1 Einleitung

Der Beitrag nimmt eine nach 2015 zu beobachtende Doppelbewegung zum Ausgangspunkt: Das bürgerschaftliche Engagement, das in Deutschland im Zuge der Fluchtzuwanderung entstanden ist, gilt als „Sternstunde“ der Zivilgesellschaft (Schiffauer et al. 2017). Zur gleichen Zeit nahmen gewalttätige Angriffe auf Geflüchtete (und ihre Unterkünfte) zu, die Pegida-Bewegung weitete sich aus und es kam zu bundeweiten Wahlerfolgen der rechten Alternative für Deutschland (AfD). Sie kritisierten die Asylpolitik der Regierung Angela Merkels, und Islamkritik gehört zu ihrer identifikationsstiftenden Grundausstattung. Die konträre Positionierung von Aktiven der so genannten „Willkommenskultur“ auf der einen und rechtspopulistischen Positionen auf der anderen Seite lässt sich als Ausdruck einer sich verschärfenden gesellschaftlichen Polarisierung (Zick et al. 2016; Roose 2021) deuten. Die Zustimmung zu rechtspopulistischen Forderungen und Einstellungen – wie Antisemitismus und Islamfeindlichkeit – wird in repräsentativen Studien wie die von Zick et al. (2016) oder Decker et al. (2016) auch in der „gesellschaftlichen Mitte“ gesehen. Im Folgenden nehmen wir diesen Aspekt in den Blick, nicht zuletzt aufgrund einer überraschenden Beobachtung in einem Forschungsprojekt, in dem wir der Entwicklung der „Willkommenskultur“ zwischen 2015 und heute in Deutschland nachgehen. Dazu erhoben wir auf der Mikroebene Engagement-Biographien von ehrenamtlich Aktiven in ausgewählten deutschen Mittelstädten, die unterschiedlichen organisationalen und politischen Spektren zuzurechnen sind. Dabei machten wir die Beobachtung, dass sich viele unserer Gesprächspartner:innen zum Thema Islam positionierten obwohl dieses nicht Teil des Interviewleitfadens war und nicht danach gefragt wurde. In einem Teil der Äußerungen werden generalisierte Vorurteile gegenüber „dem Islam“ und Muslim:innen artikuliert. Auch wird unter Engagierten eine (vermutete) Nähe und Distanz zum Islam seitens der Geflüchteten als Hinweis für deren Integrationsfähigkeit bzw. -unfähigkeit gesehen. Hieraus ergeben sich Fragen, die für das Verhältnis von Religion und Migration relevant sind: Warum positionieren sich die Interviewten ungefragt zum Thema Islam, und wie thematisieren sie ihre eigene Religiosität? In welchem Verhältnis stehen bei den Interviewten Religion, Demokratie und die gesellschaftliche Integration von Geflüchteten? Wir argumentieren mit Bezugnahme auf das theoretische Konzept der Etablierten-Außenseiter-Figuration von Norbert Elias und James Scotson (1993), dass die emotional habituelle Dynamik der Abwertung von Fremdgruppen auch bei einem Teil derjenigen zum Ausdruck kommt, die Geflüchtete unterstützen.

2 Das Engagement für Geflüchtete im Licht der Forschung

Mit dem Engagementschub im Bereich von Flucht und Asyl in Deutschland nach 2014 erstarkte auch das wissenschaftliche Interesse an diesem. Dazu zählen etwa Bestandsaufnahmen der als besonders vielfältig und innovativ charakterisierten Engagementformen (bspw. Schiffauer et al. 2017), vergleichende Analysen des Engagements in den deutschen Bundesländern (bspw. Aumüller et al. 2015), Städten und Kommunen (bspw. Gesemann und Seidel 2019) oder in typischen Engagementfeldern (z. B. zu Angeboten für geflüchtete Frauen vgl. Akdemir et al. 2023). Das zivilgesellschaftliche Engagement wird reflektiert in Studien, die sich beispielsweise mit dem „Dispositiv des Helfens“ und damit verbundenen benevolenten Einstellungen Engagierter gegenüber den Geflüchteten auseinandersetzen (bspw. Steinhilper und Fleischmann 2016). Andere Studien ordnen das Phänomen „Willkommenskultur“ gesellschaftsdiagnostisch und demokratietheoretisch, auch vor dem Hintergrund rechtspopulistischer Mobilisierungs- und Wahlerfolge, ein (bspw. Dinkelaker et al. 2021). Da das zivilgesellschaftliche Engagement insbesondere in Deutschland (und Österreich) breite Bevölkerungskreise umfasste und vergleichbar langanhaltend war, konzentrieren wir uns im Folgenden auf Studien zu Deutschland.

Eine Reihe von Umfragen zum zivilgesellschaftlichem Engagement für Geflüchtete sucht die Motive, Einstellungen und Praktiken der Engagierten zu ergründen. Zur Kontextualisierung unseres Forschungsgegenstands stellen wir einige Befunde dar:

Das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) und Demoskopie Allensbach verdeutlichen in ihrer repräsentativen Bevölkerungsumfrage das Ausmaß des Engagements für Geflüchtete: „Seit 2015 haben 55 % der Bevölkerung Flüchtlinge in Deutschland in irgendeiner Weise unterstützt, sei es durch Sach- und Geldspenden, durch öffentliche Fürsprache in Leserbriefen und Unterschriftenaktionen oder durch aktive Hilfen. (…) [A]ktuell sind noch 19 % der Bevölkerung in irgendeiner Weise unterstützend tätig.“ (BMFSFJ 2017, S. 8). Zu den Motiven der Engagierten heißt es: „Mehr als andere legen sie besonderen Wert auf soziale Gerechtigkeit und die Unterstützung von Menschen in Not. Zudem sind sie eher offen für Neues und häufig an anderen Ländern und anderen Kulturen interessiert.“ (ebd., S. 9; S. 25ff.). Wie stark religiöse Motivationen für das Engagement für Geflüchtete sind, wird in der Literatur nicht eindeutig beantwortet. In der BMFSFJ/Allensbach-Studie sagen 18 %, dass sie über ihre Kirchengemeinde den Weg in die Geflüchtetenhilfe gefunden haben; Mutz und Wolf messen den Kirchen und religiösen Motiven eine vergleichsweise geringere Rolle als in anderen Engagementfeldern bei (Mutz und Wolff 2018, S. 26). Nagel und El-Menouar (2017) konstatieren, dass etwa die Hälfte der Muslim:innen zur Hochzeit der „Willkommenskultur“ ehrenamtlich aktiv gewesen sei. Sie identifizieren als Gemeinsamkeit von christlichen und muslimischen Engagierten in der Geflüchtetenunterstützung, dass diejenigen, die eine enge Gemeindeanbindung haben sich auch mehr für Geflüchtete einsetzen als diejenigen mit einer geringeren oder nur zeremoniell-wöchentlichen Gemeindeanbindung (ebd., S. 29). Dies zeigt, dass wenn die religiöse Gemeinde auch als sozialer Ort begriffen wird, das Engagement dort höher ist. Möglicherweise gibt es in Umfragen eine systematische Unterschätzung des muslimischen Engagements. In der christlichen Mehrheitsgesellschaft werden von Studien erstens eher christliche Gemeindemitglieder befragt. So wird von Gesemann und Seidel (2019) in einer breit angelegten Umfrage von Initiativen zur Geflüchtetenhilfe nur nach „Kirchen“ gefragt, was z. B. Moscheegemeinden nicht einschließt. Zweitens engagieren sich Muslim:innen möglicherweise mit einer großen Selbstverständlichkeit und begreifen Hilfe als eine der fünf Säulen des Islam und damit Anrecht von Bedürftigen im Sinne der religiösen Solidarethik (Nagel und El-Menouar 2017, S. 25; Kahraman und Songur 2018). Evers und Klie betrachten im Zweiten Engagementbericht der Bundesregierung das Engagement von Muslim:innen und von muslimisch-migrantischen Organisationen als „eine kulturell bedeutsame Öffnung ihrer Organisationen (…). Diese wichtige Brückenfunktion kann helfen, Alternativen zu Organisationsformen und -angeboten zu schaffen, die Integration eher bremsen oder gar verhindern wollen, bis hin zu extremen Erscheinungen wie den Rekrutierungsstrategien von Salafisten“ (Evers und Klie 2018, S. 528). Kritisch einzuwenden ist, dass in dieser Studie Muslim:innen mit Migrant:innen gleichgesetzt werden, obgleich eine ethnische, nationale und religiöse Diversität unter den Geflüchteten anzutreffen ist.

Die Mehrheit der Engagierten gibt an auch in anderen Feldern ehrenamtlich aktiv zu sein (BMFSFJ, S. 10); zugleich hatte sich gut ein Drittel noch nie aktiv engagiert (36 %). Die Studie konstatiert, dass neun Prozent der Gesamtbevölkerung „zum ersten Mal zu aktiver Hilfeleistung motiviert“ (ebd., S. 13) wurde. Hilfe bereite ihnen „Freude“ äußerten 58 % als zentrales Motiv für das Engagement (ebd., S. 9); und 81 % berichten von tiefer Dankbarkeit, die ihnen die Geflüchteten entgegenbrächten (ebd., S. 37).

