1 Die lange währende Vorgeschichte der Reform des Bundestagswahlrechts

Seit nunmehr ungefähr dreißig Jahren, konkret seit der Bundestagswahl 1994, quält sich das deutsche Parlament mit der Debatte über eine dringend notwendige Reform des deutschen Wahlsystems. Bei der Bundestagswahl kam es zu der bis dahin nie dagewesenen Anzahl von insgesamt 16 Überhangmandaten, von denen 12 für die CDU und 4 für die SPD anfielen. Die Wahl von 1994 war auch Anlass für einen Artikel von Hans Meyer (1994), der die kommende Debatte maßgeblich prägen sollte. Denn neben dem für ihn herausragenden Problem der Überhangmandate sprach Meyer auch eine aus seiner Sicht eher „unterhaltsame“ Absurdität des Wahlsystems an, nämlich den Effekt, der später vor allem unter dem Begriff des „negativen Stimmgewichts“ in der Debatte eine Rolle spielen sollte. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2008Footnote 1 wurde dieses für verfassungswidrig erklärt, was zu einer ersten Blütezeit von Reformentwürfen in den Jahren 2009 bis 2011 führte und schließlich zu dem Wahlgesetz von Union und FDP von 2011. Diesem war allerdings nur eine kurze Lebenszeit beschieden, denn es wurde schon wieder 2012 durch ein neues Bundesverfassungsgerichtsurteil kassiertFootnote 2. Mit diesem Urteil wurden zum ersten Mal nun die Überhangmandate selbst als verfassungswidrig erklärt, zumindest wenn sie die Anzahl von 15 überschreiten sollten. Das gemeinsam von allen Parteien außer der Linken schließlich verabschiedete Gesetz von 2013 sah daher konsequenterweise den Ausgleich aller Überhangmandate vor.

Bei der Bundestagswahl 2013 vergrößerte sich der Bundestag aufgrund des Ausgleichs um 33 Mandate auf 631 Sitze. Dass das neue Wahlgesetz aber grundsätzlich eine große Anfälligkeit für noch deutlich dramatischere Vergrößerungen des Bundestags aufwies, wurde durch mehrere Simulationsstudien eindeutig nachgewiesen (Weinmann 2013; Behnke 2014, 2017a).

Mit der Vergrößerung des Bundestags um 111 auf insgesamt 709 Sitze bei der Bundestagswahl 2017 wurde diese prognostizierte Anfälligkeit dann auf eindrucksvolle Weise Realität. Grund dafür waren Überhangmandate der CDU, die mit Ausgleichsmandaten für die anderen Parteien kompensiert werden mussten. Der Alterspräsident Hermann Otto Solms sprach in seiner Eröffnungsrede des neuen Bundestags in diesem Zusammenhang von einem „aufgeblähten Parlament“, unter dessen Größe „Ansehen und Arbeitsfähigkeit“ leide, was eine schnelle Reform des Wahlrechts erfordere.Footnote 3 Auch der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble zeigte sich schon kurz darauf von der Notwendigkeit einer zügigen Reform überzeugt. Anfang 2018 wies er darauf hin, dass das Parlament nun einen Präsidenten habe, der „ein Scheitern nicht zulassen will“Footnote 4. Auch 102 Verfassungsrechtler sprachen sich im Spätsommer 2019 aus „Sorge um das Ansehen der Demokratie“ in einem öffentlichen Appell für eine schnelle Reform des Wahlgesetzes ausFootnote 5, damit durch die Handlungsunfähigkeit der Parteien bezüglich der Reform nicht das „Vertrauen der Menschen in unsere Demokratie“ erschüttert werde. Der Wahlrechtler Hans Meyer (2018) sprach von einem „adipösen Bundestag“ und der Mathematiker und Wahlsystemforscher Friedrich Pukelsheim (2019) hielt in Zukunft nicht einmal mehr einen „Bundestag der Tausend“ für ausgeschlossen, wenn Reformen des Wahlsystems ausblieben. Trotz des großen Drucks seitens der Öffentlichkeit, der Wissenschaft und der Politik passierte jedoch zunächst wenig. Eine von Schäuble eingesetzte Reformkommission musste im April 2019 ihr Scheitern eingestehen. Ein von Schäuble entworfener „Kompromissvorschlag“, der die Union voraussichtlich massiv bevorzugt hätte, war von den anderen Parteien abgelehnt wordenFootnote 6. Neuen Handlungsdruck schaffte ein Vorschlag der drei Oppositionsfraktionen Grüne, FDP und Linke, der als Kernelement eine Reduktion der Wahlkreise auf 250 beinhalteteFootnote 7. Der Koalitionsausschuss der Große Koalition fand als Antwort darauf schließlich am 25. August 2020 zu einem Beschluss, der die Grundzüge des später folgenden Gesetzes enthielt, das dann selbst am 8. Oktober 2020 mit der Mehrheit der Großen Koalition im Bundestag beschlossen wurde.

