Skip to main content
Log in

Interpersonales Dilemma statt irrtumsfreie Nichtübereinstimmung: Ein anderer Blick auf das Phänomen, das den moralischen Relativismus motiviert

No Disagreement, But Dilemma: A Different Take on the Phenomenon that Motivates Moral Relativism

  • Fachaufsatz
  • Published:
Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie Aims and scope Submit manuscript

Abstract

The aim of moral relativism is to explain how it is possible that X judges: „A ought to be done“, and Y judges: „A ought not to be done“, and both judgments are true. Both indexical relativists and genuine relativists take as their starting point the relation of negation between the judgments. Genuine relativists maintain that there is a content which is accepted in the first judgment and rejected in the second, and that the truth of the two judgments is to be evaluated by different moral standards. Indexicalists think that the content accepted in the first judgment is different from the content rejected in the second judgment, and that the respective contents are determined by different moral standards. I argue, first, that neither indexicalists nor genuine relativists succeed in accounting for the incompatibility of the two judgments. Second, I propose to interpret this incompatibility as an aspect of interpersonal moral dilemmas, i. e., as a practical conflict between two true moral judgments. The proposal accounts for the relation of negation between the judgments by showing it to be an implication of the conflict. Furthermore, the proposal is open to be spelled out by either a relativist or a universalist semantics for moral concepts.

Zusammenfassung

Relativisten wollen erklären, wie es möglich ist, dass X urteilt „A soll vollzogen werden“ und Y urteilt „A soll nicht vollzogen werden“ und beide das Wahre urteilen. Sowohl indexikalistische Relativisten als auch Wahrheitsrelativisten gehen dabei vom Verhältnis der Negation zwischen den Urteilen aus. Wahrheitsrelativisten halten dafür, dass im ersten Urteil ein Inhalt akzeptiert wird, der im zweiten abgelehnt wird, und dass die Wahrheit beider Urteile durch verschiedene moralische Standards zu evaluieren ist. Indexikalisten denken, dass im ersten Urteil ein anderer Inhalt akzeptiert wird, als im zweiten abgelehnt wird, und dass der Inhalt beider Urteile durch verschiedene Standards determiniert wird. Ich argumentiere zum einen, dass keine der beiden Positionen verständlich machen kann, weshalb die beiden Urteile unvereinbar sind. Zum anderen schlage ich vor, die Unvereinbarkeit der Urteile als interpersonales Dilemma zu deuten, also als praktischen Konflikt zwischen wahren moralischen Urteilen. Dieser Vorschlag kann das Negationsverhältnis zwischen den Urteilen als Implikation des Konflikts verständlich machen. Er ist außerdem ebenso offen für eine relativistische wie für eine universalistische Semantik moralischer Begriffe.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this article

Price excludes VAT (USA)
Tax calculation will be finalised during checkout.

Instant access to the full article PDF.

Institutional subscriptions

Similar content being viewed by others

Notes

  1. Meine Formulierung des Verhältnisses der irrtumsfreien Entgegensetzung weicht von den Formulierungen von Lyons und Dreier ab, insofern ich den Begriff „sollen“ zugrundelege; Lyons geht von „Die Handlung von X ist falsch“ versus „Die Handlung von X ist nicht falsch“ aus, Dreier von „gut“. Meine Formulierung erleichtert es später, die Brücke zu Dilemmata zu schlagen, die ja für gewöhnlich mit „sollen“ formuliert werden. Wie im Zuge meiner Kritik am Indexikalismus (in Abschnitt 3.1) noch deutlich werden wird, ist die Frage, welche dünnen moralischen Begriffe hier verwendet werden können, theoretisch gehaltvoll; vgl. auch unten, Fn. 39.

  2. Vertreter des indexikalischen Relativismus in der Moral sind u. a. Gilbert Harman, David Wong, James Dreier und David Velleman. Max Kölbel und John MacFarlane sind prominente Vertreter des moralischen Wahrheitsrelativismus.

  3. Unter dieser abstrakten Beschreibung trifft sich mein eigenes Anliegen mit Carol Rovanes kritischer Auseinandersetzung mit dem Relativismus. In der Durchführung der Kritik und im Hinblick auf das positive Angebot entfernen sich unsere Projekte jedoch voneinander. Vgl. Rovane (2013).