Die mit 90.000 befragten Vereinen und Organisationen größte Untersuchung zum zivilgesellschaftlichen Engagement ZiViZ (Zivilgesellschaft in Zahlen) unterscheidet „zwischen zwei Organisationstypen: die ‚alteingesessenen‘ Flüchtlingshilfeorganisationen und jene, die temporär in der Flüchtlingshilfe aktiv geworden sind“ (Priemer und Schmidt 2019, S. 1). Diese Ausgangslage zeigt sich auch in unserem Sample, in dem langjährig Engagierte ebenso vertreten sind wie Personen, die erst um 2015 begannen sich zu engagieren, teils in Organisationen, die spontan entstanden und nicht immer in Kontakt waren mit den „alteingesessenen“ Organisationen der Geflüchtetenunterstützung. Religionsgemeinschaften sind Teil der Initiativlandschaft der „Willkommenskultur“ (Aumüller et al. 2015; Evers und Klie 2018). Für den ländlichen Raum wird von Aumüller hervorgehoben, dass die Akzeptanz religiöser Vielfalt nicht selbstverständlich sei und daher ein Aufgabengebiet für ehrenamtliches Engagement bilde (Aumüller et al. 2015, S. 104).

Zur lokalen und gesellschaftlichen Stimmungslage der Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Geflüchteten geben einige Studien ebenfalls Auskunft. Dem BMFSFJ berichteten 28 %, dass sie in ihren Wohnorten eine „offene Ablehnung von Flüchtlingen registriert“ haben (BMFSFJ 2017, S. 45); weitere 15 % befürchten diese künftig. Ein Viertel gab an, „sie selbst seien wegen ihres Engagements schon angefeindet oder beleidigt worden“ (ebd.). Von den Autor:innen des Zweiten Engagementberichts heißt es: „Beides ist stark: Solidarität und Empathie, aber auch Wut, Hass und Verachtung. An ein und demselben Ort findet man mitunter eine fast bizarre Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Artikulationsformen von Bürgerengagement. Flüchtlingshelfer selbst wurden angegriffen (…) und die Radikalisierung der Pegida-Bewegungen zeigte ein Engagement, das alles andere als ‚zivil‘ ist.“ (Evers und Klie 2018, S. 518).

Bezüglich des Stands der Forschung lässt sich festhalten, dass in der Zeit zwischen 2015 und 2018 eine Vielzahl an Umfragen und Studien veröffentlicht wurden, die hilft, ein recht genaues Bild der „Willkommenskultur“ zu zeichnen. Mit unserem Forschungsprojekt zielen wir darauf ab, die Veränderungen im betreffenden Engagementfeld und die retrospektiven Deutungen der Aktiven dieser Phase herauszuarbeiten.

3 Datengrundlage und Methoden

Die Datengrundlage dieses Beitrags bilden 58 problemzentrierte qualitative Interviews mit Ehrenamtlichen aus vier der Städte-Fallstudien im Projekt „Die aktivierte Zivilgesellschaft. Eine Analyse der nachhaltigen Wirkung von bürgerschaftlichem Engagement auf Sozialkapital und Gemeinwohl in Deutschland“ (https://aktivzivil.de/). Es handelt sich dabei um zwei Mittelstädte in zwei nord- und westdeutschen Flächenbundesländern (Stadt B, Stadt D), um eine Mittelstadt in einem ostdeutschen Bundesland (Stadt A), das im weiteren Einzugsgebiet Berlins liegt, und eine Mittelstadt in einem süddeutschen Bundesland (Stadt C). Alle Interviewten sind oder waren ehrenamtlich in der Unterstützung Geflüchteter tätig. Der Zugang zu den Interviewten erfolgte über Organisationen und Netzwerke, die in der Unterstützungsarbeit für Geflüchtete aktiv sind. Die Interviewten gehören einem breiten Spektrum von Organisationen und Netzwerken an. Hauptamtliche gehörten nicht zum Sample, wohl aber gibt es Engagementverläufe, in denen sich ehrenamtliches, neben- und hauptamtliches Engagement abwechseln. Gemäß der Gesamtverteilung von Engagierten im Feld der „Willkommenskultur“ gehören vergleichsweise mehr Personen einer älteren Generation an und verfügen über keine eigene oder familiäre Flucht- und Migrationsbiographie. Die Haupterhebungsphase fand zwischen Frühsommer 2020 und Herbst 2021 statt und wurde durch die Corona-Pandemie beeinflusst. Anders als geplant konnten kaum teilnehmende Beobachtungen realisiert werden und die meisten Interviews mussten digital stattfinden. Diesbezüglich gab es zunächst – gerade von älteren Engagierten – Vorbehalte und gerade die Gesprächseinstiege verliefen formalisierter als für die Themenstellung wünschenswert. Im Sommer und Herbst 2022 wurden an allen Orten Nach- und Neuerhebungen zur Frage des Engagements für ukrainische Geflüchtete durchgeführt.

Der Interviewleitfaden orientierte sich am biographischen Engagementverlauf der Interviewten, wobei der Schwerpunkt auf den Erfahrungen in der Zeit zwischen 2014 und 2020–22 (der Phase der Datenerhebung) lag. Gefragt wurde nach eigenen Motiven und Erfahrungen, nach Abbrüchen und Wiederaufnahmen von Engagement, der Intensität sozialer Beziehungen, nach vertikalen und horizontalen Kooperationsbeziehungen sowie zu fluchtspezifischen Aspekten des Engagements. Für die Auswertung wurden alle Interviews transkribiert und in MaxQDA kodiert. Die Oberkategorien deckten die Forschungfragen ab. Zudem gab es Raum für induktiv ermittelte neue Kodes. Im Laufe des Auswertungsprozesses wurden diese Kodes in das Auswertungsschema integriert und auch die zuvor ausgewerteten Interviews auf diese hin untersucht.

Das Thema Religion war keines, das Bestandteil des Leitfadens war. Dennoch ist uns bei der Auswertung der Interviews aufgefallen, dass es eine bedeutende Rolle einnimmt. Und zwar nicht nur in Bezug auf die eigene Religiosität und in Verbindung mit der Motivation des eigenen Engagements, sondern auch in Bezug auf den Islam sowie die Religiosität der Geflüchteten, was in vielen der Interviews zur Sprache kam. Die religionsbezogenen Äußerungen waren teils integriert in die Beschreibungen der eigenen Engagementbiographie, bzw. tauchten teils als eigenes Thema und teils in Randbemerkungen auf. Die Passagen mit denen wir im Folgenden arbeiten sind dementsprechend unterschiedlich lang. In den Gesprächen mit Engagierten, die sich primär aus religiöser Motivation engagieren, steht das Thema Religion nicht notwendigerweise mehr im Zentrum als in den anderen. Dies deutet darauf hin, dass gerade die Frage des Islam sowie das Verhältnis von Religion und Gesellschaft seitens der Interviewten mit Bedeutung versehen wird.

4 Motive für das Engagement in der Geflüchtetenunterstützung

Auf die Frage weshalb sie sich in der Unterstützung geflüchteter Menschen engagieren, lassen sich in allen Orten und unabhängig von der Frage der Herkunft zwei dominante Bedeutungsstränge erfassen. Den meisten ist es wichtig, Menschen in Not zu helfen und Solidarität und Empathie zu zeigen. Auch die Orientierung an der Norm der Gleichheit aller Menschen und einem Humanismus sind leitend. Ein Engagierter (Stadt D) bringt es wie folgt auf den Punkt: „Immer noch der verrückte Gedanke, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen.“. Der Kontext solcher Aussagen war häufig die auch über die mediale Berichterstattung in 2015 gewonnene Überzeugung des Bestehens einer krisenhaften Ausnahmesituation, in der man hätte helfen müssen. Die Befunde aus unserer Studie decken sich dazu mit denen der repräsentativen Umfragen, die in der Hochphase des Engagements durchgeführt wurden (wie z. B. BMFSFJ 2017).