Das neue Gesetz sah die folgenden „Dämpfungsmaßnahmen“ vor: Erstens die teilweise Verrechnung von Überhangmandaten mit Listenmandaten, die die Überhangspartei in Bundesländern noch erhält, wo sie keine Überhangmandate bekommt. Zweitens sollten bis zu drei Überhangmandate ohne Ausgleich bestehen bleiben dürfen. Drittens sollte es eine Reduktion der Anzahl der Wahlkreise von 299 auf 280 geben. Der letzte Punkt sollte allerdings noch nicht für die Wahl von 2021 in Kraft treten, sondern erst für die darauffolgende.

Trotz des neuen Gesetzes – man könnte auch sagen, wegen des neuen Gesetzes bzw. seiner Untauglichkeit – kam es bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 zu einem noch größeren Bundestag als 2017. Mit insgesamt 736 Sitzen und einer Vergrößerung um 138 Mandate wurde ein neuerlicher trauriger Rekord des notorischen Riesenwachstums des deutschen Parlaments aufgestellt. Selbst die denkbar ambitionsloseste Aspiration für das neue Gesetz, wie sie von Annegret Kramp-Karrenbauers nach dem Koalitionsbeschluss noch formuliert worden war, damit sei „die Chance, dass der nächste Bundestag auf jeden Fall nicht größer wird als der jetzige, relativ groß“Footnote 8, war damit nicht erfüllt worden.

2 Die Mechanik der Vergrößerung

Die Mechanik der Vergrößerung lässt sich anhand des Beispiels der letzten Wahl sehr einfach darstellen. Der Ausgleich orientierte sich an den Überhangmandaten der CSU. Aufgrund ihres Zweitstimmenanteils hätte die CSU einen Anspruch auf exakt 33,86 Mandate gehabt. Allerdings hatte sie 45 Direktmandate errungen. Mit 5,66 % der Zweitstimmen errang die CSU demnach aufgrund der Direktmandate einen Anspruch auf 7,53 % aller regulär zu vergebenden Mandate und war damit um mehr als 30 % überrepräsentiert (vgl. Tab. 1). Da nach dem neuen Wahlgesetz drei der Direktmandate der CSU als unausgeglichene Überhangmandate stehen bleiben durften, musste der Bundestag so lange vergrößert werden, bis die CSU auch aufgrund ihrer Zweitstimmen einen Sitzanspruch auf 42 Mandate gehabt hätte. Zusammen mit den drei unausgeglichenen Überhangmandaten kommt man daher zu einer Endgröße des Bundestags von 736 Sitzen.

Tab. 1 Wichtige Kennzahlen der Bundestagswahl vom 26.09.2021

Hätten alle 45 Direktmandate der CSU durch Zweitstimmen abgedeckt werden müssen, hätte der Bundestag auf 787 Sitze, also noch einmal um 51 Sitze mehr, vergrößert werden müssen.

3 Lösungsansätze

Ist es einmal zu Überhangmandaten gekommen, dann gibt es verschiedene „Stellschrauben“, mit denen das System justiert werden kann, die sich wiederum als normative Bedingungen formulieren lassen, also als wünschenswerte Eigenschaften, die das Wahlsystem idealerweise erfüllen soll. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um die folgenden drei Bedingungen.

  1. 1.

    Aufrechterhaltung des Interparteienproporzes: Die endgültigen bundesweiten Sitzzahlen der Parteien sollen dem Verhältnis ihrer bundesweit erzielten Zweitstimmen entsprechen.

