Die Ausdrücke „Odysseus-Anweisung“ und „Selbstbindung“ werden in der Medizinethik häufig synonym verwendet. Im Allgemeinen werden mit beiden Ausdrücken vorwegnehmende Bitten von Patienten an ihre Ärzte bezeichnet, eigene spätere, seien es im Zustand der Entscheidungsfähigkeit oder der Entscheidungsunfähigkeit geäußerte Präferenzen nicht zu befolgen.Footnote 1 Im folgenden Diskussionsbeitrag möchte ich zunächst dafür plädieren, dass diese Gleichsetzung irreführend ist, weil sie relevante Unterschiede zwischen verschiedenen Arten von Selbstbindungen verdeckt (1), und eine von dieser Gleichsetzung abweichende terminologische Regelung vorschlagen (2). Anschließend werde ich andeuten, welche normativen Probleme sich in Bezug auf die Diskussion der Bindungskraft der beiden Arten von Selbstbindungen ergeben, die zu unterscheiden ich vorschlagen werde – solchen, die die Struktur von Odysseus-Anweisungen aufweisen (3), und solchen, die dies nicht tun (4).

1 I.

Spricht man von „Odysseus-Anweisungen“, muss man sich entscheiden, auf welche Art von Fällen man diesen Ausdruck anwenden möchte. Es bestehen folgende Optionen:

  1. 1.

    Der Bildlichkeit des Odysseus-Mythologems folgend kann man die Verwendung des Ausdrucks auf Fälle einschränken, in denen die Kompetenz der Person, die eine Anweisung ausstellt, nach der Situation, für die diese Anweisung verfasst wird, wiederhergestellt wird. Bekanntlich weist Odysseus, um dem verlockenden, aber todbringenden Gesang der Sirenen widerstehen zu können, seine Gefährten an, ihn an den Mastbaum seines Schiffes zu binden und seinen Bitten, ihn freizulassen, solange nicht nachzukommen, bis der Gesang der Sirenen ihn nicht mehr erreichen kann. So geschieht es, und nach überstandener Gefahr binden die Gefährten Odysseus vom Mastbaum los.Footnote 2Nach der Situation, für die er die Anweisung gegeben hat und in der er, vom Gesang der Sirenen betört, entscheidungsunfähig ist, erlangt also Odysseus seine Kompetenz wieder.

  2. 2.

    Man kann den Ausdruck auch auf Selbstbindungen beziehen, die nicht an die Wiedererlangung der Kompetenz nach der aktualen Behandlungssituation gebunden sind. Paradigmatisch für solche Anweisungen sind bestimmte Demenzanweisungen, nämlich Anweisungen für das Spätstadium der Demenz, auf das nicht eine Wiedergewinnung (auch nicht eine partielle Wiedergewinnung) der Kompetenz, sondern der Tod folgt. Jemand kann z. B. im Zustand der Kompetenz darum bitten, im Spätstadium der Demenz bei Lungenentzündung auch dann nicht mehr behandelt zu werden, wenn er in der aktualen Behandlungssituation ausdrücklich um eine solche Behandlung bittet oder wenn seinem „natürlichen Willen“ eine Präferenz für eine solche Behandlung zu entnehmen ist. Er gibt dann vorausblickend eine Anweisung für eine Behandlung, zu der er aber – anders als im Odysseus-Szenario – nicht retrospektiv von einem späteren Zustand der wiedererlangten Kompetenz aus wird Stellung nehmen können.