Bezogen auf die Frage der Bedeutung von religiösen Orientierungen für ehrenamtliches Engagement für Geflüchtete zeigt sich in unserem Sample ein Spektrum, das von eher pragmatischen Bezügen bis hin zu dezidiert religiösen Bezügen in unterschiedlicher Stärke reicht. Bei einigen Interviewten ist der Bezug zur Kirche oder Moschee vor allem ein pragmatischer und liegt in der lokalen Unterstützungsinfrastruktur begründet, bei der die christlichen Kirchen, aber auch die Moscheegemeinden, in großen Teilen Deutschlands eine wichtige Rolle spielen. „[D]as ist hier in [Stadt C] die Nachbarschaftshilfe kann man sagen, die kirchlich organisiert ist. (…) Die Grundlage ist vielleicht irgendwie die christlichen Werte, das ist vielleicht die Grundlage generell.“ (Engagierte Stadt C). Christliche Werte werden bei der Interviewpartnerin nicht zentral gesetzt, sondern als „vielleicht irgendwie“ relevant gesehen. Vergleichbar sind Engagierte, in denen professionelles Selbstverständnis und religiöse Orientierung als nah beieinanderliegend empfunden werden: „Wir sind in der evangelischen Kirche und haben dort auch einige Kontakte und engagieren [uns] auch. Ja, und ich bin ja auch Sozialarbeiterin von Beruf, da […] liegt es auf der Hand, dass Menschen mir am Herzen liegen und dass wir auch über den Tellerrand gucken und schauen, dass es auch unseren Mitmenschen irgendwie gut geht“ (Engagierte Stadt A). Die Orientierung am Wohlbefinden von anderen Menschen wird in einen religiös-institutionellen Zusammenhang eingebettet. Ganz ähnlich sind die Schilderungen eines in einer Moscheegemeinde Aktiven in Stadt D einzuordnen: „[I]n der Moscheegemeinde wurde die ganze Zeit darüber gesprochen, diskutiert, bei den Freitagspredigten (…). (Da) ist der Imam immer die Treppe hochgestiegen, also in die Kanzel hochgegangen und hat gesagt: ‚Da sind Leute, die brauchen Hilfe.‘ Und da hat man wirklich versucht etwas zu organisieren. Dann hat man irgendwann auch gemerkt, die wurden in der Nähe des Moscheevereins platziert, so ein paar hundert Meter weiter in einer Sporthalle, dass man dann auch gesagt hat, okay, wir bringen denen Essen rüber.“

Eine dezidiert christliche Wertorientierung drücken einige Engagierte aus, wenn sie über ihre Wahrnehmung der Not Geflüchteter und ihrer eigenen Position sprechen: „für mich hatte das ganz viel zu tun mit Menschsein, und mit auch mit dem Empfinden was heißt das – Mensch sein? Also diese christlichen Gebote, Werte, diese christlichen Werte.“ (Engagierte Stadt A). Eine religiöse Sozialisation – und damit Selbstverständlichkeit – als Motivation für das Engagement findet sich städteübergreifend bei einem Teil der Engagierten. Ein Aktiver aus Stadt D drückt es so aus: „Ich komme aus einem katholischen Elternhaus. Ich bin christlich sozialisiert und habe also schon relativ früh mich in vielen Bereichen von Gemeindearbeit engagiert und ich habe auch ein ausgeprägtes Empfinden für Ungerechtigkeiten (…). Alle Menschen, auch wenn sie unterschiedlich sind, haben gleiche Rechte. Und wenn solche Rechte dann massiv verletzt werden, weil ihnen zwar Rechte gesetzlich zugestanden werden, sie aber über Interpretation ihnen nicht gewährt werden, dann stört mich das sehr. Das ist ein Grund für Engagement.“ (Engagierter Stadt D) In dieser Aussage wird die eigene christliche Sozialisation mit dem Einsatz gegen Ungerechtigkeiten in einen konstitutiven Zusammenhang gebracht. Wir sehen hier also einen Verweis auf die Gleichheit aller Menschen, der ähnlich formuliert ist wie in den Interviews ohne expliziten Religionsbezug.

Ein Befund, auf den wir bei der Analyse der Referenzen zum Islam noch zurückkommen werden ist der, dass Engagierte, die ihr Engagement als christlich motiviert darstellen, die allgemeinen Wertorientierungen, die auch von Engagierten ohne Bezüge zum christlichen Glauben genannt werden, wie Menschen in Not zu helfen oder Solidarität zu zeigen, explizit mit ihrem Glauben in Verbindung setzen, also als christliche Attribute interpretieren.

5 Narrationen zum Islam unter Engagierten der „Willkommenskultur“

Welche Attribute und Narrative werden demgegenüber von den – wir beziehen uns hier auf die nicht-muslimischen – Engagierten mit dem Islam verbunden? Die maßgeblich positive Einschätzung der eigenen Religiosität bzw. des eigenen christlichen Glaubens, steht in starkem Kontrast zu häufig geäußerten negativen Einschätzungen der Auswirkungen des Islam auf seine Gläubigen bzw. auf Deutschland als Gesellschaft, die im Zuge der Fluchtbewegungen 2015 viele Menschen muslimischen Glaubens aufgenommen hat.

Im Material haben wir sechs Deutungsmuster identifiziert, die teilweise ineinander übergehen:

Der Islam als Hindernis für die Integration von Geflüchteten

Ein Beispiel für dieses Deutungsmuster ist eine Aussage einer in Stadt A Engagierten: „Dann ist es so, verschiedenste Religionen besonders eben auch, muss man leider sagen bei allem Respekt vor Religion, dass die Muslims die da gelandet waren, sehr unter sich hockten, sehr unter sich waren. Also ein Beispiel greife ich raus, einer war eben nur religiös. Der hat eben nur da seinen Koran gelesen und beschäftigte sich nur mit seiner Religion. Er war Allah zugewandt und alles andere interessierte ihn eigentlich nicht und er war glücklich, dass er ein Dach überm Kopf hatte.“ In der Formulierung „muss man leider sagen bei allem Respekt vor Religionen“ schwingt ein Moment der Entschuldigung mit, dafür, dass in der Folge eine pauschalisierende Aussage getroffen wird. Implizit wird in der Benennung der Abkapselung – „hockten sehr unter sich“ – angenommen, dass das „unter sich Hocken“ mit dem Islam zu tun habe. Die letzte Passage der Aussage thematisiert tiefe islamische Religiosität als Grund dafür, dass kein Interesse an der Mehrheitsgesellschaft besteht und in Folge dessen auch keine Bemühungen zur Integration bestünden. Es entsteht der Eindruck, muslimische Religion verhindere die Integration in andere Lebensbereiche.

Die Frage der von Anerkennung, Teilhabe und Integration – sowie der möglicherweise Brücken bildenden Funktion von muslimischen Engagierten – stellt sich für einen Ehrenamtlichen muslimischen Glaubens aus Stadt D wie folgt dar: „wenn ich gesagt habe, ich bin in einem Moscheeverein, dann gucken die immer leider so ein bisschen blöd. [S]eit zwei, drei Jahren geh ich da so ganz anders damit um, mit meiner Religion nach außen hin. Dass ich sage: ‚Ihr müsst mich respektieren, nicht ich euch‘. (…) Die Integration ist keine Einbahnstraße, also erwarte ich auch von euch Gegenleistung. Und das kommt, das kommt. Aber, wie soll ich sagen, man hat ja natürlich auch unter Kollegen die Situation, wenn ich mal die Frage gestellt bekomme: ‚Möchtest du deiner Tochter auch ein Kopftuch aufzwingen?‘ Dieses ‚Aufzwingen‘. Man merkt, was für ein Potenzial dahintersteckt. Wie die Leute, auch Kollegen, von zuhause aus geprägt sind und so gegenüber dem Islam oder muslimischen Menschen auftreten.“ In der Aussage zeigt sich eine Verunsicherung darüber wie Menschen auf das Engagement in einem Moscheeverein reagieren würden. Es zeigt sich die eigene Überraschung darüber, das Thema in seinem Umfeld selbst lange nicht angesprochen zu haben. In der Aussage ist aber auch ein Gewinn an Selbstbewusstsein in Bezug auf seine muslimische Identität spürbar, der mit der Einforderung von Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft einhergeht. Im letzten Teil wird deutlich, dass er sich immer noch mit einer Skepsis gegenüber dem Islam konfrontiert sieht. Im weiteren Verlauf des Interviews betont der Engagierte auch, dass andererseits in Folge der Kooperation der Moscheegemeinde mit anderen Institutionen aus Stadt D, die die Unterstützung Geflüchteter zum Ausgangspunkt hatte, erstmals das Gefühl hatte, dass er und seine Gemeinde auf Augenhöhe in städtische Angelegenheiten eingebunden wurden. Einerseits hat also sein Engagement dazu geführt, dass er und sein Verein endlich in städtische Netzwerke einbezogen wurden, gleichzeitig spürt er in Alltagssituationen eine deutliche Skepsis gegenüber seiner Religiosität.