  4. Im Hintergrund meines Arguments steht ein umfassenderes, phänomenologisch begründetes Ungenügen, das ich hier nur andeuten kann. Indexikalische Relativisten und Wahrheitsrelativisten propagieren uniforme Erklärungen relativistischer Intuitionen nicht nur in der Moral, sondern in den verschiedensten Bereichen des Denkens und Urteilens. Ein einziger, im Kern immer gleicher theoretischer Zug in der Semantik soll all diesen verschiedenen Phänomenbereichen gerecht werden (welcher Zug das jeweils ist, wird in den Abschnitten 3.1 und 3.2 kurz umrissen). Meiner Ansicht nach verdient aber jede dieser Formen von Relativität oder Uneinigkeit eine eigene, die spezifische Natur der Phänomene würdigende Erklärung. Beide Theorierichtungen laufen Gefahr, die Unterschiede zwischen den Phänomenen aus dem Blick zu verlieren. Meine Kritik am moralischen Relativismus ist mit diesem Ungenügen verknüpft. Das Phänomen im Zuge der Uniformitätsannahme auf den Aspekt des Negationsverhältnisses zu reduzieren, befördert zum einen die Idee, dass das, was hier zu erklären ist, eine besondere Art von Nichtübereinstimmung ist. Eine besondere Art von Nichtübereinstimmung mit avancierten semantischen Mitteln verständlich machen zu können, verführt zum anderen dazu, das Phänomen auf dieses Negationsverhältnis zu reduzieren und bestätigt so wiederum die Uniformitätsannahme. Das Modell interpersonaler Dilemmata soll eine Alternative zu beiden Tendenzen bieten und exemplarisch vorführen, wie entschlossen man sich im Bemühen um phänomenale Angemessenheit von den eingefahrenen Bahnen relativistischer Theorien entfernen muss. Inwiefern mein Vorschlag die verschiedenen Aspekte irrtumsfreier Entgegensetzungen in der Moral besser verständlich zu machen vermag als diese Theorien, kann ich im vorliegenden Aufsatz allerdings nicht ausführen.

  5. Ich verwende die Begriffe der Kultur, der moralischen Kultur, der moralischen oder kulturellen Gemeinschaft hier, ohne mich auf eine bestimmte soziologische Theorie zu berufen. Was die Kulturen, die ich im Blick habe, im grundlegenden Sinne definiert, ist, dass sie dieselben moralischen Praktiken und damit im Großen und Ganzen dieselben moralbezogenen Lebensweisen tradieren. Was außerdem noch an Eigenschaften auf Kulturen in dieser Bedeutung allgemein zutrifft – vielleicht, dass ihre Angehörigen miteinander kooperieren (vgl. Wong 2006, Kap. 2), Medien gemeinsamer öffentlicher Kommunikation teilen und nutzen, in räumlicher Nähe zueinander leben (vgl. Velleman 2015, S. 1), in einem einheitlichen politischen System leben usw. –, müsste sich aus diesem moralsoziologischen Kriterium ableiten lassen. Es soll durch meine hypostasierende Redeweise nicht bestritten werden, dass moralische Kulturen vage und poröse Grenzen haben, sich gegenseitig durchdringen, Subkulturen ausbilden und sich historisch verändern.

  6. Das Phänomen, das den Relativismus motiviert, ist traditionell von Relativisten und Gegnern des Relativismus anders beschrieben worden, als ich es hier mache: nicht als Negationsverhältnis von zwei wahren moralischen Urteilen, sondern als tiefe Nichtübereinstimmung, das heißt als Negationsverhältnis zwischen moralischen Urteilen, von denen keines auf irgendeinem Fehler in der Urteilsbildung zu beruhen scheint (vgl. z. B. Wong 1984; Harman 1996; Shafer-Landau 2003; Schmidt 2009). Die Beschreibung als tiefe Nichtübereinstimmung lässt offen, ob beide Urteile tatsächlich wahr sind, denn auch ein Urteil, in dessen Ausbildung kein Fehler begangen wurde, kann unwahr sein. Relativisten fiel angesichts dieses Phänomens die Rolle zu zu argumentieren, dass tiefe Nichtübereinstimmung am besten als Entgegensetzung von wahren Urteilen zu erklären ist (beispielhaft in Wong 1984), Universalisten, dass das nicht der Fall ist (beispielhaft in Shafer-Landau 2003, Kap. 9). In jüngerer Zeit hat dieser Weg über ein Argument aus der besten Erklärung unter Relativisten an Attraktivität und Anhängerschaft verloren. Bei Kölbel und MacFarlane spielt es keine prominente Rolle, und Velleman erteilt ihm ausdrücklich eine Absage (Velleman 2015, S. 75). Wong (2006) und Velleman (2015) beschreiben das Phänomen, das den Relativismus motiviert, dagegen als Negationsverhältnis zwischen wahren moralischen Urteilen, das als solches unmittelbar – ohne den Umweg über ein Argument aus der besten Erklärung – erkannt werden kann. Sie behandeln es damit als ein Datum der Ethnologie, nicht als das Ergebnis einer philosophischen Erklärung. Ohne eigens dafür argumentieren zu können, gehe ich in meinen Überlegungen arguendo davon aus, dass diese Herangehensweise angemessen und gerechtfertigt ist.