Warum ist es so wichtig, zwischen diesen beiden Verwendungsweisen des Ausdrucks „Odysseus-Anweisung“ und den damit spezifizierten Situationstypen zu unterscheiden? Odysseus–Szenarien sind geeignet, unsere Intuition auf den Plan zu rufen, dass es manchmal gerechtfertigt ist, gegen den Willen einer Person in einer konkreten Behandlungssituation zu handeln – denn kaum jemand wird bestreiten, dass die Gefährten des Odysseus richtig handelten, als sie seinen Bitten, ihn vom Mastbaum zu lösen, nicht entsprachen. Da aber Odysseus seine Kompetenz nach dieser Situation wiedererlangt, ist nicht auszuschließen, dass der Grund dafür, dass seine Gefährten richtig handelten, als sie sich seinen Bitten widersetzen, darin liegt, dass Odysseus später, d. h. im Zustand der wiedererlangten Kompetenz, dieser Handlungsweise zustimmt. Häufig ist der Grund dafür, gegen eine Handlungspräferenz einer Person zu handeln, die angenommene spätere Zustimmung der Person, gegen deren Präferenz gehandelt wird. Jemand mag seine Tochter gegen deren Neigung in die Klavierstunde schicken, weil er annimmt, dass sie später einmal diesem Handeln gegen ihre aktualen Interessen ihre Zustimmung geben wird. Eine Ärztin mag dem Wunsch eines Zeugen Jehovas, keine Bluttransfusion zur Rettung seines Lebens zu erhalten, in einer Behandlungssituation nicht entsprechen, also die Bluttransfusion vornehmen, weil sie annimmt, dass der Patient später einmal diesem Handeln gegen seinen Willen in der aktualen Behandlungssituation zustimmt. Tut er dies, wird man dazu neigen, das Handeln der Ärztin für gerechtfertigt zu halten; tut er dies nicht, sondern macht der Ärztin Vorwürfe, wird man ihr Handeln prima facie als Autonomieverletzung moralisch bedenklich finden. Entscheidend für die Beurteilung der Nichtbefolgung aktualer Handlungspräferenzen ist in solchen Fällen also die stattfindende oder ausbleibende spätere Zustimmung des Patienten im Zustand der wiederlangten Kompetenz. Möglicherweise ist dies auch in Odysseus-Szenarien der Fall.

Wenn auch für die normative Beurteilung der Nichtbefolgung von Handlungspräferenzen in Odysseus-Szenarien die spätere Zustimmung im Zustand der Kompetenz ausschlaggebend ist, bedeutet dies im Wesentlichen zweierlei:

  1. 1.

    Die Einstufung der Nichtbefolgung der aktualen Handlungspräferenzen als moralisch legitim – vielleicht sogar als moralisch gefordert – lässt keinen Rückschluss auf die Bindungskraft der vorhergehenden Anweisung zu, denn der Grund dafür kann ja eben in der von der Anweisung ganz unabhängigen späteren Zustimmung liegen. Es ist widerspruchsfrei möglich, der Aussage zuzustimmen, dass die Gefährten des Odysseus richtig handelten, als sie seinen Bitten, ihn vom Mastbaum loszubinden, nicht entsprachen, ohne aber der Aussage zuzustimmen, dass der Grund dafür, dass sie richtig handelten, in der vorherigen Anweisung des Odysseus lag. Der ersten Aussage zuzustimmen, der zweiten aber die Zustimmung zu verweigern ist widerspruchsfrei möglich, sofern man die spätere Zustimmung des Odysseus als Grund dafür ansieht, dass die Gefährten richtig handelten. Tut man dies, wird man auch behaupten, dass die Gefährten des Odysseus bei Vorliegen einer späteren Zustimmung selbst dann richtig gehandelt hätten, als sie den Bitten des Odysseus, ihn vom Mastbaum zu binden, nicht entsprachen, wenn es überhaupt keine vorhergehende Anweisung des Odysseus gegeben hätte. Auch hierin liegt nichts Widersprüchliches. Ebenso ist es widerspruchsfrei möglich zu behaupten, dass ein Arzt richtig handelt, wenn er die Präferenz eines Zeugen Jehovas gegen eine Bluttransfusion in einer Behandlungssituation ignoriert, ohne zu behaupten, dass der Grund dafür in einer vorhergehenden Anweisung oder dem früheren Willen des Patienten liegen muss. Auch hier kann der Grund für die Richtigkeit des Handelns in der späteren Zustimmung des Patienten liegen. Wenn in Odysseus-Szenarien die im Zustand der wiedererlangten Kompetenz erfolgende oder ausbleibende Zustimmung für die Beurteilung des Handelns in der Behandlungssituation entscheidend ist, gilt: Die normative Einstufung dieses Handelns als erlaubt oder gefordert ist neutral gegenüber der Beurteilung der Bindungskraft der vorhergehenden Anweisung. Mit ihr ist dann über diese Bindungskraft gar nichts gesagt.