Muslim:innen, die bei der Integration scheitern, radikalisieren sich

Eine in Stadt B Engagierte führt ihre Beobachtung zur Einflussnahme radikal-muslimischer Kräfte vor Ort wie folgt aus: „So kriegen wir das nie hin mit der Integration. Die werden frustriert. Ich sage Ihnen ganz ehrlich, ich habe schon Leute vor der Berufsschule beobachtet von den Salafisten, wir sind ja hier ziemlich durchseucht von den Salafisten in dieser Gegend hier, ne. Die holen die da ab, wenn sie aus der Prüfung kommen oder wenn die da aus dem Notfall kommen, das wissen die schon. Und ich sag Ihnen ganz ehrlich das ist leichtes Futter für die.“ Der Einfluss wird als lokal-spezifisch und quasi als Krankheit, die die öffentliche Gesundheit gefährde („durchseucht“) dargestellt. Im Verlauf des Interviews werden an verschiedenen Stellen so genannte „Islamkritiker“ als Quelle für die eigenen Überzeugungen genannt. Die Engagierte kritisiert, dass die Bundesregierung sich nicht mit diesen vermeintlichen Fakten auseinandersetzt. Kontext der Aussage ist die Beobachtung der Interviewten, dass die Teilnahme an Sprach- und Integrationskursen nicht kontrolliert würde, die geflüchteten Jugendlichen daher keine Anreize hätten an diesem teilzunehmen und dann die nötigen Prüfungen nicht bestehen könnten. Sie geht davon aus, dass Gruppen wie die Salafisten diese schwache Situation der Jugendlichen ausnutzten.

Muslimischer Glaube und die Gefahr gesellschaftlicher Abkapselung

Im folgenden Zitat wird deutlich, dass Engagierte Gruppenbildungsprozesse der neu Angekommenen genau beobachten und deuten: „Also ich halte es für ganz problematisch, wenn Flüchtlinge sich nur in ihre Gruppe einbringen, Afghanen unter den Afghanen und so weiter. Deutschland müsste großes Interesse haben, dass sich keine Parallelgesellschaften entwickeln. Die halte ich für grob gefährlich, die Leute integrieren sich dann nicht mehr und sie lernen kein Deutsch und der muslimische Glaube kann dann unter Umständen sich auch auf eine Weise verschärfen, die ich für ganz problematisch halte. Also je mehr muslimische Menschen irgendwie mit Deutschen auf eine Weise Kontakt kriegen, dass ihr Glaube sich ein Stück relativiert, desto besser.“ (Engagierte Stadt A). In diesem Interviewausschnitt wird das bereits Anfang der 1990er-Jahre von Wilhelm Heitmeyer (1996) in die Diskussion gebrachte und auf lang ansässige jüngere Migrant:innen in urbanen Räume bezogene und Anfang der 2000er Jahre – auch durch die Debatten um Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ (2010) – an Prominenz gewonnene Konzept der „Parallelgesellschaften“ verwendet. Diese entstünden durch eine bewusste Abschottung von ethnischen und religiösen Gruppen gegen die Mehrheitsgesellschaft. Die wissenschaftliche und öffentliche Diskussion drehte sich nicht nur um das Ausmaß des Phänomens, sondern auch um mögliche Ursachen. Eine kulturalistische Variante, die dem Islam eine Rolle zuschreibt – wie in der Interviewsequenz deutlich wird – stand einer Kritik von Migrationsforschenden gegenüber, die die Entstehungsbedingungen für so genannte Parallelgesellschaften vor allem als sozial-strukturelle sehen. Sie heben hervor, dass die sogenannten Parallelgesellschaften von innen betrachtet oft deutlich heterogener sind als von außen betrachtet. Diese Parallelgesellschaften werden in dieser Äußerung insgesamt für „grob gefährlich“ gehalten, und aus Sicht der Interviewten wird eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, die die Bereitschaft Deutsch zu lernen und sich zu integrieren verhindere. Dann, so die Befürchtung der Interviewpartnerin, könnte sich der muslimische Glaube „verschärfen“. Dabei handelt es sich um eine Argumentationsfigur, die wir bereits im zweiten Deutungsmuster gesehen haben. Daraus folgert die Interviewpartnerin, dass der muslimische Glaube durch Kontakt mit Deutschen nicht einen zu großen Stellenwert entwickele. Eine angenommene Gegensätzlichkeit von Integration und Muslimisch-Sein kommt hier deutlich zum Ausdruck.

Der Islam benötigt Reformen

Auch im folgenden Interviewausschnitt kommen Überlegungen zum (nicht mehr) wünschenswerten Grad von Religiosität zum Ausdruck: „Ich halte den muslimischen Glauben der Tendenz nach geeignet Extreme hervorzubringen, wenn man das sehr wörtlich nimmt. Also, die Leute die in den Extremismus dann abgleiten, die beziehen sich alle auf den Koran und finden da auch Stellen, die das genauso unterstützen. Und ich denke eigentlich wäre es ganz wichtig, dass der Koran eine Erneuerung, irgendwie. Muslime müssten sich mit ihrer eigenen Religion auf eine Weise beschäftigen, dass die gucken was ist wertvoll und soll bleiben und was ist eigentlich so, das ist für heutzutage nicht mehr passend. Das wäre mein Wunschtraum an die geflüchteten Muslime.“ (Engagierte Stadt A). In dieser Sequenz wird eine Spezifik des Islam artikuliert, der an sich eine Neigung zum Extremen beinhalte, und diese Extreme fänden ihre Legitimation durch Textstellen im Koran. Hier zeigt sich das Narrativ der vermeintlichen Rückständigkeit und Reformbedürftigkeit muslimischen Glaubens implizit gegenüber dem christlichen Glauben. Gleichzeitig, und hier kommen die Folgen von homogenisierenden Diskursen zum Ausdruck, wird unterstellt, dass sich (die) Muslim:innen (noch) nicht mit kritischen Aspekten ihres Glaubens auseinandersetzen würden. Implizit ist hier die Annahme, dass alle Muslim:innen extremistisches Handeln rechtfertigen würden, wenn es durch Koranstellen legitimiert werden könnte. Gleichzeitig scheint dieses Problem nur innerhalb des muslimischen Glaubens angenommen zu werden. Anderen Religionen wird eine solche kritische Betrachtung nicht empfohlen.

Interreligiöse Begegnungen als positive Erfahrungen

Im Interviewmaterial finden sich nicht allein mehr oder weniger offene islamkritische Positionen. Im folgenden Zitat wird eine interreligiöse Begegnung geschildert: „für mich war an dieser Sache das beeindruckende Erlebnis, eine Beerdigung zu erleben, also Islam-Beerdigung. Erstmal die Frage: welcher Friedhof lässt es zu? Und dann die Frage: wie läuft das Ganze ab? Das hat doch einen sehr starken Eindruck bei mir hinterlassen.“ (Engagierter Stadt B). Dieser Engagierte beschreibt die Situation als ein bereicherndes Erlebnis und fühlte sich geehrt an den religiösen Praktiken der Geflüchteten teilnehmen zu dürfen. Über einen gegenseitigen wertschätzenden Umgang spricht eine andere Engagierte aus der gleichen Stadt: „es ist richtig nett, wir haben so eine Whats App-Gruppe von dem Willkommens-Café, und wenn jetzt ein christliches Fest ist, dann gratulieren uns die Muslime und andersrum ist das auch so. Also das klappt eigentlich richtig gut.“ Im letzten Teil der Passage verweist sie auch auf gemeinsame Feierlichkeiten zwischen Muslimen und Christen innerhalb ihrer Unterstützungsgruppe. Interessant ist dabei auch der den Satz abschließende Teil. Indem sie betont, dass das „eigentlich ganz problemlos“ gewesen sei, verweist sie implizit auf den Problematisierungs-Diskurs, der gegenüber dem Islam und Muslim:innen besteht bzw. allgemeiner auf die Annahme, es könne zu Problemen kommen, wenn Christen und Muslim:innen zusammen feiern.

Homogenisierende Konstruktionen des Islams werden in Frage gestellt

In einigen wenigen Interviews werden nachdenkliche und reflektierende Überlegungen zum Thema Islam und zum Verhältnis von Islam und Christentum geäußert. Eine Engagierte aus Stadt C, die kurze Zeit Islamwissenschaft studierte, teilt ihre Überlegungen: „also ich habe den Koran teilweise gelesen. Ich weiß, dass der zum Beispiel viel frauenfreundlicher ist als das Christentum. Aber in der Koranschule natürlich so nicht gelehrt wird (…). Und in der deutschen Bevölkerung dann halt irgendwie dieses Zerrbild entsteht, wo ich denke, ja, aber in den 50er-Jahren durften die Frauen, haben die Frauen bei uns auch noch viel Kopftuch getragen, wenn die Gründe vielleicht auch unterschiedlich waren. Bis, ich glaube, 76, musste der Mann den Arbeitsvertrag unterschreiben und Vergewaltigung in der Ehe war nicht strafbar. Also, ja es ist ja gar nicht so lange her. Auch der Stress nach dem Zweiten Weltkrieg, wenn die Männer, die zurückgekommen sind, damit leben mussten, dass die Frauen ja eigentlich jetzt auch ins Berufsleben notgedrungen eingestiegen waren. Ja, was da auch für Konflikte entstanden sind, die wieder an den Herd zurückzukriegen. Also, so weit, so lange ist das bei uns auch noch nicht her.“ Die Aussage der Engagierten verweist darauf, dass die aktuellen Interpretationen von Islam und Christentum nicht unbedingt den zentralen Schriften der jeweiligen Religionen entsprechen müssen. Anhand des Beispiels weiblicher Emanzipation setzt sie diese in einen historischen Kontext und vermeidet die Dichotomisierung zwischen christlichen und islamischen Werten. Ganz ähnlich verweist eine Engagierte aus Stadt A auf die brutalen christlichen Kreuzzüge: „[D]ie Kreuzzüge (…) [sind] lang her, aber es war im Endeffekt was wir heute sagen würden unser Christentum ist, so toll, ne? Also es gibt immer auch Dinge die nicht gut laufen, aber man darf da nicht weggucken und man muss das dann halt einfach erklären und sagen und genauso gibt’s das auch im Islam, dass da einzelne Versprengte meinen, sie müssten den ganz anders durchsetzen“. Der Vergleich mit den christlichen Kreuzzügen, den sie anstellt, relativiert das Narrativ des aggressiven Islam indem sie aufzeigt, dass auch im Namen anderer Religionen kriegerische Handlungen stattgefunden haben. Die Engagierte sieht eine gefährliche Ausprägung des Islam nur bei einer Minderheit der Muslim:innen und weist damit ein insgesamt negatives Bild von Islam und Muslim:innen zurück.