  7. In dieser Frage gibt es verschiedene Standpunkte: Wong (2006) vertritt einen „pluralistischen Relativismus“, dem gemäß einige moralische Normen relativ auf Kulturen sind, einige universal. Velleman (2015, S. 93 ff.) gesteht zu, dass es moralische Normen geben kann, die in verschiedenen Kulturen gleich lauten, insistiert aber, dass auch diese scheinbar universalen, tatsächlich lediglich ubiquitären Normen immer in Bezug auf den jeweiligen Standard der Kultur evaluiert werden müssen. Im Rahmen von Dreiers „Sprecher-Relativismus“ (1990) sind alle Normen relativ auf die subjektive Menge an moralischen Haltungen desjenigen, der ein moralisches Urteil fällt.

  8. Ganz ähnlich beschreibt Velleman unsere Haltung angesichts fremder Praktiken des Unwahrheitsagens: „It would seem odd for us to condemn those practices as dishonest. The strongest negative attitude we are likely to have is to be glad that we don’t live among the practitioners, while granting that if we did, we probably wouldn’t regret it“ (Velleman 2015, S. 73).

  9. Etwas Analoges gilt für dritte Parteien, also Beobachter von interkulturellen Entgegensetzungen.

  10. Andere Fälle, die ich als überzeugend empfinde, präsentieren Wong und Velleman, teilweise ebenfalls unter Rückgriff auf ethnologische Studien. Wong führt die in China verbreitete Einstellung an, dass Kinder es ihren Eltern schuldig sind, ihre eigene (der Kinder) Gesundheit zu bewahren. Eine vergleichbare Pflicht ist in den Gesellschaften Nordamerikas und Westeuropas nicht bekannt (Wong 2006, S. 16 f.). Velleman nennt Beispiele für Praktiken des Umgangs mit bewusst unwahren Aussagen, die vom nordamerikanischen Umgang mit „Lügen“ abweichen. Clifford Geertz beschreibt etwa eine auf Java praktizierte Form des harmlosen Unwahrheitsagens, die anders als die amerikanische „white lie“ keiner Rechtfertigung oder Begründung bedarf (Velleman 2015, S. 65 ff.).

  11. Wenn ich auf dieses Beispiel im Folgenden zurückgreife, werde ich es variieren, indem ich verschiedene unvereinbare Aspekte der beiden Erziehungspraktiken herausgreife. Mehrere Dinge sind zu meiner Verwendung von Meads Studie anzumerken: Mead spricht selbst nicht davon, dass Samoaner oder US-Amerikaner moralische Überzeugungen haben und moralisch urteilen, das ist meine Interpretation ihrer Befunde. Es gab eine fachinterne Kontroverse um Meads Erkenntnisse, deren Wendungen ich nicht vollständig nachvollziehen und nicht abschließend beurteilen kann; ich nutze ihr Buch als ein Beispiel für einen möglichen, durchaus wahrscheinlichen anthropologischen Befund, dessen Wahrscheinlichkeit nicht unterminiert wäre, wenn Mead nicht sauber gearbeitet hätte. Die einhellige US-amerikanische Haltung zu Fragen der Sexualerziehung, die ich der Einfachheit halber unterstelle, gab es in den 1920er Jahren nach Meads Darstellung gerade nicht; Mead schildert die US-amerikanische Gesellschaft in Erziehungsfragen als zutiefst heterogen und zerrissen.