  2. 2.

    Die Beurteilung von Odysseus-Szenarien ist nicht auf Fälle übertragbar, in denen keine Kompetenz wiedererlangt wird – also etwa auf Verfügungen für das Stadium der Spätdemenz. Verfehlt wäre es also, mit Hinweis auf Odysseus-Szenarien zunächst die Intuition zu mobilisieren, dass es doch manchmal legitim sein kann, gegen den aktualen Patientenwillen zu handeln, und diese Intuition dann auf Fälle zu übertragen, in denen keine Kompetenz wiedererlangt wird, denn in diesen Fällen kann eine spätere Zustimmung im Zustand wiedererlangter Kompetenz ja gar nicht vorliegen. Wenn aber diese spätere Zustimmung der Grund dafür ist, dass die Nichtbeachtung aktualer Präferenzen legitim ist, kann diese Nichtbeachtung aktualer Präferenzen in diesen Fällen nicht in gleicher Weise rechtfertigend begründet werden wie in Odysseus-Szenarien. Angenommen also, eine Person verfügt als kompetente Person, dass sie im Zustand der Spätdemenz bei Lungenentzündung nicht mehr behandelt werden möchte, zeigt aber in der aktualen Behandlungssituation als Dementer dann unzweideutig Überlebenswillen und Präferenzen für eine Behandlung der Lungenentzündung. In diesem Fall können wir die Nichtbeachtung der aktualen Präferenzen des Patienten nicht mit dem Hinweis darauf begründen, dass wir doch auch in Odysseus-Szenarien die Nichtbeachtung dieser aktualen Präferenzen für legitim halten würden – denn dort tun wir es möglicherweise aus Gründen, die im Falle von Demenzverfügungen in Ermangelung eines sich anschließenden Stadiums der wiedererlangten Kompetenz gar nicht vorliegen können. Und es wäre auch verfehlt zu argumentieren, dass wir, da wir doch in Odysseus-Szenarien die Anweisung des Odysseus an seine Gefährten als verbindlich ansehen würden, auch die Anweisung des Dementen für die spätere Behandlungssituation als verbindlich ansehen sollten. Wie soeben ausgeführt, zeigt die Billigung des Handelns der Gefährten des Odysseus nicht, dass wir die Anweisung des Odysseus an seine Gefährten als verbindlich ansehen würden; folglich kann auch nicht per analogiam gefolgert werden, dass wir die auf eine spätere Situation der Behandlung des Dementen abzielende Demenzverfügung als verbindlich ansehen müssten.

2 II.

Es ist sinnvoll, auf die im vorhergehenden Abschnitt genannten Schwierigkeiten zu reagieren, indem man die beiden genannten Fallgruppen (Odysseus-Szenarien vs. Demenzverfügungen) terminologisch und inhaltlich klar voneinander unterscheidet. Daher möchte ich vorschlagen, die Verwendung des Ausdrucks „Odysseus-Anweisung“ konsequent auf jene Fälle einzuschränken, in denen wie in der ursprünglichen Odysseus-Szenerie die Kompetenz der Person nach der Behandlungssituation wiedererlangt wird. Es bietet sich dann an, den Ausdruck „Selbstbindung“ als allgemeineren Ausdruck zu verwenden, unter den sowohl Odysseus-Anweisungen als auch diejenigen Selbstbindungen, die mangels einer wiedererlangten Kompetenz nach der Behandlungssituation nicht die Struktur von Odysseus-Anweisungen aufweisen, zu subsumieren sind. Es gilt dann also: Einige, aber nicht alle Selbstbindungen sind Odysseus-Anweisungen. Diejenigen Selbstbindungen, die sich auf einen Zustand beziehen, dem ein Zustand einer wiedererlangten Kompetenz nachfolgt, sind Odysseus-Anweisungen. Diejenigen Selbstbindungen, die sich auf einen Zustand beziehen, dem kein Zustand einer wiedererlangten Kompetenz nachfolgt, wofür Anweisungen für den Zustand der Spätdemenz paradigmatisch sind, sind keine Odysseus-Anweisungen. Demenzverfügungen sind demnach, wenn sie sich auf das Spätstadium der Krankheit beziehen, niemals Odysseus-Verfügungen.Footnote 3 Die Ausdrücke „Odysseus-Anweisung“ und „Selbstbindung“ sind nicht synonym und haben nicht die gleiche Begriffsextension.Footnote 4