Die Tendenz von zweierlei Maßstab zwischen Islam und Christentum, die einige der obenstehenden Sequenzen prägen, stellt eine Aktive aus Stadt A in Frage: „Und das ist tatsächlich was man also thematisieren muss, wer ist dann „der Islam“ oder was ist dann das insgesamt? (…) Wenn jemand vom Christentum spricht, spricht er trotzdem nicht in meinem Namen, obwohl ich aber hier zur evangelischen Gemeinde gehöre“. Hier wird das Repräsentationsproblem aufgegriffen was durch homogenisierende Diskurse in Bezug auf den Islam entstanden ist. Insbesondere seit den islamistischen Terroranschlägen von 2001 sehen sich Muslim:innen in Europa einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, sich von den extremistischen Positionen innerhalb ihrer Religion zu distanzieren. Hier wird demgegenüber die Frage aufgeworfen, wer für wen spricht und welche Positionen als glaubhaft gelten. Indem die Befragte darauf besteht als Individuum wahrgenommen zu werden, gesteht sie auch Muslim:innen diese Individualität zu und weist homogenisierende Konstruktionen gegenüber „dem Islam“ zurück.

Die Narrationen im Vergleich

Neben Berichten von bereichernden Begegnungen und schönen gemeinsamen Erlebnissen, werden vor allem Skepsis und Bedenken gegenüber der Integration von Muslim:innen und einer potenziellen Gefahr, die vom Islam ausgeht, thematisiert. Auf der anderen Seite wird der Konstruktionscharakter dieser Zuschreibungen von Engagierten offen thematisiert und als Problem erkannt oder betont, dass es keine Probleme gäbe. Augenscheinlich ist, dass die eigene christliche Religiosität, wenn sie als Referenz herangezogen wird, mit positiv konnotierten Werten wie Solidarität mit Menschen in Not, Menschlichkeit und Fürsorge in Zusammenhang gebracht werden, während die Perspektive auf muslimische Religiosität hauptsächlich unter den Aspekten der Abkapselung, fehlender Integrationsbereitschaft und Extremismus – also als Sicherheits- oder Integrationsproblem – thematisiert wird.

Handelt es sich dabei um Islam- und Muslim:innenfeindlichkeit, ähnlich wie die Studien konstatieren, die eine massive Verbreitung von Vorurteilen gegenüber Muslim:innen bis weit in die sogenannte Mitte der Gesellschaft belegen (Zick et al. 2016; Decker et al. 2016; Pickel und Yendell 2016)? Mit Janzen et al. (2019) lässt sich Islam- und Muslim:innenfeindlichkeit als ein mehrdimensionales Phänomen verstehen, „das sich in der Abwertung durch verschiedene Erzählungen über die Muslime äußert“ (Janzen und Ahrens 2022, S. 9). Für die Befragung fragen Janzen et al. Items in vier inhaltlichen Dimensionen ab: die Zuschreibung von Identitätsbedrohung, die Zuschreibung von Segregation, die Zuschreibung von Unterdrückung sowie die Zuschreibung von Islamismus (Janzen und Ahrens 2022, S. 9; vgl. Janzen et al. 2019, S. 9–14). Wie die Analyse unserer Interviews gezeigt hat, finden wir zu allen vier Dimensionen von Islam- und Muslim:innenfeindlichkeit in den Gesprächen mit den Engagierten Artikulationen. Da in unseren Interviews jedoch nicht systematisch alle Dimensionen abgefragt und für alle 58 Interviewpartner:innen erhoben wurden, können wir die Aussagen nicht generalisieren. Dennoch ist relevant, dass sich die Äußerungen zum Islam und zu den Erfahrungen mit und Wahrnehmungen von Muslim:innen dem breiten Spektrum an Ausdrucksformen der Islam- und Muslim:innenfeindlichkeit zuordnen lassen.

Wie wir in den Äußerungen sehen, wurden die vermeintlichen negativen Attribute des Islam den Geflüchteten nicht grundsätzlich unterstellt, sondern meist daran geknüpft, wie stark diese sich dem muslimischen Glauben zuwenden. An dieser Stelle wird deutlich, dass es sich nicht um gezielte Herablassungen handelt, da gleichzeitig zu der Skepsis gegenüber dem Islam sehr viel Empathie gegenüber den konkreten Menschen ausgedrückt wurde, mit denen die Engagierten im Rahmen ihres Engagements zu tun hatten. In den Interviews werden auch bestehende Probleme und Schwierigkeiten im Kontext von Migration und Flucht angesprochen, die Begründung Islam erscheint vor dem Hintergrund einer wirkmächtigen Rahmung als naheliegend. Auch diejenigen, die sich reflexiv und dekonstruierend gegenüber diesem vermeintlichen Wissen äußern, beziehen sich darauf, dass dieses bei anderen bestehe.

Bis hierher haben wir das in den Interviews Artikulierte analysiert. Es ist jedoch auch eine Überlegung wert, was nicht gesagt wurde. In den Narrativen wurde nicht in Betracht gezogen, dass intensiv gelebte Religiosität auch eine Strategie zum Umgang mit den Herausforderungen und Schwierigkeiten ist, die sich durch Flucht und Migration ergeben kann. Dieser Zusammenhang wird in der Migrationsforschung immer wieder beobachtet: „Migrants rely on their faiths as they prepare their departure, during dangerous journeys, upon arrival, and beyond. Religion provides strength and motivation, and allows migrants to cope with the dislocations and traumas of contemporary migration“ (Eppsteiner und Hagan 2016, S. 49). Während einige der Interviewten erwähnen, dass sie für sich Stärke und Motivation aus dem Glauben ziehen, so ziehen sie denselben Zusammenhang für die Geflüchteten nicht in Betracht. Unsere Interpretation, dass bei den interviewten Engagierten der christliche Glaube vor allem mit Positivem und der muslimische in Abgrenzung dazu gesehen wird, sehen wir auch hier plausibilisiert.

Daran schließt unsere hier vertretene Argumentation an, dass negatives Wissen bzw. eine skeptische Einstellung gegenüber Islam und Muslim:innen mittlerweile eine Art common sense innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft bildet, der wenig reflektiert wird und lange historische Kontinuitäten aufweist. Um nachzuvollziehen, wie sich ein solches Denken über den Islam in Deutschland darstellt, betrachten wir im nächsten Abschnitt zunächst die Rolle öffentlicher, islambezogener Diskurse und ordnen die Befunde im letzten Abschnitt mit der Figurationstheorie von Norbert Elias ein.

