Die Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik geht mit dieser Ausgabe in ihr drittes Erscheinungsjahr. Auch sie ist typisch und untypisch zugleich:

Typisch ist sie, weil sie die thematische und methodische Bandbreite des Religiösen und damit auch des Journals wiederspiegelt: Dieses Heft versammelt einen gouvernementalitätstheoretisch angeleiteten Beitrag von Alexander-Kenneth Nagel zum Umgang mit religiöser Diversität in Flüchtlingsunterkünften, einen organisationssoziologischen Beitrag von Marc Breuer zu unterschiedlichen Konstellationen von Unternehmertum und Religion bei Selbstständigen mit Migrationshintergrund sowie einen historisch-politischen Beitrag zum langen Atem der Politisierung religiös-kultureller Identitäten von Nicholas Alan Mullins. Während die beiden ersten Beiträge qualitative Interviews zum Ausgangspunkt ihrer explorativen Analysen nehmen, argumentiert der dritte Beitrag diskursanalytisch und prüft die wissenschaftliche Debatte auf ihre analytischen Stärken und Schwächen hinsichtlich einer Erklärung der aktuellen Sichtbarkeit von Religion im Politischen.

Untypisch ist diese Ausgabe jedoch, weil sie neben diesen drei regulär eingereichten Beiträgen diesmal eine special section enthält, die Beiträge zusammenbindet, welche im Anschluss an die Tagung „Soziologie wiederkehrender Religionen. Originalität und Relevanz der Religionssoziologie von Wolfgang Eßbach“ entstanden sind. Die Tagung hat im März 2018 an der Universität Leipzig stattgefunden und war eine durch die Thyssen Stiftung geförderte Kooperationstagung der Sektionen Religionssoziologie und Kultursoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie sowie der Kollegforschungsgruppe „Multiple Secularities“ der Universität Leipzig. Auch diese Beiträge haben – dem Anspruch der Zeitschrift gemäß – ein blind-peer-review-Verfahren durchlaufen.

Die special section wird durch ein eigenes Editorial von Heike Delitz, Uta Karstein, Kornelia Sammet eingeleitet. Ausgangspunkt der Tagung und damit auch der hier vorliegenden special section ist das zweibändige Werk zur Religionssoziologie von Wolfgang Eßbach bestehend aus dem Band „Glaubenskrieg und Revolution als Wiege neuer Religionen“ (2014) und dem Band „Entfesselter Markt und artifizielle Lebenswelt als Wiege neuer Religionen“ (2019). Im ersten Artikel der section fasst Wolfgang Eßbach seine These von der Neuformatierung von Religion im Anschluss an epochale gesellschaftliche Veränderungen noch einmal zusammen. Die folgenden Artikel nehmen diesen Gedanken auf, kritisieren und erweitern ihn. So rekonstruiert der Beitrag von Volkhard Krech die Eßbach’sche These differenzierungstheoretisch und re-analysiert die von Wolfgang Eßbach identifizierten Religionstypen (Bekenntnis- und Rationalreligion, Kunst- und Nationalreligion, Wissenschaftsreligion und ritual-technische Verfahrensreligion) als unterschiedliche Typen der Grenzziehung zwischen (Religions‑)System und Umwelt. Der Beitrag von Uta Karstein nimmt das Thema der Kunstreligion auf und beleuchtet dies im Lichte der Entwicklungen in der bildenden Kunst im 19. Jahrhundert, um daran zeigen zu können, wie neue Strömungen zur Belebung und Veränderung der schon vorhandenen Bekenntnisreligion führen. Der Beitrag von Heike Delitz und Robert Seyfert entwirft auf der Basis des Eßbach’schen Materialkorpus eine Typologie verschiedener Formen historischer religiöser Bewegungen als Kollektivformen. Julian Müller und Mario Grizelj wiederum erweitern Wolfgang Eßbachs Thesen um die Perspektiven von Michel de Certeau und Bruno Latour, um damit eine Neujustierung des ritual-orientierten Katholizismus und des intellekt-orientierten Protestantismus vornehmen zu können.

Will man so etwas wie einen gemeinsamen Nenner der in dieser Ausgabe versammelten Beiträge identifizieren, so zeigt sich im Überblick, dass trotz aller thematischen, methodischen und theoretischen Unterschiede im Zugriff auf Religion alle Beiträge – mehr oder minder explizit – auf die Kontextualisierung von Religion verweisen: Religion, so ließe sich eine verbindende These formulieren, existiert nicht ohne Kontext und ihre verschiedenen Formatierungen werden durch die Verschiedenheit der Kontexte bestimmt.