Eine solche Unterscheidung verschiedener Arten von Selbstbindungen – solchen, die die Struktur von Odysseus-Anweisungen haben und solchen, die dies nicht haben – scheint mir ungeachtet der daraus entstehenden Komplikation sinnvoll, dass in manchen Fällen zum Zeitpunkt der Abfassung der Anweisung nicht klar ist, welcher der beiden Untergruppen von Selbstbindungen diese Anweisung zuzuordnen ist, weil dies von der späteren Handlung des Arztes abhängt. Angenommen z. B., ein Zeuge Jehovas legt sich aus religiösen Gründen darauf fest, dass er eine Bluttransfusion zur Rettung seines Lebens ablehnt, und zwar selbst für den von ihm als möglich erachteten Fall, dass er unter dem Eindruck der unmittelbaren Lebensbedrohung ausdrücklich um eine solche Transfusion bitten wird. Wenn der Arzt nun in der Behandlungssituation, in der der Zeuge Jehovas tatsächlich um eine Bluttransfusion bittet, dieser Bitte entspricht, der Patient also überlebt, folgt auf die Behandlungssituation ein Zustand der Kompetenz; es handelt sich dann also aufgrund der Wiedererlangung der Kompetenz nach der soeben vorgeschlagenen Terminologie um eine Odysseus-Anweisung. Wenn andererseits der Arzt der Bitte des Patienten in der Behandlungssituation nicht entspricht, sondern die Bluttransfusion gemäß dem vorherigen Wunsch des Patienten unterlässt, also den Patienten sterben lässt, folgt auf die Behandlungssituation nicht ein Zustand wiedererlangter Kompetenz, sondern der Tod des Patienten. In diesem Fall handelt es sich dann um eine Selbstbindung, die nicht die Struktur einer Odysseus-Anweisung hat. Die Konsequenz, dass manchmal erst das ärztliche Handeln entscheidet, um welche Art von Selbstbindung es sich handelt, scheint mir hinnehmbar. Wir werden dann in Bezug auf solche Fälle sagen, dass eine Selbstbindung vorliegt und dass es vom ärztlichen Handeln abhängt, ob diese die Struktur einer Odysseus-Anweisung hat oder nicht. Entscheidet sich der Arzt, den Patienten nicht sterben zu lassen, so macht er damit die Anweisung zu einer Odysseus-Anweisung. Er nimmt damit, sofern die erfolgende oder ausbleibende Zustimmung im späteren Zustand der Kompetenz für die Beurteilung seines Handelns als moralisch richtig oder falsch maßgeblich ist, das Risiko in Kauf, dass, wenn der Patient im späteren Zustand der Kompetenz seine rückblickende Zustimmung verweigert, die ärztliche Handlung eben dadurch zu einer falschen wird.

Die genannte Komplikation stellt also kein Gegenargument gegen die Unterscheidung zweier Arten von Selbstbindung dar. Diese Unterscheidung ist sinnvoll, um den Konfusionen vorzubeugen, die daraus resultieren, dass man moralische Intuitionen, die in Bezug auf die eine Art von Selbstbindungen wohlbegründet sind, unbesehen auf die andere Art von Selbstbindungen übertragen zu können glaubt.