6 Referenzdiskurse im wiedervereinigten Deutschland: Vom „Ausländer“ zum „Muslim“

Bei den Engagierten, die Geflüchtete unterstützen, gehen wir aufgrund ihrer Aktivitäten und artikulierten Selbstverständnisse davon aus, dass diese die islamkritischen Äußerungen nicht strategisch zur Abwertung und Ausgrenzung einsetzen. Vielmehr spiegeln sich in ihnen wirkmächtige Diskurse und Wissensbestände. Direkt oder indirekt wird dabei auf Kulturkreistheorien wie die von Samuel Huntington (1997) rekurriert. Kennzeichnend für diese in der Ethnologie lange gängigen und mittlerweile breit kritisierten Theorien sind ein vornehmlich statisches Kulturverständnis und die Annahme der Unvereinbarkeit bestimmter „Kulturen“, die zwangsläufig zu Konflikten führe. Mit Bezug auf den Islam formuliert Huntington: „Solange der Islam der Islam bleibt (und er wird es bleiben) und der Westen der Westen bleibt (was fraglicher ist), wird dieser fundamentale Konflikt zwischen zwei großen Kulturkreisen und Lebensformen ihre Beziehung zueinander weiterhin und auch in Zukunft definieren, so wie er sie 1400 Jahre lang definiert hat.“ (Huntington 1997, S. 339) Huntingtons Ausführungen sind als ein Appell an westliche Länder und Individuen zu lesen, diesen Konflikt anzunehmen und, dass jegliche andere Reaktion als Präventivschläge gegen den islamischen Kulturkreis zu unternehmen bzw. auf individueller Ebene skeptisch gegenüber Muslim:innen zu sein, naiv wären. Huntington trug als Bestsellerautor wesentlich dazu bei, Kultur und im Besonderen westliche und islamische Kultur als neue alte Konfliktlinien zu etablieren (vgl. Bade 2013, S. 127 f.). Abwehrdiskurse gegenüber migrantischen Gruppen wurden in den 1980er und 1990er-Jahren in Deutschland unter dem Begriff des „Ausländers“ artikuliert. Dementsprechend wurden rechtspolitische Gruppen auch als „Ausländerfeinde“ oder mit dem Begriff der Fremdenfeindlichkeit belegt. Schon Huntingtons breit rezipierte Hypothese vom „Kampf der Kulturen“ ließ im Laufe der 1990er-Jahre Muslim:innen als vermeintlich besondere Gruppe von „Ausländer:innen“ innerhalb europäischer Einwanderungsgesellschaften erscheinen. Hilal Sezgin spricht in diesem Zusammenhang von der „Muslimifizierung von Migranten“ (Sezgin 2011).

Spezifische Migrationsbedingungen und strukturelle Hürden wie eine ausländische Staatsbürgerschaft oder die Vorrangprüfung beim Arbeitsmarktzugang erschwerten den gesellschaftlichen Aufstieg von Muslim:innen in Deutschland und stabilisierten zunächst deren Position als gesellschaftliche Außenseiter. Auf die Demokratisierung des Zugangs zur Staatsbürgerschaft für Zugewanderte (1998), die vor allem auch die erste Möglichkeit für die meisten Muslim:innen in Deutschland war die Staatsangehörigkeit zu erhalten, erfolgte wiederum ein Schließungsdiskurs um die deutsche Leitkultur, der genau dann einsetzt, als der Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft erleichtert wurde (Foroutan 2012, S. 11). Ähnlich wie das durch Huntington etablierte Schema auf Ebene der Weltpolitik wird eine Dichotomie für die untergeordnete Figuration des deutschen Staates gegenüber der muslimischen Bevölkerung entworfen. In Folge wird der Islam als etwas Konträres zum Deutschsein verstanden (ebd.), was der Gegenüberstellung von Islam und Christentum entspricht. Zu dieser Zeit ereigneten sich die islamistischen Terroranschläge auf das World Trade Center in New York, was wiederum Einfluss auf das negative, historisch vorgezeichnete Feindbild Islam hatte. Die IDZ Studie zu Islamismus und Islamophobie wies empirisch nach, dass Ereignisse, die das eigene Feindbild scheinbar bestätigen, zu Radikalisierungsprozessen beitragen (Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft 2018). Auch die mediale Berichterstattung der 2000er Jahre ist relevant für die gegenwärtigen Selbst- und Fremdbilder. Studien von Hafez und Richter zur Thematisierung von Islam und Muslim:innen in öffentlich-rechtlichen Talkshows zeigen, dass Mitte der 2000er Jahre eine größtenteils negative Berichterstattung über den Islam stattfand, die auf die von Huntington (re)etablierten Narrationen rekurrierte. Die analysierten Beiträge seien „zu über 80 % an einem Bild orientiert, in dem diese Religion als Gefahr und Problem in Politik und Gesellschaft in Erscheinung tritt.“ (Hafez und Richter 2007, S. 5). Der Islam werde darin „weniger als eine Religion als vielmehr eine politische Ideologie“ porträtiert, der „mit den Moralvorstellungen des Westens kollidiert.“ (ebd.).

Drei Jahre nach dieser Studie erschien der von Thilo Sarrazin (2010) verfasste Bestseller „Deutschland schafft sich ab“. Er baut auf den historischen Linien der Zivilisationskritik auf und kombiniert diese mit Eugenik und Huntingtons Kulturkreistheorien. Sein Erfolg fußt nicht nur auf der tendenziösen Themensetzung innerhalb von Talkshows wie Hafez und Richter gezeigt haben, sondern nach Klaus J. Bade auch auf publizistischen Vorreitern einer „vulgären Islamkritik“, vertreten etwa durch Hendrik M. Broder, Ralph Giordano und Alice Schwarzer (Bade 2013), und dem Narrativ der gescheiterten Integration. Dieses Narrativ hat bis heute Auswirkungen, zum Beispiel im Rahmen der Diskurse zu toxischer Männlichkeit (Dietze 2019; Hark und Villa 2017). Bade beschreibt das Wirken von „Islamkritik“: „Sie geriert sich als Retter des Abendlandes, betreibt aber in Wahrheit (…) negative Integration, auch um den Preis eines regelrechten Kulturkrieges, durch den ihre Agitation zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden würde.“ (Bade 2013, S. 366; vgl. auch Bade 2018). In den Interviews mit den Ehrenamtlichen wird der Topos der negativen Integration teilweise sehr deutlich. Sie unterstellen den Geflüchteten nicht grundsätzlich, dass sie sich nicht integrieren wollen, sondern äußern vor allem die Befürchtung, dass ihr muslimischer Glaube sie daran hindern könnte bzw. sie dazu verleiten könnte, sich abzukapseln oder sich zu radikalisieren.

Ein zweites mediales und von staatlichen Behörden vertretenes Framing gegenüber Islam und Muslim:innen ist das der Gefährdung und der Sicherheit. Dieser Aspekt findet sich ebenfalls in Aussagen der Ehrenamtlichen. Muslim:innen werden mit dem Label „potenzielles Sicherheitsrisiko“ versehen. Rechtsextreme Netzwerke sowie rassistische und islamfeindliche Einstellungen in Sicherheitsbehörden bleiben hingegen – auch in den Interviews mit den Ehrenamtlichen – eine Leerstelle. Äußerungen wie die vom damaligen Bundesinnenminister Horst Seehofer „Migration ist die Mutter aller Probleme“ (Seehofer in DW, 06.09.2018) heben genau auf diese Argumentationsfigur ab. Bevor es Migration gegeben habe, so die implizite Annahme, habe es eine „natürliche“ Ordnung gegeben. Dies lässt außer Acht, dass die Bundesrepublik Deutschland von Anfang an konstitutiv durch Migration geprägt ist (Ther 2018; Bade 1994).

7 Eine figurationssoziologische Einordnung der Befunde

Wie kann diese so unterschiedliche Wahrnehmung beider Religionen in den Aussagen ehrenamtlich Engagierter in der Geflüchtetenunterstützung sowie in der Gesamtgesellschaft theoretisch eingeordnet und erklärt werden? Warum sind Christ:innen und auch Muslim:innen teilweise so überzeugt von diesen geschlossenen Identitäten (Bauer 2012), die sozial hergestellt sind? Das Konzept der „Etablierte-Außenseiter-Figuration“ nach Norbert Elias und John L. Scotson (1993) kann bei der Einordnung behilflich sein.

Das Konzept der Figuration dient als konzeptionelles Scharnier zwischen der Ebene der Individuen und der der Gesamtgesellschaft. Figurationen sind durch Machtverhältnisse strukturierte Beziehungs-Geflechte, die sozialen Prozessen unterliegen. Die jeweilige Einbindung von Individuen in gesellschaftliche Figurationen bestimmt deren Grad an „relativer Autonomie“ (Elias 2006) innerhalb dieser Beziehungsgeflechte. Eine Etablierten-Außenseiter-Figuration liegt dann vor, wenn die Beziehungen zweier Gruppen durch stark ungleiche Machtverhältnisse strukturiert sind. Diese tritt idealtypisch dort auf, wo alteingesessene Gruppen auf Neuankommende stoßen und lässt sich daher für migrationssoziologische Betrachtungen fruchtbar machen (z. B. Lacassagne 2016; Preuß 2020). Aus dieser Perspektive heraus lassen sich historische Vorläufer, Narrative und Verflechtungsdynamiken, habituelle Prägungen, Machtstrukturen und Verteilungskonflikte sowie deren diskursive Verarbeitung als Dimensionen des gleichen Zusammenhangs interpretieren.