    Zu dem von mir vorausgesetzten Verständnis des gewählten Beispiels ist darüber hinaus folgendes anzumerken: Es ist im Prinzip möglich, das samoanische Urteil oder das negierende US-amerikanische Urteil oder beide als parochiale moralische Urteile zu verstehen. Parochiale moralische Urteile bringen moralische Normen zum Ausdruck, die ihrem Inhalt nach auf die Angehörigen der Gemeinschaft relativiert sind, für die diese Normen Gültigkeit besitzen. Fasste man das samoanische Urteil als parochiales Urteil auf, dann könnte es zum Beispiel so lauten: „Es soll gewährleistet sein, dass junge samoanische Frauen so aufwachsen, dass sie selbstbestimmt sexuelle Erfahrungen mit ungefähr gleichaltrigen Samoaner/innen beider Geschlechter sammeln können“. Zwischen zwei parochialen moralischen Urteilen, die sich auf die Normen verschiedener Gemeinschaften beziehen, kann es offenkundig nicht zu irrtumsfreien Entgegensetzungen kommen. Zwischen einem parochialen und einem nicht-parochialen, inhaltlich unbeschränkten Urteil kann es zu einer irrtumsfreien Entgegensetzung kommen (die Unvereinbarkeit von jüdischem Beschneidungsgebot und dem Schutz der Gesundheit nicht-einwilligungsfähiger Kinder könnte in diesem Sinn verstanden werden). Der Einfachheit halber und in Übereinstimmung mit dem Selbstverständnis relativistischer Metaethiken verstehe ich das Beispiel der samoanischen und US-amerikanischen Erziehungspraktiken so, dass in ihm zwei nicht-parochiale Urteile einander entgegengesetzt sind. Die „jungen Frauen“, von denen in beiden Urteilen die Rede ist, sind also jeweils alle jungen Frauen, gleich, welcher Kultur sie angehören. Von einer Erörterung der Frage, ob dieses Verständnis für dieses konkrete Beispiel ethnologisch plausibel ist, sehe ich ab.

  12. Mead vergleicht im letzten Kapitel ihres Buches die Bedingungen und pädagogischen Vorstellungen, die das Aufwachsen von samoanischen Jugendlichen prägen, mit den US-amerikanischen und arbeitet dabei, durchaus in reformerischer Absicht, Vorzüge der samoanischen Lebensweise heraus. Nach meiner Lesart stellt sie die samoanische Erziehungspraxis in moralischer Hinsicht aber nicht über die US-amerikanische. Es scheint also nicht unplausibel, Mead hier eine Ambivalenz im Sinne Wongs zuzuschreiben.

  13. Andere interkulturelle Entgegensetzungen, die sich aus verschiedenen moralischen Praktiken ergeben, eignen sich auch bei beträchtlichem Wohlwollen schlecht als Beispiele für irrtumsfreie Entgegensetzungen; ich denke etwa an die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung.

  14. Hier mag die Frage aufkommen, ob diese Haltung nicht einfach nur Ausdruck der Einsichten ist, dass die Lebensumstände auf Samoa in den 1920ern ganz andere waren als unsere heutigen (oder die US-amerikanischen zur selben Zeit) und dass es daher für jede und jeden, die unter diesen Umständen sozialisiert worden sind und lebten, moralisch richtig gewesen wäre, entsprechend der samoanischen Praxis zu handeln. Im Hintergrund dieser Frage steht eine alternative Erklärung von irrtumsfreien Entgegensetzungen, auf die ich im vorliegenden Aufsatz nicht in gebührendem Maße eingehen kann. Nur so viel: Diese Erklärung geht davon aus, dass irrtumsfreie Entgegensetzungen, abweichend von meiner Darstellung, folgende Form haben: Das eine Subjekt urteilt „Unter Umständen U soll A vollzogen werden“, das andere urteilt „Unter Umständen V soll A nicht vollzogen werden“. Dass beide Urteile zusammen wahr sein können, ist offenkundig. Da ich für die Zwecke meines Arguments, also arguendo, davon ausgehe, dass die Relativistische Beobachtung zutrifft, gehe ich auch davon aus, dass diese alternative Erklärung nicht zutrifft (vgl. auch Fn. 6). Ohne das hier ausführen zu können, halte ich es für richtig, dass verschiedene Umstände eine Rolle im Zustandekommen von irrtumsfreien Entgegensetzungen spielen. Verschiedene Umstände gehen meiner Auffassung nach allerdings nicht, wie in der skizzierten alternativen Erklärung, in die Inhalte der einander irrtumsfrei entgegenstehenden Urteile ein, sondern in die Rechtfertigung der moralischen Praktiken, durch die diese Urteile wahr werden. Zu der alternativen Erklärung vgl. Wongs (1984, S. 66) Ausführungen zu „environmental relativity“ und Velleman (2015, S. 79 f.).