3 III.

Auf der Grundlage der Unterscheidung zweier Arten von Selbstbindungen können wir nun in Bezug auf jeden der beiden dadurch erfassten Situationstypen fragen, unter welchen – jeweils unterschiedlichen – Bedingungen die Selbstbindungen als verbindlich anzusehen sind. In Bezug auf die erste Gruppe von Selbstbindungen, die Odysseus-Anweisungen, war bereits angedeutet worden, dass es plausibel ist, die im späteren Zustand der wiederhergestellten Kompetenz erfolgende oder ausbleibende Zustimmung als Kriterium dafür aufzufassen, ob die Nichtberücksichtigung der Präferenzen in der aktualen Handlungssituation legitim ist oder nicht. Demnach wäre das Handeln der Gefährten des Odysseus als richtig einzustufen, weil Odysseus rückblickend der vorhergehenden Nichtbeachtung seines Wunsches, vom Mastbaum gelöst zu werden, zustimmt. Ebenso wäre auch das Handeln des Arztes, der dem Zeugen Jehovas gegen dessen vorher geäußerten Wunsch eine Bluttransfusion verabreicht und dadurch sein Leben rettet, dann als richtig einzustufen, wenn der Patient diesem Handeln im später wiedererlangten Zustand der Kompetenz zustimmt. Bleibt hingegen eine solche Zustimmung aus, ist das Handeln gegen den aktualen Patientenwillen in Odysseus-Szenarien als falsch einzustufen.Footnote 5

Gegen die These, dass in Odysseus-Szenarien die spätere Zustimmung des Patienten, nicht die vorhergehende Anweisung, die Nichtbeachtung seiner Präferenzen in der konkreten Behandlungssituation rechtfertigt, liegt der Einwand nahe, dass damit die eigentliche Odysseus-Anweisung, also die vor der Behandlungssituation von der kompetenten Person geäußerte Anweisung, den eigenen späteren Präferenzen nicht zu entsprechen, überflüssig gemacht würde. Wenn der Grund dafür, dass die Gefährten richtig handelten, als sie Odysseus nicht vom Mastbaum losbanden, darin liegt, dass er dieser Handlungsweise später zustimmt, welche Rolle spielt dann noch seine vorhergehende Anweisung, dies zu tun? Und wird nicht die Anweisung eines Suizidgefährdeten, ihn im Falle einer vorübergehenden Psychose und suizidaler Neigung notfalls auch mit Zwangsmaßnahmen und gegen seinen Willen in eine Klink einzuweisen, überflüssig, wenn der Grund dafür, dass es richtig ist, ihn in die Klinik einzuweisen, darin liegt, dass er dieser Zwangshandlung später, nach dem Abklingen der Psychose, zustimmen wird? Wird nicht die Odysseus-Anweisung rechtfertigungstheoretisch redundant, wenn die erfolgende oder ausbleibende Zustimmung im späteren Zustand der wiedererlangten Kompetenz entscheidend dafür ist, ob das Handeln gegen die Wünsche einer Person in einer Behandlungssituation legitim ist oder nicht?

Dieser Einwand ist jedoch verfehlt. Dass in Odysseus-Szenarien die vorhergehende Anweisung keine Rechtfertigungsgrundlage für das Handeln gegen den Patientenwillen in einer konkreten Behandlungssituation darstellt, zeigt nicht, dass sie überflüssig wäre. Vielmehr liegt die Funktion einer solchen Anweisung auf der Hand: Sie ist für den Handelnden ein wertvolles Indiz dafür, dass eine spätere Zustimmung der Person, gegen deren Präferenzen in der Behandlungssituation gehandelt wird, angenommen werden kann. Dass Odysseus seinen Gefährten die Anweisung gab, seinen Bitten, ihn vom Mastbaum loszulösen, später nicht nachzukommen, war für diese ein wertvolles Indiz dafür, dass er auch nach der Wiedererlangung seiner Kompetenz dieser Handlung zustimmen würde. Die Vermutung, dass eine spätere Zustimmung als wahrscheinlich unterstellt werden kann, ist jedenfalls bei Vorliegen einer Odysseus-Anweisung sehr viel besser begründet als ohne sie. Wer eine Zwangseinweisung eines Patienten vornimmt, kann bei Vorliegen einer dieser autorisierenden vorhergehenden Anweisung mit größerer Sicherheit von einer zu erwartenden späteren Zustimmung des Patienten zu dieser Maßnahme ausgehen als ohne sie. Die vorhergehende Argumentation, die die Richtigkeit des Handelns gemäß einer Odysseus-Anweisung an die spätere Zustimmung des Patienten im Zustand wiedererlangter Kompetenz bindet, nötigt also keinesfalls dazu, das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Odysseus-Anweisung für in moralischer Hinsicht irrelevant erklären zu müssen.