Elias und Scotson entwickelten ihren Ansatz einer Etablierten-Außenseiter-Figuration im Rahmen ihrer Feldstudie in einem englischen Dorf mit einer „scharfen Trennung zwischen einer alteingesessenen Gruppe und einer Gruppe von später Zugewanderten, die von den Etablierten als Außenseiter behandelt wurden“ (Elias und Scotson, 1993, S. 7). „Die ersteren schlossen ihre Reihen gegen die letzteren und stigmatisierten sie als Menschen von geringerem Wert. In ihren Augen fehlte den Neusiedlern die auszeichnende Bürgertugend – eine Art kollektives Charisma, das die höher stehende Gruppe für sich in Anspruch nahm.“ (ebd.) Elias hält die Situation in der beschriebenen Gemeinde beispielhaft für menschliche Gruppenbeziehungen auf der Mikro-Ebene (vgl. ebd.). Für die Arbeit mit unserem Material erscheint ein daran anschließendes Konzept zentral, welches die Emotionalisierungsspiralen in aktuellen wie historischen Diskursen erklären kann. Als „Logik der Emotionen“ bezeichnen Elias und Scotson folgendes Phänomen: „Immer wieder läßt sich beobachten, daß Mitglieder von Gruppen, die im Hinblick auf ihre Macht anderen, interdependenten Gruppen überlegen sind, von sich glauben, sie seien im Hinblick auf ihre menschliche Qualität besser als die anderen.“ (Elias und Scotson 1993, S. 7) Diese selbstzugeschriebene Überlegenheit findet sich in den in diesem Beitrag zuvor beschriebenen Diskursen sowie teilweise in Aussagen der Engagierten.

Das Konzept der Etablierten-Außenseiter-Figuration lässt sich auf das Verhältnis von Nicht-Muslim:innen, die sich als Autochthone verstehen, und Muslim:innen, die als Zugezogene wahrgenommen werden, anwenden. Aufgrund der strukturellen Bedingungen (Stichworte: Unterschichtung, Staatsbürgerschaftsrecht, unsicherere Aufenthaltstitel, vgl. Bade 1994) waren und sind die reellen Machtchancen bzw. die „relative Autonomie“ (Elias 2006) vieler Muslim:innen gegenüber denen der länger ansässigen deutschen Mehrheitsbevölkerung, die sich in Bezug auf das Prinzip jus sanguinis auch als Abstammungsgemeinschaft versteht, geringer. Der als vorläufig charakterisierte Aufenthalt als „Gastarbeiter“ oder als geflüchtete Person, die einen großen Teil der Menschen muslimischen Glaubens in Deutschland betrafen und betreffen, verringerte die Partizipationschancen. So gelang es der deutschen Mehrheitsbevölkerung Muslim:innen strukturell und im Laufe der beschriebenen (Abwehr‑)Diskurse auch kulturell zu gesellschaftlichen Außenseitern zu bestimmen. Die Verfestigung der Machtverhältnisse zwischen den Gruppen führte zu mehr Konflikten und einer Emotionalisierung des Diskurses um Zugehörigkeit.

Auch das Thema der Identität wurde für alle Beteiligten relevant. Auf der einen Seite für eine deutsche Bevölkerung, die immer diverser wurde und trotzdem kein Einwanderungsland sein wollte und auf der anderen Seite für junge Deutsch-Muslim:innen, die in Deutschland aufwuchsen und trotzdem nicht als zugehörig anerkannt wurden. Die sich um 2015 verschärfende Abwehr von Geflüchteten konnte auf die vorher etablierten Feindbilder aufbauen und sich als Skepsis gegenüber dem Islam darstellen. Dazu nutzten sie die diskursiven Instrumente des „Gruppencharismas“ (christlich bzw. deutsch) und der „Gruppenschande“ (muslimisch bzw. ausländisch). Die Bezugnahme auf feste Wir- und Sie-Gruppen und die damit einhergehende, vermeintlich eindeutige Zuordnung, zementiert die vermeintliche Dichotomie zwischen den Gruppen, deren Überwindung durch Demokratisierung (Gholamasad 2015) dann aus dem Blick gerät. Besonders wirksam dabei ist die „pars pro toto-Verzerrung“ (Elias und Scotson 1993, S. 13). Demnach lassen gesellschaftlich etablierte Gruppen bestimmte Deutungsmuster dominant werden: Das Image der eigenen Gruppe wird dabei anhand der positivsten Beispiele ihrer Gruppe definiert, wohingegen das Bild der konkurrierenden Gruppe anhand der negativsten Beispiele konstruiert wird. So kommen aus „deutscher“ Perspektive folgende emotional gefärbte Selbst- und Fremdbilder zustande: Europäer, Christen, Deutsche werden demnach als friedliebend, aufgeklärt und demokratisch dargestellt. Das Bild „der Muslime“ (die innerhalb aktueller Diskurse nicht geographisch verortet werden) oder „Ausländer“ (obwohl sie vielleicht schon lange einen deutschen Pass haben oder sogar in Deutschland geboren sind) werden durch Zuschreibungen wie „aggressiv“, „rückständig“, „demokratie- bzw. integrationsunfähig“ charakterisiert. Diese Deutungsmuster waren auf verschiedene Weise in den oben vorgestellten Diskursen relevant und zeigen sich auch teilweise in den Aussagen ehrenamtlicher Unterstützer:innen für Geflüchtete, wie auch in den Erfahrungen, die der im Moscheeverein Engagierte schildert, wenn er gefragt wird, ob er seiner Tochter das Kopftuch aufzwingen würde.

Trotz ungleicher Partizipationschancen und massiver Diskriminierung etablierten sich muslimische Zugewanderte, etwa durch Bildungsaufstiege, oder konnten durch Selbstständigkeit Vermögen erzielen. Gleichzeitig verfestigten sich ungleiche Lebenschancen durch das Bildungssystem, schlechte Partizipationschancen, Armut oder segregierte Wohnlage (Rommel 2016). Auf das Eingeständnis Einwanderungsland zu sein und neuen Einbürgerungsregelungen, folgte sogleich die Debatte um eine christlich-jüdische Leitkultur, die die Minderheit der Muslim:innen damit systematisch von einer deutschen Identität ausschloss. Aufgrund der langen Tradition notorischer Leugnung des muslimischen Einflusses auf westliche Gesellschaften war diese Einordnung so polarisierend wie unzutreffend und darüber hinaus eine Instrumentalisierung des jüdischen Einflusses.

Elias geht davon aus, dass Etablierten-Außenseiter-Figurationen eine spezifische Dynamik besitzen. Denn zusätzlich zu der angenommenen Gruppenkohäsion, die die etablierte Gruppe den Neuangekommenen zu Beginn voraushat, entwickelt sich – auch aufgrund der Zuschreibungen durch die Alteingesessenen und dem als gemeinsam empfundenen Status – innerhalb der „Außenseiter-Gruppe“ ein eigenes Gruppencharisma, das wiederum gegen die Etablierten in Stellung gebracht werden kann und zur Versicherung der eigenen Identität dient. So verschieben sich die Machtungleichgewichte zugunsten der „Außenseiter“. Gerade die Annäherung bringt einerseits eine Demokratisierung (Gholamasad 2015) mit sich, das heißt Muslim:innen haben bessere Möglichkeiten am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und steigen insgesamt sozial-strukturell auf, führt aber auch zu mehr Konflikten (El-Mafaalani 2020), bei denen die emotionsgeladenen Standpunkte auf beiden Seiten zunehmen. (Noch) etablierte Gruppen können den Mitgestaltungswillen und -anspruch der vormaligen Außenseiter als emotionalen Angriff auf ihre durch die Figuration geformten Überlegenheitsgefühle empfinden. In unserem empirischen Material zeigen sich die Konflikte nicht in Form der direkten Thematisierung oder des Streits in den Initiativen selbst, sondern in der sich zuspitzenden gesellschaftlichen Polarisierung, die sich in den Wahl- und Mobilisierungserfolgen rechter Parteien und Bewegungen äußert.

Um das Bedürfnis nach Identität zu erfüllen kann auch ein dogmatisch ausgelegter muslimischer Glaube als Gruppencharisma dienen. Dieser bietet eine starke Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft aber auch gegenüber Muslim:innen, die den Glauben auf andere Weise ausleben oder zu anderen religiösen Strömungen innerhalb des Islam gehören (vgl. Spielhaus 2011). Eine extremistische Entwicklung als Folge einer verwehrten Identifikation mit der Mehrheitsgesellschaft, ist dann wahrscheinlicher, wenn massive Diskriminierungserfahrungen mit psychischen Problemen und persönlichen Schicksalsschlägen zusammenkommen (Priester 2017).

