender noch was das Verhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit angeht, sind die Voraussetzungen für eine solche Pflicht sicher gegeben. Auch genderneutrale Formulierungen führen zu mehr männlichen Vorstellungen (vgl. Steiger/Irmen 2007, 196; Heise 2000). Das Kernproblem liegt offensichtlich nicht auf der sprachlichen Ebene, sondern auf der der gesellschaftlichen Realität.

Bei genderneutralen Formen kommen weitere Probleme hinzu: Sie führen in vielen Fällen zu ungewollten semantischen Verschiebungen. In manchen Fällen sind sie zwar unproblematisch, so lassen sich etwa „Lehrer“ leicht durch „Lehrkräfte“ ersetzen. In vielen anderen Fällen gibt es jedoch keine solche Lösung. Dass substantivierte Partizipien wie „Lehrende“ zumeist ungeeignet sind, weil sie eigentlich eine aktuelle Tätigkeit anstelle eines Status anzeigen, wurde schon oft festgestellt (vgl. Eisenberg 2017; Zifonun 2018, 47; Bayer 2019; Klein 2019; Trutkowski 2020; Ruge 2021; Starke 2021). Es gibt keine toten Radfahrenden, wohl aber tote Radfahrer; und Philosophen sind zum Glück nicht rund um die Uhr Philosophierende. Zwar kann man diese Partizipformen als genderneutrale Personenbezeichnungen benutzen – und damit abermals demonstrieren, wie sehr sich die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke aktiv verschieben lässt. Doch handelt es sich um Verschiebungen, die semantische Schieflagen und unerwünschte Doppeldeutigkeiten erzeugen.

Andere neutrale Konstruktionen sind ebenfalls irreführend und schwerfällig obendrein. Für „Philosoph“ empfiehlt die Website geschicktgendern.de „gelehrte Person“, für „Arzt“ ist es die „Person im ärztlichen Dienst“. Statt dass Philosophen ihre Ärzte aufsuchen, gingen gelehrte Köpfe zu ihren Personen im ärztlichen Dienst. Wenn es eine moralische Pflicht zu einem solchen Sprechen gäbe, wäre es eine Pflicht, erhebliche semantische Verzerrungen in Kauf zu nehmen. Die Annahme einer solchen Pflicht ist unplausibel.

Eine weitere Methode der Genderneutralisierung besteht darin, unpersönliche Ausdrücke zu verwenden, z.B. „Presse“ statt „Journalisten“, „die Abteilungsleitung“ statt „Abteilungsleiter“. Im Einzelfall spricht nichts gegen eine solche Wortwahl. Als generelle Strategie ist sie jedoch problematisch. Denn es hieße, auf unzählige Worte zu verzichten und damit den sprachlichen Ausdrucksreichtum empfindlich einzuschränken. Zudem würde ein breit angelegter Verzicht auf Personenbezeichnungen zugunsten von Abstrakta die Sprache entpersönlichen (vgl. Zifonun 2018, 47). Dasselbe gilt für Passivkonstruktionen. Wenn es eine moralische Pflicht zu einem solchen Sprechen gäbe, wäre sie eine indirekte Pflicht zur sprachlichen Verarmung und Entpersönlichung. Auch das ist mehr als fragwürdig. Kurzum, auch eine Pflicht zur Verwendung genderneutraler Sprache ist unplausibel.

Das Gesamtfazit lautet: Wir sind nicht moralisch verpflichtet, eine „gendergerechte Sprache“ zu verwenden. Mehr noch, eine solche Sprache gibt es großenteils kaum. Das, was einer solchen Sprache am nächsten kommt, wirft oft andere massive Probleme auf. Damit sind die expliziten Forderungen in Sachen „gendergerechter Sprache“ seitens Verlagen, Gleichstellungsbeauftragten, Reviewern usw. illegitim. Das gilt erst recht für ungefragte Eingriffe in die Texte anderer zugunsten vermeintlicher Gendergerechtigkeit.