4 IV.

Wie verhält es sich bei denjenigen Selbstbindungen, die keine Odysseus-Anweisungen sind, bei denen also eine spätere Zustimmung zum Handeln gegen die Präferenzen des Patienten in der aktualen Behandlungssituation nicht mehr möglich ist, wie dies bei den auf das Spätstadium der Demenz bezogenen Demenzverfügungen der Fall ist? Auch hier stellt sich – wie im Falle der Odysseus-Anweisungen – die Frage, ob die selbstbindende Anweisung angesichts der Tatsache zu befolgen ist, dass der Wille des Patienten in der konkreten Behandlungssituation dem in der Anweisung ausgedrückten Willen der kompetenten Person für diese Behandlungssituation entgegensteht. Viel diskutiert wurde Dworkins berühmter „Fall Margo“, d. h. der Fall einer „glücklichen Dementen“. Dworkin fordert den Leser auf sich vorzustellen, dass Margo als kompetente Person verfügt hätte, im Falle der Demenz bei Eintreten einer lebensbedrohlichen Krankheit nicht mehr behandelt zu werden. Im Zustand der Demenz aber würde sie dann auf reduziertem Niveau ein durchaus glückliches Leben führen und alle Anzeichen eines fortdauernden Lebenswillens zeigen – sollte man in diesem Fall die lebensbedrohliche Krankheit behandeln oder nicht?Footnote 6 Man kann Dworkins Szenario dahingehend erweitern, dass man sich vorstellt, Margo hätte diese Anweisung sogar ausdrücklich auch für den Fall gegeben, dass sie selbst im Zustand der Demenz einen gegenläufigen Wunsch äußern, also die Behandlung wünschen würde. Die Frage nach der Respektabilität der Verfügung für das Handeln in der konkreten Behandlungssituation stellt sich dann in verschärfter Form. Ähnlich gelagert ist der in Deutschland viel diskutierte Fall des Rhetorik-Professors Walter Jens, der als kompetenter Intellektueller wortgewaltig seinen Wunsch ausdrückte, niemals im Zustand der Demenz vor sich hinvegetieren zu müssen, dann aber, tatsächlich dement geworden, in diesem Zustand allem Anschein nach ein durchaus glückliches und zufriedenes Leben führte.

Will man in Bezug auf solche Fälle die Frage nach der Verbindlichkeit von Selbstbindungen stellen, so ist zu fragen, ob der der vorherigen Selbstbindung entgegenstehende Wille des dementen Patienten die Bedingungen erfüllt, die erfüllt sein müssen, damit dieser Wille als Widerruf der vorhergehenden Anweisung aufgefasst werden kann. Prima facie sollte von Selbstbindungen dieser Art gelten, was von allen vorausschauenden Willensbekundungen für spätere Behandlungssituationen gilt, nämlich dass sie revidierbar sind. Wenn eine kompetente Person zum Zeitpunkt t1 verfügt, zum späteren Zeitpunkt t2 auf eine bestimmte Weise behandelt oder nicht behandelt werden zu wollen, kann sie diesen Wunsch nach t1 und vor t2 offensichtlich im Normalfall revidieren. Tut sie dies, ist der zu t1 geäußerte Wunsch nicht mehr als derjenige Wunsch einschlägig, der zu t2 festlegt, was die Person will. Zu fragen ist also, welche notwendigen und hinreichenden Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein späterer Wille als Revision des früheren aufgefasst werden kann und ob diese Bedingungen auch dann erfüllt sind, wenn der spätere Wille derjenige eines dementen Patienten ist.