Diese Kontexte können historische epochale Veränderungen sein, wie Wolfgang Eßbach dies argumentiert, aber auch die Organisation einer Flüchtlingsunterkunft mit der für sie typischen Temporalität des Verbleibens (worauf die Analyse von Alexander-Kenneth Nagel hindeutet) oder die unternehmerische Tätigkeit, die die Einbindung und das Engagement in religiösen Gemeinden als Ressource sichtbar macht (im Artikel von Marc Breuer). Der Artikel von Nicholas Alan Mullins verweist explizit auf die historische Einbettung von Religion und deren Formatierung: während im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg Religion etwas zu harmonisierendes gewesen sei, sei sie erst durch die religiöse Befreiung personalisiert worden und tauche in den aktuellen Debatten als religio-kulturelle Identitätsetikettierung wieder auf. Nicholas Alan Mullins verbindet damit die These, dass Religion nicht in die Öffentlichkeit zurückkehren könne, weil sie nie wirklich aus ihr verschwunden sei.

Die je unterschiedliche FormatierungFootnote 1 von Religion zeigt sich in den vorgestellten Beiträgen z. B. darin, dass – in den Beobachtungen von Alexander-Kenneth Nagel – Religion und religiöse Bedürfnisse im Ordnungsrahmen von Flüchtlingsunterkünften allein auf die religiösen Praxen des Betens und der Feste beschränke und sich für andere Formen kein Platz finden lasse, dass sich in der Untersuchung von Marc Breuer Religion in heterogenen Formen der Produktgestaltung und Kundenorientierung von selbständigen Unternehmer*innen mit Migrationshintergrund findet und dass sich – mit Nicholas Alan Mullins – aktuell vor allem in den USA und in Europa Religion(en) und Religiosität gegen den liberalen Wertekanon von Fairness, Toleranz und Rechtegleichheit positionieren. Hier zeigt sich, dass je nach Kontext, „Religion“ etwas anderes bedeuten kann.

Unter den analytischen Begriff des „Kontext“ lassen sich verschiedene Arten von „Umweltbedingungen mit Handlungsrelevanz“ (Tranow 2018, S. 24) zusammenfasen. Diese können strukturell im „Außerhalb“ des Individuums vermutet werden und umfassen gesellschaftliche Ordnungen wie beispielsweise generationale, geschlechtliche, ethnische, alltagsrituelle oder körperliche Ordnungen, staatsbezogene Ordnungsrahmen wie Recht oder policies, Transnationalität und Gouvernementalitäten und Ordnungswandel im Sinne von Dynamisierung als Kontext (Schnabel et al. 2018, S. 10). Als Kontexte lassen sich aber auch mentale Zugriffe auf Welt auffassen, die durch ihren interpretativen Rahmen bestimmte Auslegungen nahelegen und andere irritieren oder ganz in die Unsichtbarkeit verdrängen (u. a. Schulz-Schaeffer 2008). Insofern entzieht sich der Kontextbegriff der klassischen Ebenenunterscheidung der Soziologie: Kontexte wirken eben nicht allein auf gesellschaftlicher, organisationaler und interaktiver Ebene, sie haben neben der strukturellen Prägung auch eine mentale, mit der sie – ganz im Goffman’schen Sinne – Perzeption, Evaluation und Handlungsdispositionen „rahmen“ (Goffman 1974). Dieses Framing ist weniger, wie die aktuelle mediale Diskussion unterstellt,Footnote 2 Manipulation als vielmehr ein Rahmen der Selektion situativer Elemente für Herstellung einer Interpretation der Situation. Damit werden Praxen des Alltäglichen und Außeralltäglichen religiös oder religiöse Praxen politisch – wie dies die sogenannte „Kopftuch-Debatte“ zeigt (Benhabib 2010). Die Bezugsrahmen sind sozial, ihre Wirkmächtigkeit bezieht sich aber auf den individuellen Zugriff auf Welt – die Ebenen des Sozialen interagieren hier.

