Zusammenfassung
In den Jahren 2015 und 2016 haben über 1,2 Mio. Geflüchtete in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt. Auf der einen Seite hat dieser Zuzug fremdenfeindliche Stimmungen befeuert, auf der anderen Seite aber auch eine Welle des zivilgesellschaftlichen Engagements in Gang gesetzt. Religionsgemeinschaften unterschiedlicher Provenienz waren dabei von Beginn an wichtige Plattformen zur Rekrutierung und Koordinierung ehrenamtlicher Helfer. Vor diesem Hintergrund nimmt der Beitrag die Rolle korporativer religiöser Akteure in der Flüchtlingshilfe in den Blick. Ausgehend von einem weiten Verständnis von Flüchtlingshilfe wird die Beteiligung religiöser Akteure in drei Dimensionen analysiert, namentlich ihre Selbstpositionierung in öffentlichen Diskursen zur Flüchtlingshilfe, die Bedeutung religiöser Zugehörigkeiten und Anbindungen für das individuelle Engagement für Geflüchtete sowie die Organisation von Hilfsaktionen in der Zusammenarbeit von Flüchtlingsunterkünften und benachbarten Religionsgemeinschaften. Dabei werden Ergebnisse aus verschiedenen aktuellen Forschungszusammenhängen im Stile einer Perspektiven-Triangulation zusammengeführt, um auf diese Weise Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen christlichen und nicht-christlichen Akteuren herauszuarbeiten.
Abstract
In the years 2015 and 2016 more than 1.2 Mio. refugees have applied for asylum in Germany. On the one hand, this development has triggered xenophobic sentiments, on the other hand it has inspired a wave of civic engagement. From the very beginning religious communities of various origin have been important platforms for the recruitment and coordination of volunteers. Against this backdrop the article focuses on the role of corporate religious actors in the domain of refugee aid which is analysed in three different dimensions, namely their self-positioning in public discourses on refugee aid, the impact of religious affiliations on the individual engagement for refugees and the collaboration between religious communities and refugee accommodation centers. The article combines results from various recent research endeavours in the sense of a “triangulation of perspectives” in order to explore commonalities and differences between Christian and non-Christian actors.
Notes
Aus Gründen der Lesbarkeit wird hier und im Folgenden das generische Maskulinum verwendet. Gemeint sind explizit Personen verschiedenen Geschlechts bzw. sexueller Orientierung.
Ich danke Veronika Rückamp, Mehmet Kalender und Thorsten Wettich für ihre wertvolle Mitarbeit bei der Datenerhebung und ihre Impulse für die Datenauswertung.
Alle Tabellen in diesem Abschnitt sind eigene Darstellungen auf der Grundlage der Daten des Bertelsmann-Religionsmonitors. Ich danke Yasemin El-Menouar für Ihre Unterstützung bei der Analyse.
In der Vergangenheit gab es dazu vereinzelt kritische Medienberichte über die „Ausbeutung“ von Flüchtlingen, nach denen die Ausstellung der entsprechenden Bescheinigung an Geldspenden oder Hilfsdienste gebunden war (DER SPIEGEL 2014; TAZ 2014). Unabhängig davon, ob diese Berichte stimmen oder nicht, verdeutlichen sie die Überforderung, die sich aus der geschilderten Praxis gerade für kleine Religionsgemeinschaften ergeben kann.
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Nagel, AK. Religiöse Akteure in der Flüchtlingshilfe: Positionierung, Mobilisierung, Kooperation. Z Religion Ges Polit 3, 283–305 (2019). https://doi.org/10.1007/s41682-019-00041-w
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