Bedeutet dies, dass wir „gendergerechte Sprache“ auch nicht verwenden sollten? Zunächst: Dass ein bestimmtes Handeln keine Pflicht ist, heißt nicht, dass es verkehrt ist. Für das Rote Kreuz zu spenden ist auch keine Pflicht, aber fraglos erlaubt und sogar lobenswert. Anders als beim Spenden gibt es jedoch bei der sprachlichen Gleichstellung einen Haken: Das Bemühen ist grundsätzlich nicht zu beanstanden, aber das, was heute gemeinhin als Realisierung dieses Bemühens verstanden wird, kann diesem Anspruch bei näherem Hinsehen kaum genügen. „Gendergerechte Sprache“ macht nicht alle sichtbar, sondern Männer in weiten Teilen unsichtbar; sie ist nicht egalitär, sondern hierarchisch; sie schafft keine Gleichheit, sondern Separierung; sie bahnt nicht der Gerechtigkeit den Weg, sondern einer Dominanz des Geschlechtlichen; sie stellt keinen vollwertigen Ersatz für die Standardsprache dar, sondern verzerrt und verengt. Deshalb sollten wir auf diesen Sprachgebrauch im Großen und Ganzen in der Tat verzichten.

Heißt das, dass wir uns gar nicht um eine Sprache bemühen sollten, die Frauen, Männern und geschlechtlichen Minderheiten gleichermaßen gerecht wird? Doch, das sollten wir. Aber wenn wir die gravierenden Nachteile „gendergerechter Sprache“ Revue passieren lassen, liegt die Annahme nahe, dass diesem Anliegen durch das generische Maskulinum unterm Strich mehr gedient ist, so sehr das manchen heute befremdlich erscheint. Das generische Maskulinum ist zwar keinesfalls, wie viele Kritiker „gendergerechter Sprache“ meinen, frei von jedem Makel. Es bleibt bei der Asymmetrie des Genusgebrauchs. Das generische Maskulinum ist keine ideale Lösung. Die heutzutage praktizierten Alternativen aber sind es noch weniger. Andere geeignete Vorschläge sind nicht in Sicht. Das generische Maskulinum ist das geringere Übel.

Oder könnte man es mit einer Mischung versuchen? In manchen Sätzen „gendern“, in manchen nicht? Einige Medien gehen diesen Weg. Sie erheben sozusagen das Durchwursteln zum Prinzip. Das erscheint pragmatisch und deshalb vielleicht sympathisch. Auch ich bin in diesem Aufsatz streckenweise so verfahren. Aber ist es überzeugend? Ich glaube nicht. Denn wenn man an einer Stelle „Philosophen und Philosophinnen“ sagt, signalisiert man, dass „Philosophen“ wegen der männlichen Schlagseite als generische Personenbezeichnung nicht in Frage kommt. Dann darf man nicht wenig später „Philosophen“ sagen, um damit Angehörige aller Geschlechter zu bezeichnen. Wenn doch, signalisiert man, dass die Doppelform verzichtbar ist. Wenn das generische Maskulinum falsch ist, dann ist es immer falsch. Diskriminierung ist nichts, bei dem man ein Auge zudrücken darf. Wenn das generische Maskulinum hingegen manchmal akzeptabel ist, ist es auch in anderen Fällen akzeptabel. Das Prinzip der „gendergerechten Sprache“ erlaubt keinen Pragmatismus (vgl. Trutkowski 2020; Payr 2021, 75 f.).