Die Kritik an einem kontext-unsensiblen Religionsbegriff ist allerdings nicht neu. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit verschiedenen Definitions- und Theoretisierungsversuchen weist unter anderen McCutcheon (1995) den monotheistischen Bias vieler Konzeptionalisierungen von Religion nach, der eben auch dazu führe, nicht nur andere Typen von Religion, sondern die – u. U. regionalen – Unterschiedlichkeiten und Spezifitäten in Organisation und Ausübung von Religion sowie in den damit verbundenen Weltzugängen und lebensweltlichen Regelungen zu übersehen (ähnlich: Stausberg 2010; sowie aus post-kolonialer Perspektive: Horii 2015). Auch Casanova (2006) argumentiert, dass es nicht eine Form der Säkularisierung – als Reaktion auf Religiosität – gäbe, sondern sich historisch und kulturvergleichend verschiedene Konstellationen beobachten ließen und die europäische nur eine unter anderen sei.

Die kontextuelle Formatierung von Religion ist konsequenzenreich. Ihre Untersuchung reagiert auf die Beobachtung, dass sich Konzeptionalisierungen, die die Existenz des Religiösen oder der Religion unterstellen, angesichts der empirisch beobachteten Vielgestaltigkeit von Religion aufzulösen beginnen. Die Betonung der Kontextgebundenheit von Religion ermöglicht damit eine schärfere und nuanciertere Beobachtung dessen, was sich derzeit im Feld des Religiösen empirisch aufdrängt. Dies betrifft sowohl das von Nicholas Alan Mullins konstatierte Erstarken religio-kultureller Identitäten und die De-Privatisierung von Religion im öffentlichen Raum als auch das von Wolfgang Eßbach stark gemachte Hervortreten neuer Religionsformen wie der Wissenschaftsreligion oder der ritual-technischen Verfahrensreligion sowie die von Alexander-Kenneth Nagel beobachteten Anpassungen religiöser Rituale an die organisationale (gouvernementalen), räumlichen und zeitlichen Bedingungen von Flüchtlingsunterkünften oder die von Marc Breuer untersuchte Nutzung von Religion als Ressource für wirtschaftliches Handeln. Religion lässt sich damit – so kann gefolgert werden – in seinen Dynamiken, Verschiedenartigkeiten und Widersprüchen erst dann soziologisch umfassend verstehen, wenn es als indexikalisches Phänomen gelesen wird: Religion lässt sich, wie u. a. Schnabel et al. (2018, S. 8) in der Einleitung zu ihrem Sammelband fordern, erst in ihrem raum-zeitlichen und sozialen Zusammenhang ausdeuten.

Dennoch bleibt der eindeutige Zusammenhang von Kontext und Religion komplex: ein eindeutiges Ursache-Wirkungsverhältnis lässt sich hier nicht so einfach ausmachen – dies zeigt u. a. auch der Artikel von Marc Breuer. Die kontextuelle Formatierung des Religiösen wirkt unmittelbar zurück in ihre Kontexte: Unternehmertum macht Religion nicht nur als Ressource sichtbar, die Einbettung in religiöse Interpretationsframes und gemeindliche Formen der Vergemeinschaftung machen bestimmte ökonomische Entscheidungen erst möglich und lassen andere als nicht-effizient erscheinen. Kontextualisierung und Formatierung lassen sich hier oft nur analytisch, nicht aber empirisch trennen. Dies wird auch dort sichtbar, wo der Kontext das zu Formatierende erst schafft, beispielsweise, wenn erst im Anschluss an die Überschreitung einer territorial-staatlichen Grenze Differenzen als „religiös“ beobachtet werden.

Die Beiträge dieser Ausgabe lassen sich damit an einer der vielleicht wichtigsten Fronten der aktuellen wissenschaftlichen Debatten zur Religion verorten: Nicht nur, weil sie aktuelle politische und soziale Thematiken im Feld der Religion benennen und untersuchen, sondern weil sie den Versuch unternehmen, das komplexe Verhältnis von Kontext und Formatierung von Religion theoretisch und auch empirisch zu adressieren. Dies bereichert eine zentrale Debatte, die sicherlich noch weiterer Beiträge bedarf.

So bleibt mir dann nur, Ihnen viel Spaß und Erkenntnisgewinn bei der Lektüre der Beiträge dieser Ausgabe zu wünschen – und sich von dieser vielleicht zu einer eigenen Einreichung inspirieren zu lassen.