  15. Williams’ Formulierung passt nicht in jeglicher Hinsicht zu der dialektischen Situation, die ich entworfen habe. Er geht davon aus, dass das Phänomen, das Relativisten erklären wollen, zumindest auf den ersten Blick wie eine gewöhnliche, den Konflikt von Wahrheitsbedingungen einschließende Nichtübereinstimmung erscheint. Das ist nicht oder wenigstens nicht zwingend der Fall, wenn ich die Relativistische Beobachtung richtig beschrieben habe. Vgl. oben, Fn. 6.

  16. Indexikalisten berufen sich dabei vor allem auf David Kaplans Abhandlung „Demonstratives“ (1989) und auf John Perrys Arbeiten zu Kaplans Semantik (1977; 1979).

  17. Das ist freilich der einfachste Fall; für indirekte Redeweisen, Zitate und andere Sprechsituationen ist die Zuordnungsvorschrift komplizierter, aber davon sehe ich hier ab. Vgl. dazu z. B. Dreier (1990).

  18. In der Frage, was den moralischen Standard eines Subjekts ausmacht, gibt es große Unterschiede zwischen verschiedenen Relativisten. Dreier (1990) nimmt an, dass das angemessen durch soziale Anforderungen modifizierte System der moralischen Neigungen eines Subjekts seinen Standard ausmacht, Harman (1996) geht davon aus, dass der Standard durch implizite Übereinkünfte bestimmt wird, Wong (2006) davon, dass quasi-evolutionäre Konventionen, die Funktionen der Kooperation und Koordination erfüllen, den Standard festlegen, Velleman (2015) sieht moralische Standards durch das Bedürfnis nach gegenseitiger Interpretation geprägt.

  19. Zum Konzept der Irrtumstheorie, vgl. Mackie (1977, S. 35).

  20. Zur Kritik an dieser ersten Strategie, vgl. auch Ernst (2008) und Schmidt (2009).

  21. Zu Harman und Björnsson und Finlay, siehe Fn. 23.

  22. Ich danke einer/einem anonymen Gutachter/in der Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie für Hinweise, die zur Differenzierung meines Arguments an dieser Stelle geführt haben.

  23. Harman (1996, Kap. 3), Wong (2006, S. 72) und Björnsson und Finlay (2010, S. 27) deuten an, dass der indexikalische Relativismus mit einer expressivistischen Theorie moralischer Urteile oder mit einer non-kognitivistischen Moralpsychologie zu einer hybriden, teils kognitivistischen, teil non-kognitivistischen Metaethik verbunden werden muss, um das Problem der Nichtübereinstimmung zu lösen. Wie in anderen kognitivistischen Theorien besitzen moralische Urteile demnach zwar Wahrheitsbedingungen, aber zusätzlich kommen in ihnen auch non-kognitive Haltungen zum Ausdruck. Nichtübereinstimmung zwischen irrtumsfrei einander entgegengesetzen moralischen Urteilen soll über diese non-kognitive Ebene des Ausdrucks und in Anlehnung an expressivistische Metaethiken wie die von Gibbard (1990) erklärt werden, und der Eindruck, es bestehe zwischen den Urteilen ein Konflikt hinsichtlich der Wahrheitsbedingungen, soll sich auf die tatsächlich vorhandene non-kognitive Nichtübereinstimmung zurückführen lassen. Dieser Vorschlag kann als Variation von Vellemans Strategie verstanden werden; meine Kritik an ihm adressiert strukturell ähnliche Punkte. Die vermeintliche Nichtübereinstimmung zwischen den Urteilen einer irrtumsfreien Entgegensetzung auf eine non-kognitivistisch verstandene, nicht in den Wahrheitsbedingungen der involvierten Urteile begründeten Nichtübereinstimmung zurückzuführen, ist zum einen deshalb problematisch, weil damit unklar wird, warum die Urteile im Verhältnis der Negation stehen müssen, zum anderen deshalb, weil nicht alle Arten von irrtumsfreien Entgegensetzungen unvereinbare non-kognitive Haltungen einschließen.

  24. Vgl. zum Folgenden Kölbel (2004), MacFarlane (2007, 2014).

  25. Ein knapper Überblick über die sich intuitiv aufdrängenden Einwände gegen den Wahrheitsrelativismus findet sich in MacFarlane (2014, Kap. 2).

