Zusammenfassung
Dem sogenannten Knobe-Effekt zufolge bestimmt die moralische Valenz von Nebeneffekten menschlichen Verhaltens die Zuschreibung ihrer absichtlichen Verursachung. Wir argumentieren, dass erstens die empirisch ermittelten sozialpsychologischen Daten den Knobe-Effekt in der üblichen Lesart nicht belegen, vor allem wegen der unvollständigen Untersuchung der entscheidenden moralischen Varianzfaktoren. Zweitens zeigen wir, dass - und wie - eine spezifische Version des traditionellen Prinzips des Doppeleffekts den empirisch bestätigten Teil des Knobe-Effekts philosophisch erklärt. Die Erklärungskraft des Prinzips des Doppeleffekts kann auch als eine Rechtfertigung eben dieses Prinzips gesehen werden.
Abstract
According to the Knobe Effect, the moral valence of side effects of human behavior determines the attribution of their intentional causation. We argue that, firstly, the empirically established social-psychological data actually do not support the Knobe Effect in the usual reading, mainly because of the incomplete investigation of decisive moral variance factors. Secondly, we show that – and how – a specific version of the age-old Principle of Double Effect philosophically explains the empirically confirmed part of the Knobe Effect. The explanatory power of the Principle of Double Effect can also be seen as a justification of this very principle.
Notes
Zu Sokrates’ Ansatz in diesem Sinne s. z.B. Sidgwick (1896, 22-31), Martens (2004, 103-37), Irwin (2007, 2 f.), Wolfsdorf (2017); vgl. Jaeger (1973, 579-90); systematische Hintergründe s. Heepe (2019, 10-19). Die Weiterentwicklung der philosophisch-dialogischen Sokratischen Methode zu einem gut strukturierten Instrument der modernen Psychotherapie schildert Stavemann (2015, bes. 23-133).
Vgl. die Paulinische Gewissenslehre, z.B. Röm. 2,14 f.
Zu Rawls’ Konzeption des Reflektiven Gleichgewichts s. ders. (1971, bes. I.1.4.3, I.2.12); vgl. z.B. Daniels (1979), Brink (1989, 100-43), Kagan (1998, 11-16), Irwin (2009, bes. 897-908); vgl. Aristoteles’ analoge methodische Bemerkungen in der Nikomachischen Ethik, VII.1, 1145b, bzw. Topik, I., bes. 100a-108b.
Ein normativistischer Fehlschluss liegt etwas genauer gesagt vor, wenn aus einer konsistenten Menge rein normativer Sätze ein nicht-tautologischer rein deskriptiver Satz abgeleitet wird. Ungleich populärer ist sein Konterpart, der naturalistische Fehlschluss (auch Hume’sches Gesetz genannt); s. Frankena (1939), Prior (1949) oder Brink (1989, 144-70).
Die Wirklichkeit der menschlichen Psyche ist natürlich um vieles komplizierter, wenn man im Anschluss an Tiefen‑, Sozialpsychologie, Verhaltensforschung und Neurobiologie bedenkt, dass das die Annahme unbewusster Wünsche und Urteile, also auch unbewusster Absichten, gut bestätigt ist; vgl. z.B. Solms & Turnbull (2002), Aarts & Custers (2012) oder Bargh (2017). Diese Komplikation können wir hier glücklicherweise außer Acht lassen.
Christlich-moraltheologisch wird die Ablehnung übelgemeinter Wohltaten manchmal aus den Worten des Paulus abgeleitet: „Lasst uns Böses tun, damit Gutes entsteht? Diese Leute werden mit Recht verurteilt.“ Röm. 3,8. (Anders gelesen, könnte man die Passage auch auf wohlgemeinte Übeltaten beziehen.).
Wenn eine Absichtsänderung geboten ist, dann muss sie nach dem seit der Antike allgemein anerkannten – vgl. schon die römisch-rechtliche Maxime „impossibilium nulla obligatio“, D.50,17,185 – Prinzip der Möglichkeit des Gebotenen auch möglich und also für den Handelnden kontrollierbar sein. Nicht nur äußere Verhaltensweisen sondern auch verhaltenssteuernde Absichten müssen somit für autonome Personen nach dem diskutierten Ansatz steuerbar sein – was handlungspsychologisch allerdings auch keineswegs unplausibel ist.
Die komplizierende Möglichkeit, dass der Akteur in einer verzweifelten Situation ausschließlich üble Effekte erzeugen kann, lassen wir hier beiseite. In einer solchen müsste man auf die am wenigsten üblen Effekte, statt auf hinreichend gute abheben.
Für intuitive Beispiele und Darstellung einiger systematischer Hintergründe vgl. Heepe (2021).
Allgemein zu den methodischen Standards bei Untersuchungen der „Experimentellen Ethik“, nicht zuletzt auch vor dem verschärfenden Hintergrund der aktuellen Replikationskrise der etablierten empirischen Psychologie, s. Polonioli et al. (2018).
S. Leslie et al. (2006), Nichols & Ulatowski (2007), Cokely & Feltz (2008), Petit & Knobe (2009), Beebe & Buckwalter (2010), Guglielmo & Malle (2010), Cova et al. (2016), Hindriks et al. (2016), Kneer & Bourgeois-Gironde (2017), Nori et al. (2017), Laurent et al. (2019); für die Absichten von Gruppen s. Michael & Szigeti (2018).