  2. 2.

    Unantastbarkeit der Direktmandate: Direktmandate, d. h. Wahlkreismandate, die eine Partei dadurch errungen hat, dass ihr Kandidat im Wahlkreis eine relative Mehrheit an Erststimmen gewonnen hat, sollen der Partei ungeschmälert zugeteilt werden.

  3. 3.

    Unantastbarkeit der Listenmandate: Listenmandate, die einer Partei proportional zu ihren Zweitstimmen in einem Bundesland zustehen, ausgehend von der Regelgröße des Bundestags von 598 Sitzen, sollen der jeweiligen Landesliste der Partei in vollem Umfang zustehen.

Anhand dieser drei Bedingungen lässt sich eine Typologie bzw. eine Taxonomie aufstellen, in die die bisherigen Reformentwürfe eingeordnet werden können. Ein Gesetzesentwurf oder Modell wird einer bestimmten Klasse zuordnet, je nachdem, welche der drei Bedingungen von ihnen erfüllt werden bzw. welche nicht. In Tab. 2 ist eine Übersicht dieser Typologie zu sehen, die Ausprägung „0“ bedeutet dabei jeweils, dass die entsprechende Bedingung nicht erfüllt ist, „1“ bedeutet, dass sie erfüllt ist. Geht man davon aus, dass der Charakter der Verhältniswahl unangefochten bleiben soll, kommen demnach nur die Typen 5 bis 8 in Frage. Modelle wie Typ 5 und 6, bei denen die überschüssigen Direktmandate einfach nicht vergeben werden, sind die einzigen, die garantieren können, dass die Regelzahl eingehalten wird. Die Verrechnung von Überhangmandaten mit Listenmandaten verringert zwar die Vergrößerung, kann aber die Einhaltung der Regelgröße nicht garantieren. Sollen sowohl Direktmandate als auch Listenmandate beibehalten werden, bleibt nichts anders als der Ausgleich übrig, mit den entsprechenden Folgen der Vergrößerung.

Tab. 2 Taxonomie der vorliegenden Modelle bzw. Gesetzesentwürfe anhand der drei Bedingungen

Eine andere Herangehensweise besteht darin, Überhangmandate erst gar nicht entstehen zu lassen oder ihr Entstehen zumindest unwahrscheinlicher zu machen. Die üblichen Vorschläge in dieser Richtung zielen auf die Reduktion des Anteils der Direktmandate oder die Schaffung von Mehrpersonenwahlkreisen (vgl. Behnke 2017b; Pukelsheim 2018). Da diese die Einhaltung der Regelgröße allerdings nicht garantierten können, müssen sie zusätzlich mit den zuvor erwähnten Mechanismen kombiniert werden, wenn die Regelgröße strikt gelten soll.

Noch einen Schritt weiter gehen Modelle, die die Einbettung des Personenwahlelements in die Verhältniswahl so konsequent umsetzen, dass es von Anfang an gar nicht mehr erst zu Konflikten kommen kann. Modelle, die in der Tradition des ehemaligen Wahlsystems von Baden-Württemberg stehen (Funk 2018; Behnke 2019), erfüllen z. B. diese Anforderung. Weiterhin gibt es Wahlkreise mit Wahlkreiskandidaten. Das Abschneiden der Kandidaten im Wahlkreis begründet aber keinen eigenen autonomen Mandatsanspruch mehr, sondern wird dazu genutzt, um eine Priorisierung der Kandidaten einer Partei vorzunehmen, anhand derer bestimmt wird, an wen die Sitze, die eine Partei im Verhältnis zu ihren Zweitstimmen bzw. Listenstimmen erhält, gehen sollen. Insofern entfallen die klassischen Direktmandate ganz und damit auch die mit ihnen verbundenen Probleme. Allerdings könnte es ähnlich wie bei Modellen, in denen überschüssige Direktmandate nicht zugeteilt werden, dazu kommen, dass es „verwaiste“ Wahlkreise gibt, denen kein aufgrund des Wahlkreisergebnisses gewählter Abgeordneter zugeordnet werden kann.