In einer Situation aber, in der sich die Machtunterschiede zwischen der sich als autochthon verstehenden Mehrheitsgesellschaft und der deutschen Minderheit der Muslim:innen angleichen wie beispielsweise bei der Option zur deutschen Staatsbürgerschaft, aber eine symbolische Ungleichbehandlung trotz rechtlicher Gleichstellung in Form von Abwehrdiskursen bestehen bleibt, nimmt das Ungerechtigkeitsgefühl innerhalb der Minderheit zu. So verfestigt sich die Überzeugung eine grundsätzlich von der Mehrheit getrennte Gruppe zu sein. Das lässt erklären, weshalb die Verzerrungen in der Selbst- und Fremdwahrnehmung so überzeugend wirken und ohne aktive „Distanzierung“ im Sinne von Elias’ (1983) vielen als einleuchtend erscheinen. Elias folgend stehen Emotion und Kognition in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander. Je besser es uns gelingt, gegenüber unserer Umwelt emotional distanziert zu sein, desto stärker basieren unsere Vorstellungen der Umwelt auf rationalen Beobachtung als auf engagierten Phantasien. Damit werden sie realitätsangemessener und ermöglichen es uns, die Gefahren der Umwelt besser zu kontrollieren. Andererseits führt übermäßiges Engagement zu einer Verzerrung der Wahrnehmung welche dann zunehmend von Angst geprägt ist, was wiederum das Maß an Engagiertheit ansteigen lässt und eine objektive Beurteilung von Situationen unwahrscheinlicher macht (Elias 1983, S. 78 ff.). Ebenso deutlich wird, dass die vermeintliche eigene Höherwertigkeit, die in identitätsbezogenen Diskursen durch (noch) etablierte Gruppen zum Ausdruck kommt, vielfach nicht nur eine bewusste Ausgrenzungsstrategie darstellt, sondern auch zum Teil eine unbewusste, stark emotional gefärbte Überzeugung ist. Diese ist durch die Sozialisation innerhalb von spezifischen (ungleichen) Machtverhältnissen habituell verankert und daher träge gegenüber Veränderungen (Elias 2006; Preuß 2020). In Anlehnung an die von Elias und Scotson formulierte Logik der Emotionen soll hier ergänzend darauf hingewiesen werden, dass in der Sozialisation erworbene, habituell fest verankerte Überzeugungen der eigenen Höherwertigkeit bei Etablierten auch eine große Rolle spielen, weshalb etablierte Gruppen Minderheiten ausgrenzen. Dies kann auch erklären, weshalb auch Menschen, die sich für die Integration von Geflüchteten engagieren, gleichzeitig in ihrer kulturellen Bewertung die Muster der vermeintlichen Höherwertigkeit der eigenen Religion oder Kultur reproduzieren, obwohl sie die Neuangekommenen nicht generell von gesellschaftlichen Positionen ausschließen möchten – und das Gegenteil für sich behaupten würden. Machtüberlegenheitserfahrungen können vor allem durch Augenhöheerfahrungen, nicht nur diskursiv, abgelöst werden, um dann habituelle Muster, die durch Überlegenheitsgefühle geprägt sind, zu verändern.

8 Fazit

In der Analyse der Aussagen von Ehrenamtlichen, die sich für Geflüchtete einsetzen, zeigen sich zwei Aspekte bezüglich der Bewertung religiöser Werte. Wir sehen erstens eine durch negative Narrative gerahmte „Überproblematisierung“ – nicht nur extremistische Formen des Islam sind bedenklich, sondern der Islam insgesamt – gegenüber dem Islam und Muslim:innen im Allgemeinen. Damit geht eine „Veranderung“ (Opratko 2019) von Muslim:innen in Deutschland einher, die in Diskrepanzen zu messbaren Integrationserfolgen (Bade 2013) stehen. Zweitens findet eine Verklärung vermeintlich christlicher Werte statt. Sie geht einher mit einer ebenso verzerrten „Unterproblematisierung“ von demokratiefeindlichen bzw. frauen- und LGBTQ-feindlichen Elementen und Strömungen innerhalb des christlichen Glaubens und der deutschen Gesellschaft, die also im vorgestellten Sinne der „pars pro toto-Verzerrung“ (Elias und Scotson 1993) folgen.

Zivilgesellschaftliches Engagement, in dem Christ:innen, Muslim:innen und Nichtgläubige bzw. Vertreter:innen anderer Religionen gemeinsam an der Unterstützung Geflüchteter arbeiten, könnte sich noch mehr als verbindendes Element für die deutsche Gesellschaft etablieren und solchen Polarisierungen entgegenwirken. Es bedarf aber einer Sensibilisierung für unbewusste bzw. teilbewusste Werturteile gegenüber zugewanderten Gruppen, um eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zu ermöglichen. Sonst besteht die Gefahr, dass die Engagierten ein parternalistisches Verhalten zeigen, das eher Assimilation als Teilhabe von Muslim:innen in der postmigrantischen Gesellschaft erwartet. Eine weitere Folge besteht darin, dass sich Muslim:innen unter den Geflüchteten eventuell eher der ihnen zugeschriebenen Fremdgruppe zuwenden, weil sie sich in ihrer religiösen Identität in der Mehrheitsgesellschaft nicht akzeptiert fühlen. Ergebnisse der Studien von Nagel und El-Menouar (2017), Nagel und Rückamp (2019) sowie Struck (2020), legen nahe, dass im Zuge einer weitverbreiteten grundsätzlich misstrauischen oder negativen Haltung gegenüber dem Islam und Muslim:innen, Kooperationen mit muslimischen Gemeinden und Verbänden erschwert oder verhindert werden können. Auf individueller Ebene entsteht gleichzeitig ein Rechtfertigungsdruck für Muslim:innen, sich ständig als demokratiefähig oder integrierbar zu beweisen.

Den bereits polarisierten Diskurs und unbewusste emotionale Beweggründe nutzen rechte wie auch islamistische politische Kräfte, um die eigene ideologische Stellung gesellschaftlich zu festigen. Die „bürgerliche Mitte“ kann dabei zum Resonanzraum für Rechtspopulismus werden und dazu führen, dass sich mehr Muslim:innen tatsächlich von der Mehrheitsgesellschaft abwenden und möglicherweise sich eher radikalen islamischen Strömungen anschließen. So besteht die Gefahr, dass das Konfliktpotential innerhalb der Gesellschaft ansteigt – allerdings nicht als vermeintlich kausale Folge eines behaupteten Kulturkonflikts, sondern aufgrund der Verflechtungsdynamik einer Etablierten-Außenseiter-Figuration, die durch ungleiche Machtchancen und gegenseitige Abgrenzungsdiskurse geprägt ist.

Das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) verweist sogar darauf, dass sich die radikalen Vertreter:innen beider Gruppen einerseits sehr ähneln, aber andererseits einen grundsätzlichen Wertekonflikt zwischen dem Westen und dem Islam voraussetzen. Die Autor:innen der Studie stellen in diesem Zusammenhang fest: „Die Diskurs- und Sprachanalysen deutschsprachiger rechtsextremer und islamistischer Online-Inhalte zeigen eine Wechselwirkung zwischen den Narrativen beider Spektren. Beide bedienten sich Strategien der Viktimisierung der Eigengruppe und der Dämonisierung der Fremdgruppe, häufig in Zusammenhang mit der Idee eines unvermeidbaren Krieges zwischen ‚dem Westen‘ und ‚dem Islam‘ sowie Verschwörungstheorien über die politischen Eliten und Medien“ (IDZ 2018, S. 35) und greifen damit genau das auf, was medial vorgezeichnet (Hafez und Richter 2007), pseudowissenschaftlich unterfüttert (Huntington 1997; Sarrazin 2010 u. a.) und durch historische Konfliktlinien, die somit als selbsterklärend oder unausweichlich dargestellt werden, gerahmt ist. Paradoxerweise kommt es so zu einer symbiotischen Beziehung zwischen antimuslimischer und islamistischer Menschenfeindlichkeit.

Um eine realistische Perspektive auf Probleme innerhalb der postmigrantischen Gesellschaft zu entwickeln und die zivilgesellschaftliche Partizipation von muslimischen Privatpersonen und Vereinen auch im Bereich des ehrenamtlichen Engagements breit zu ermöglichen, gilt es gegen die Verbreitung eines verzerrten Islambildes anzugehen. Statt einseitiger Problematisierungen „des Islam“ müsste gesamtgesellschaftlich eine Auseinandersetzung darüber stattfinden, in welchem Verhältnis religiöse Überzeugungen mit demokratischen, grundrechtlichen und emanzipatorischen Prinzipien stehen. In Deutschland würde auch die kritische Auseinandersetzung mit dem Einfluss der christlichen Kirchen in zentralen gesellschaftlichen Bereichen dazugehören, denn Deutschland ist kein strikt säkularer Staat. Auch gilt es zu beachten, dass Religion nur eine mögliche Quelle für Identität unter vielen ist (Arning 2012, S. 18), also die Menschen nicht grundsätzlich determiniert. Gleichzeitig aber gilt es zu erkennen, dass die negativen Zuschreibungen – obwohl sie auf Konstruktionen beruhen, wirkmächtig sind und emotionale Verletzungen und gesellschaftliche Marginalisierung nach sich ziehen. Diese können dann zu einer Verhärtung angenommener Grenzen zwischen ethnischen oder religiösen Gruppen führen und damit gesellschaftliche Teilhabeprozesse (für die das Gefühl von Muslim:innen als gleichwertig wahrgenommen zu werden grundlegend ist) behindern, weil im Kern Assimilation gewünscht wird, die mit persönlicher Freiheit und Religionsfreiheit als zentralen gesellschaftlichen Werten nicht vereinbar ist.