  26. Sepp kann zum Beispiel im November sagen: „Das, was Lisa im letzten Mai gesagt hat, traf zu.“.

  27. Ich sehe nicht, dass Perrys Terminologie in unserem dialektischen Umfeld gute Dienste leisten kann. Perry will die epistemische Signifikanz von Sätzen für bestimmte Subjekte charakterisieren, aber das relativistische „wahr für X“ ist keine epistemische Relation. Sieht man von der mangelnden Einschlägigkeit der Unterscheidung ab, ist MacFarlanes Punkt aber trotzdem nachvollziehbar und richtig.

  28. Zur strukturellen Analogie zwischen Indexikalismus und Wahrheitsrelativismus vgl. auch Dreier (2009).

  29. Vgl. zum Folgenden MacFarlane (2014, Kap. 3).

  30. Diese Terminologie für den Zug, den MacFarlane in Absetzung von Kölbel und anderen vornimmt, ist von Lyons (1976) eingeführt worden. Ich bin mir nicht sicher, ob MacFarlane sich der Tatsache bewusst ist, dass diese Unterscheidung zumindest in der Debatte über moralischen Relativismus seit Lyons’ Aufsatz bekannt ist.

  31. Daher ist es tatsächlich auch unplausibel anzunehmen, dass Sepp Lisas Satz spontan als falsch beurteilen würde. Er würde sich auf die Beurteilung „Das, was Lisa sagt, ist falsch“ nur unter bestimmten Bedingungen einlassen – wenn man ihn zum Beispiel ausdrücklich auffordern würde, Lisas Satz zu evaluieren statt das, was Lisa durch diesen Satz zum Ausdruck bringen wollte.

  32. Es steht Wahrheitsrelativisten natürlich offen, diesen Problemen zu begegnen, indem sie dem Vorbild von Indexikalisten folgen und eine hybride Strategie zur Erklärung von irrtumsfreien Entgegensetzungen auf der Grundlage ihrer beurteilungssensitiven wahrheitsrelativistischen Semantik entwickeln.

  33. Vgl. Marcus (1980), McConnell (1988).

  34. Zum Begriff der Praxis in diesem Sinne, vgl. Thompson (2008, Teil 3) und Jaeggi (2014, Kap. 2).

  35. Dabei ist zu beachten, dass die Subjekte dieser Handlungen nicht Individuen sein müssen. Manche moralisch geforderten Handlungen sind kollektive Handlungen, an denen mehrere oder auch alle Angehörigen einer Kultur mitwirken sollen. „X“ und „Y“ können also auch kollektive Akteure vertreten.

  36. Im Kontext kollidierender Erziehungspraktiken lässt sich alternativ auch leicht vorstellen, dass die Unvereinbarkeit nicht oder zumindest nicht nur in sozialen, sondern in psychischen Umständen begründet liegt. Es könnte sein, dass es für die betreffenden jungen Frauen psychisch nicht möglich ist, im Zuge ihrer Sexualerziehung zugleich eine Haltung des explorativen und selbstbestimmten Umgangs mit ihrer eigenen Sexualität und eine Haltung der Aufmerksamkeit für und Vermeidung von Gefahren auszubilden.

  37. Ich übernehme hier die Herleitung von McConnell (1978). Auf das Problem, das Williams (1973) für Dilemmata aufwirft und das sich aus der Gültigkeit von „ought implies can“ und dem von Williams so genannten „agglomeration principle“ ergibt, gehe ich nicht eigens ein.