Trotzdem könnte ein inkonsequenter Pragmatismus ein gangbarer Weg zu sein, um wenigstens übergangsweise den unterschiedlichen Intuitionen und Verständnisweisen, die gesellschaftlich mittlerweile entstanden sind, entgegenzukommen. Das könnte heißen, in ausgewählten Situationen die einzelnen Geschlechter gesondert zu benennen, zum Beispiel in der Anrede, in Stellenanzeigen und wo es der Kontext sonst noch nahelegt (vgl. Stein 2021). Hinzu kommen weitere unproblematische Möglichkeiten ausdrücklicher Sichtbarmachung, wie etwa beim Gebrauch von Beispielen, Gleichnissen und Gedankenexperimenten. Statt etwa einen Samariter barmherzig sein zu lassen, könnte es eine Frau aus Samaria sein. Oder statt fette Männer von Brücken zu schupsen, könnten auch mal übergewichtige Frauen als Rammbock in Frage kommen (nur als Gedankenexperiment!).Footnote 9

Ansonsten und langfristig bleibt nur der Weg, der sich schon in den Abschnitten 3 und 4 als Alternative angeboten hat: Wir sollten die Bedeutungen verschieben, indem wir die Gesellschaft weiter verändern; das mentale männliche Übergewicht im generischen Maskulinum zurückdrängen, diese Sprachform mit femininer Bedeutung anreichern, indem wir für mehr gesellschaftliche Präsenz von Frauen sorgen. Wir sollten das Genus tendenziell entgendern statt es gendersemantisch immer weiter aufzuladen. Wir sollten gleiche Sprachformen für alle anpeilen und damit annähernd echte Gleichheit in der Sprache schaffen.Footnote 10 Für Personenbezeichnungen im Plural dürfte das relativ leicht sein, weil sie, wie erwähnt, ohnehin eher als geschlechtsübergreifend wahrgenommen werden (vgl. Kotthoff/Nübling 2018, 94, 114 f.). Und die meisten Fälle, die die „gendergerechte Sprache“ korrigieren soll, betreffen den Plural. Beim Singular ist die Hürde größer. Aber selbst hier gibt es große Unterschiede, z.B. je nachdem ob es sich um eine Personenbezeichnung mit bestimmtem oder unbestimmtem Artikel oder ganz ohne Artikel handelt. „Der Ausländer“ etwa ist männlicher konnotiert als „ein Ausländer“ (Kotthoff/Nübling 2018, 94, 100). Und wenn der Artikel wegfällt, kann sogar eine Antidiskriminierungsbeauftragte mit Migrationshintergrund problemlos erzählen, dass sie früher oft zu spüren bekam, „dass man Ausländer ist“ (vgl. Ataman 2022). Insgesamt dürfte das Potential zur semantischen Verschiebung größer sein, als es in der Debatte oft zugestanden wird. Ironischerweise zeigen das gerade manche Vorschläge für eine „gendergerechte Sprache“.

Ein Unbehagen mag bleiben: Die Kritik an „gendergerechter Sprache“ kommt manchmal von ganz weit rechts. Legt das nicht nahe, dass auch die vorliegende Untersuchung einem erzkonservativen oder reaktionären Geist entspringt? (Vgl. Stefanowitsch 2018, 9‑21; Günthner 2019, 578; Lobin 2021, Kap. 3) Dazu ist zweierlei zu sagen: Erstens kommt die Kritik nicht nur von rechts, sondern zieht sich durch die ganze Gesellschaft. Zwei Drittel der Bevölkerung lehnen „gendergerechte Sprache“ ab, das sind nicht alles Rechtskonservative (vgl. Infratest dimap 2021). Auch unter denjenigen, die sich öffentlich gegen „gendergerechte Sprache“ positionieren, sind alle Farben des politischen Spektrums vertreten. Jeder Kritik an „gendergerechter Sprache“ das Kainsmal der Rückständigkeit zu verpassen, ist ein Versuch der Selbststilisierung und der Delegitimierung der Gegenposition. Verständlich, aber falsch.

Zweitens sollten wir zwischen dem Ziel der Gleichstellung und dem Mittel der „gendergerechten Sprache“ unterscheiden. Gegenstand der vorliegenden kritischen Untersuchung war allein das Mittel, während man aus einer rechtskonservativen Perspektive zuweilen auch mit dem emanzipatorischen Anspruch fremdelt. Diesen Anspruch gutzuheißen, heißt jedoch nicht, jedes vorgeschlagene Mittel für richtig zu halten.