S. z.B. Kutschera (1982, 2.5). Manchmal werden noch deontologische Theorien unterschieden, die sich auf die zwischen Absicht und Effekt liegende Handlung (wie immer auch definiert) beziehen.
Ein vergleichendes Argument für das Prinzip des Doppeleffekts bietet Heepe (2021).
S. Ex. 20,13, Dtn. 5,17; vgl. Ex. 21,12 ff. Das Tötungsverbot ist, je nach Zählung, das fünfte oder sechste Gebot; vgl. Köckert (2013, bes. 26-37).
S. Summa theologiae, I‑II.94,2; cf. Finnis (1998, III.6).
Bereits der für Thomas wichtige Aristoteles, Metaphysik, VI.2, 1027a, diskutierte dieses Phänomen u.a. am Beispiel des Kochs, der bei seiner Speisenzubereitung Schmackhaftigkeit anstrebt und nebenbei Gesundheitsförderung bewirkt. Die Fokussierung auf Absichten war der auf Innerlichkeit ausgerichteten christlichen Philosophie spätestens seit Augustinus immanent; prägend für das Hochmittelalter z.B. die Formulierung bei Peter Abelard, Ethica, I.106 u.ö.; vgl. Gilson (1991 [1936], 343-63).
Ähnlich bereits Donagan (1977, 5.3).
In verwandtem Geist vgl. die Kaiser Hadrian zugeschriebene römisch-rechtliche Maxime „In maleficiis voluntas spectatur, non exitus“ (Bei Übeltaten zählt der Wille, nicht der Erfolg), D.48,18,14.
S. Boyle (1980), Cerny (2020, VI. u.ö). Die konzeptuelle Nähe von Kants zweiter Formel des kategorischen Imperativs, der Selbstzweckformel, zum traditionellen Instrumentalisierungsverbot liegt wohl auf der Hand, vgl. ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, II., AA429 ff. Manchmal wird das Prinzip des Doppeleffekts – aus unserer Sicht: irrtümlich – auch geradezu mit dem Instrumentalisierungsverbot identifiziert, s. z.B. Mackie (1977, VII.6).
Vgl. z.B. Montaldi (1986).
Eine Fülle von detailliert nachvollzogenen Einwänden gegen das Prinzip des Doppeleffekts mit Instrumentalisierungsverbot präsentieren Davis (1984) oder Di Nucci (2014), wobei besonders der Letztgenannte die Unmöglichkeit der Unterscheidung von hingenommenen Nebeneffekten und Mitteln zur Verwirklichung eines Zwecks ins Zentrum seiner Kritik stellt.
Man kann Thomas’ moralisches Grundprinzip (vgl. Fn. 28) in diesem Sinne interpretieren.
Für Näheres und weitere Hinweise zu dieser wichtigen alltagsmoralischen Sanktionen-Trias s. Heepe (2019, 70-80, 90-97). Alfano et al. (2012) wollen ebenfalls Sanktionabilität zur Erklärung des Knobe-Effekts einsetzen; Holton (2010) hebt auf den Unterschied zwischen Normbefolgung und Normverletzung ab, ohne allerdings den normativen Hintergrund zu klären. Speziell zu erwartende negative Affekte scheinen dabei jedoch keine Rolle zu spielen, s. Diaz & Gomila (2017).
Eine wahre Fundgrube verbreiteter kognitiver Verzerrungen findet man bei Kahneman (2011). Manche in der Theorie als kognitive Verzerrung interpretierte Kognition kann sich unter bestimmten Umweltbedingungen allerdings auch als höchst nützliche Faustregel herausstellen; vgl. z.B. Gigerenzer (2008). Zu dieser Debatte in Bezug auf als Heuristiken interpretierte moralische Intuitionen s. Sinnott-Armstrong et al. (2010).
Dementgegen benutzte interessanterweise Henry Sidgwick (1981 [1907], 202), aus utilitaristischer Perspektive eine reine Übeltat – nämlich ein Attentat auf eine hochstehende Persönlichkeit mit zusätzlichen unbeteiligten Opfern – als ein Beispiel für die Absichtlichkeit von nur hingenommenen Effekten. Bei besonderer Schwere der Verwerflichkeit eines Nebeneffekts, scheint das Prinzip des Doppeleffekts, wie gesagt, einiges an Plausibilität zu verlieren.
S. Aristoteles Nikomachische Ethik, III.1, 1110a; sein berühmtes Beispiel waren Schiffer, die im Sturm Fracht über Bord werfen, um ihr Schiff zu retten. Als interessantes Abgrenzungskriterium brachte Aristoteles die Reue nach dem Tun ins Spiel, a.a.O., III.2, 1110bff.; vgl. Bobzien (2014) oder Rapp (2010).
Vgl. Heepe (2021).
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Ich danke Oskar Heepe und zwei anonymen Gutachtern dieser Zeitschrift für wertvolle Kommentare und Hinweise.
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Heepe, M. Der Knobe-Effekt als Doppeleffekt. ZEMO 4, 313–335 (2021). https://doi.org/10.1007/s42048-021-00105-8
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