Ohne diese Frage hier ausführlich erörtern zu können sei stichwortartig angedeutet, wie sie in Bezug auf die verschiedenen hier in Frage kommenden Bedingungen erörtert und beantwortet werden könnte.Footnote 7 Es ließe sich argumentieren, dass eine notwendige Bedingung dafür, dass der spätere Wille als Revision des früheren gilt, ist, dass die Wünsche und Werte, die im späteren Willen zum Ausdruck kommen, andere sind als diejenigen, die im früheren Willen zum Ausdruck kommen, dass also die früheren Wünsche und Präferenzen durch die späteren ersetzt wurden (Ersetzungsbedingung). Diese Bedingung ist in den von Dworkin konstruierten „Margo-Fällen“ zweifellos erfüllt, denn die demente Patientin zeigt in Bezug auf ihre Behandlung zum Behandlungszeitpunkt andere Wünsche und Präferenzen als die frühere kompetente Person. Hingegen ließe sich argumentieren, dass es für die Revision des früheren Willens durch den späteren nicht notwendig (wenngleich hinreichend) ist, dass jemand sich ausdrücklich entscheidet, die früheren Wünsche und Präferenzen aufzugeben, denn der Wechsel von einem Präferenzset zum anderen kann auch in Form eines allmählichen Übergangs – einer sich graduell vollziehenden Änderung von Lebensplänen und Wertvorstellungen – stattfinden (Entscheidungsbedingung). Die Tatsache, dass der Demente sich nicht ausdrücklich entscheidet, seine früheren Präferenzen zu ändern, würde demnach nicht gegen die Möglichkeit sprechen, dass der geänderte Wille des Dementen als Revision des früheren Willens der kompetenten Person aufzufassen ist. Und schließlich ließe sich dafür argumentieren, dass es für eine Revision des früheren Willens durch den späteren Willen auch nicht notwendig ist, dass frühere Willensbekundungen explizit zurückgenommen werden (Rücknahmebedingung). Schon die bloße Tatsache, dass eine Willensäußerung sehr lange zurückliegt, lässt uns im Allgemeinen zweifeln, ob diese Willensäußerung noch dem gegenwärtigen Willen einer Person entspricht, und zwar auch dann, wenn sie nicht explizit zurückgenommen wurde. Auch die Tatsache, dass der demente Patient seine früheren, im Zustand der Kompetenz geäußerten Wünsche nicht ausdrücklich zurückgenommen hat, würde demnach nicht ausschließen, dass sein gegenwärtiger Wille als Revision des früheren Willens aufzufassen ist. Es ließen sich also – wie hier nur angedeutet werden konnte – durchaus Argumente formulieren, um in Bezug auf Selbstbindungen, die keine Odysseus-Anweisungen sind, zu zeigen, dass der spätere Wille eines dementen Patienten den früheren, in der Selbstbindung der kompetenten Person zum Ausdruck kommenden Willen außer Kraft setzt.

5 V.

Im Vorhergehenden konnten nicht auch nur ansatzweise alle normativen Probleme erörtert werden, die mit Selbstbindungen und Odysseus-Anweisungen einhergehen – so etwa hätte eine ausführliche Diskussion der Problematik auch die Frage zu erörtern, ob demente Patienten noch mit ihren kompetenten „Vorgängern“ personal identisch sind und welche normativen Konsequenzen sich aus einer eventuellen Durchbrechung der diachronen personalen Identität ergeben.Footnote 8 Im Rahmen dieses kurzen Diskussionsbeitrages kam es mir lediglich darauf an zu zeigen, dass nicht alle Selbstbindungen Odysseus-Anweisungen sind und wir den Ausdruck „Odysseus-Anweisungen“ für die Bezeichnung derjenigen Selbstbindungen reservieren sollten, die durch die wiederkehrende Kompetenz einer Person nach der aktualen Behandlungssituation gekennzeichnet sind. Diese Differenzierung ermöglicht es, die Konfusionen zu vermeiden, die drohen, wenn man glaubt, das in Bezug auf Odysseus-Anweisungen Gesagte (z. B.) auf Demenzverfügungen übertragen zu können. Die Frage, ob Selbstbindungen kompetenter Personen angesichts entgegenstehender Willensbekundungen in der konkreten Behandlungssituation zu respektieren sind oder nicht, stellt sich in beiden Fällen von Selbstbindungen auf ganz unterschiedliche Art. Auch die Argumente, mit denen sich eine bejahende Antwort auf diese Frage begründen lässt, sind in beiden Fällen ganz unterschiedlicher Art.