  38. Eine offenkundige, aber für die Interpretation des ethnologischen Materials tragweitenhafte Konsequenz meines Vorschlags ist, dass irrtumsfreie Entgegensetzungen zwischen den moralischen Überzeugungen der Angehörigen verschiedener Kulturen nur dann vorliegen können, wenn die fraglichen Normen sich nicht zusammen verwirklichen lassen. Diese Konsequenz mag auf den ersten Blick unplausibel erscheinen – kommt es nicht vor, dass in einer Kultur „A soll vollzogen werden“ gilt und in einer anderen, weit entfernten Kultur „A soll nicht vollzogen werden“, und dass sich beide Vorschriften aufgrund der Entfernung der Kulturen unproblematisch zusammen umsetzen lassen? Ich kann auf die Einordnung dieser Konsequenz und die Frage ihrer Plausibilität hier nicht in gebührendem Umfang eingehen. Daher nur zwei knappe Anmerkungen: Aus meiner Sicht ist es zum einen nicht offensichtlich der Fall, dass es zwischen den moralischen Normen entfernter Kulturen keine Konflikte geben kann. Wenn es sich nicht um parochiale Normen handelt, sondern um Normen mit universalem Skopus (s. o., Fn. 11), dann könnte der Umstand, dass Kultur 1 nicht die moralischen Normen von Kultur 2 umsetzt, per se als bloß eingeschränkte, nicht vollständige Verwirklichung der Normen von Kultur 2 interpretiert werden. Zum anderen scheint es mir eine empirische, die Erkenntnisse der Ethnologie und Anthropologie involvierende Frage zu sein, ob das Urteilsverhältnis der irrtumsfreien Entgegensetzung tatsächlich zwischen Kulturen vorkommt, die gar keinen lebensweltlichen Kontakt miteinander haben. Aus meiner Sicht spricht vieles dafür, dass das nicht der Fall ist, da eine überzeugende Lesart des ethnologischen Materials besagt, dass die Handlungstypen, die in den Normen der einen Kultur vorgeschrieben oder verboten sind, nicht dieselben Handlungstypen sind, die in den Normen der anderen Kultur verboten oder vorgeschrieben sind (vgl. dazu Wong 2006, Kap. 1 und Velleman 2015, Kap. 4). Und zwischen wahren Urteilen, in denen verschiedene Handlungstypen figurieren − also Urteilen der Form „A soll vollzogen werden“ und „B soll nicht vollzogen werden“ −, kann es keine irrtumsfreien Entgegensetzungen geben. Es sei denn, beide lassen sich nicht zusammen verwirklichen − womit eben der meinem Vorschlag zugrundeliegende Fall eines interpersonalen Dilemmas vorläge.

  39. Aus meiner Sicht sind bloß „erlaubte“ oder bloß „nicht falsche“ moralische Handlungstypen, ebenso wie die sie betreffenden Normen, Teile des artikulierten Ensembles von Handlungstypen und Normen, die eine moralische Praxis oder Lebensweise ausmachen. Die moralische Norm, die in der einen Kultur einen Handlungstyp verbietet, steht nur dann im Verhältnis der irrtumsfreien Entgegensetzung zur Norm einer anderen Kultur, die denselben Handlungstyp weder verbietet noch vorschreibt, wenn die Praktiken, deren Teile diese Normen jeweils sind, praktisch miteinander inkompatibel sind und die Angehörigen der beiden Kulturen sich daher hinsichtlich dieser Praktiken im Verhältnis eines interpersonalen Dilemmas befinden. Mir ist bewusst, dass diese Andeutung eingehender ausgeführt werden müsste, um klar zu machen, wie mein eigener Vorschlag dem Problem entgeht, das ich in Abschn. 3.1 für die hybride indexikalistische Strategie aufgeworfen habe, und warum hybride Indexikalisten sich meine Lösung dieses Problems nicht einfach zu eigen machen können. Dass sich mein Vorschlag von der Strategie hybrider Indexikalisten grundlegend unterscheidet, ist aber auch unabhängig von diesem Punkt offenkundig.

Literatur

  • Björnsson, Gunnar und Finlay, Stephen. 2010. Metaethical Contextualism Defended. Ethics 121: 7‑36.

    Article  Google Scholar 

  • Dreier, James. 1990. Internalism and Speaker Relativism. Ethics 101: 6‑26.

    Article  Google Scholar 

  • Dreier, James. 2009. Relativism (and Expressivism) and the Problem of Disagreement. Philosophical Perspectives 23: 79-110.

    Article  Google Scholar 

  • Ernst, Gerhard. 2008. Die Objektivität der Moral. Paderborn: Mentis.

    Google Scholar 

  • Van Fraassen, Bas. 1973. Values and the Heart’s Command. The Journal of Philosophy 70: 5‑19.

    Article  Google Scholar 

  • Gibbard, Allan. 1990. Wise Choices, Apt Feelings. Cambridge (Mass.): Harvard University Press.

    Google Scholar 

  • Harman, Gilbert. 1996. Part I: Moral Relativism. In Harman, Gilbert und Thomson, Judith, Moral Relativism and Moral Objectivity, 1‑64. Oxford: Blackwell.

    Google Scholar 

  • Jaeggi, Rahel. 2014. Kritik von Lebensformen. Berlin: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Kaplan, David. 1989. Demonstratives: An essay on the semantics, logic, metaphysics, and epistemology of demonstratives and other indexicals. In Themes from Kaplan, Hrsg. J. Almog, J. Perry, H. Wettstein, 481-566. Oxford: Oxford University Press.

    Google Scholar 

  • Kölbel, Max. 2004. Faultless Disagreement. Proceedings of the Aristotelian Society 104: 53-73.

    Article  Google Scholar 

  • Lyons, David. 1976. Ethical Relativism and the Problem of Incoherence. Ethics 86: 107-121.

    Article  Google Scholar 

  • MacFarlane, John. 2007. Relativism and Disagreement. Philosophical Studies 132: 17-31.

    Article  Google Scholar 

  • MacFarlane, John. 2014. Assessment Sensitivity. Relative Truth and its Applications. Oxford: Clarendon Press.

    Book  Google Scholar 

  • Mackie, John. 1977. Ethics. Inventing Right and Wrong. London: Pelican.

    Google Scholar 

  • Marcus, Ruth. 1980. Moral Dilemmas and Consistency. The Journal of Philosophy 77: 121-136.

    Article  Google Scholar 

  • McConnel, Terrance. 1978. Moral Dilemmas and Consistency in Ethics. Canadian Journal of Philosophy 8: 269-287.

    Article  Google Scholar 

  • McConnell, Terrance. 1988. Interpersonal Moral Conflicts. American Philosophical Quarterly 25: 25-35.

    Google Scholar 

  • Mead, Margaret. 1928. Coming of Age in Samoa. A Psychological Study of Primitive Youth for Western Civilisation. New York: William Morrow and Co.

    Google Scholar 

  • Perry, John. 1977. Frege on Demonstratives. The Philosophical Review 86: 474-497.

    Article  Google Scholar 

  • Perry, John. 1979. The Problem of the Essential Indexical. Noûs 13: 3‑21.

    Article  Google Scholar 

  • Perry, John. 1986. Thought without representation. Proceedings of the Aristotelian Society 60: 137-152.

    Article  Google Scholar 

  • Rovane, Carol. 2013. The Metaphysics and Ethics of Relativism. Cambridge (Mass.): Harvard University Press.

    Book  Google Scholar 

  • Schmidt, Thomas. 2009. Die Herausforderung des ethischen Relativismus. In Moralischer Relativismus, Hrsg. G. Ernst, 117-137. Paderborn: Mentis.

    Google Scholar 

  • Shafer-Landau, Russ. 2003. Moral Realism. A Defence. Oxford: Oxford University Press.

    Book  Google Scholar 

  • Thompson, Michael. 2008. Life and Action. Elementary Structures of Practice and Practical Thought. Cambridge (Mass.): Harvard University Press.

    Book  Google Scholar 

  • Velleman, David. 2015. Foundations for Moral Relativism: Second Expanded Edition. Cambridge: Open Book Publishers.

    Book  Google Scholar 

  • Wagner DeCew, Judith. 1990. Moral Conflicts and Ethical Relativism. Ethics 101:27–41.

    Article  Google Scholar 

  • Williams, Bernard. 1973. Ethical Consistency. In ders., Problems of the Self, 166-186. Cambrigde: Cambrigde University Press.

    Chapter  Google Scholar 

  • Williams, Bernard. 1985. Ethics and the Limits of Philosophy. London: Routledge.

    Google Scholar 

  • Wong, David. 1984. Moral Relativity. Berkeley: University of California Press.

    Google Scholar 

  • Wong, David. 2006. Natural Moralities. A Defense of Pluralistic Relativism. Oxford: Oxford University Press.

    Book  Google Scholar 

Download references

Danksagung

Ich danke zwei anonymen Gutachter/innen der Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie für hilfreiche Einwände und Hinweise zur Überarbeitung.

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Peter Wiersbinski.

Rights and permissions

Reprints and permissions

About this article

Check for updates. Verify currency and authenticity via CrossMark

Cite this article

Wiersbinski, P. Interpersonales Dilemma statt irrtumsfreie Nichtübereinstimmung: Ein anderer Blick auf das Phänomen, das den moralischen Relativismus motiviert. ZEMO 1, 237–261 (2018). https://doi.org/10.1007/s42048-019-00027-6

Download citation

  • Published:

  • Issue Date:

  • DOI: https://doi.org/10.1007/s42048-019-00027-6

Schlüsselwörter

Keywords

Navigation