4 Diskutierte Vorschläge der Wahlrechtskommission

Das Wahlgesetz von 2020 sah die Einsetzung einer Wahlrechtskommission vor, die weitergehende Reformvorschläge ausarbeiten sollte. Zwei solcher Vorschläge wurden bis zur Sommerpause 2022 vorgelegt.

Der Vorschlag der drei Obleute der Ampelkoalition sieht vor, dass keine überschüssigen Direktmandate vergeben werdenFootnote 9. Dabei geht es um die internen Überhangmandate, die auf der Ebene der Bundesländer entstehen, der Vorschlag entspricht daher Typ 6 aus der Tabelle. Hat eine Partei in einem Bundesland im Verhältnis zu ihren Zweitstimmen Anspruch auf x Mandate, dann können maximal x Direktmandate an die Kandidaten dieser Partei vergeben werden, die in der Reihenfolge des Erststimmenanteils der Kandidaten zum Zuge kommen. Der bemerkenswerte Fortschritt bestünde also darin, dass erstmals garantiert wäre, dass die Regelgröße des Bundestags eingehalten würde und dabei sowohl der bundesweite Proporz zwischen den Parteien als auch der Proporz zwischen den Landeslisten einer Partei zu 100 % erhalten blieben. Weiterhin soll darüber hinaus gewährleistet sein, dass aus jedem Wahlkreis ein Abgeordneter entsandt wird. Daher ist im Entwurf der Obleute der Ampelkoalition eine sogenannte Ersatzstimme vorgesehen. Diese kommt zum Zug, wenn die oder der mit der Erstpräferenz gewählte Abgeordnete ihr bzw. sein Direktmandat nicht zugeteilt bekommen kann, weil es nicht durch Zweitstimmen gedeckt wäre. Die Ersatzstimme dieser Wähler wird dann den originären Erstpräferenzen der anderen Wähler für den jeweiligen Kandidaten hinzugezählt und das Wahlkreismandat erhält dann derjenige Kandidat, der die höchste Anzahl originärer Erststimmen plus Ersatzstimmen erhält (vgl. auch Behnke 2020)Footnote 10.

Der Gegenvorschlag der Unionsparteien besteht in einem alten Bekannten, nämlich dem Grabenwahlsystem. In diesem wird wie bisher auch ein Teil der Mandatsträger durch die relative Mehrheitswahl im Wahlkreis gewählt und ein Teil nach den Grundsätzen der Verhältniswahl. Allerdings findet keine Verrechnung der Wahlkreismandate mit den Listenmandaten der Verhältniswahl statt. Das Grabenwahlsystem bevorzugt daher sehr stark die Parteien, die Direktmandate erhalten. Am deutlichsten lässt sich dies an der CSU illustrieren. Simuliert man die Ergebnisse für das Grabenwahlsystem bezüglich der Wahlergebnisse der letzten Bundestagswahl, dann hätte die CSU knapp 40 % an Mandaten hinzugewonnen (Behnke 2022), obwohl der Bundestag insgesamt um knapp 20 % reduziert worden wäre. Obwohl die CSU 2021 mit 31,7 % der Zweitstimmen ihr schlechtestes Ergebnis seit mehr als 70 Jahren erhielt, hätte sie in einem Grabenwahlsystem mit insgesamt 62 Mandaten über 10 % der Sitze erhalten, sowohl absolut als auch relativ mehr Sitze als sie 2002 in einem Verhältniswahlsystem mit einem Traumergebnis von 58,6 % der Zweitstimmen erhielt. Bei einer annähernden Halbierung ihres Zweitstimmenanteils seit 2002 hätte die CSU durch die Einführung eines Grabenwahlsystem also sogar noch zugelegt. 2009, 2013 und 2017 hätte es zudem für die Unionsparteien bei denselben Stimmergebnissen unter einem Grabenwahlsystem jeweils für eine absolute Mehrheit gereicht (Behnke 2022). Ein Grabenwahlsystem würde also zu extremen Verzerrungen der Sitzverteilung führen.

5 Fairness als Metabedingung für Reformdiskussionen

Wahlen sind der Kern der Demokratie. Da diese heutzutage nur als repräsentative gedacht werden kann, ist der Akt, mit dem der Souverän seine Herrschaft auf Zeit an von ihm ernannte Akteure abgibt, der grundlegende überhaupt. Die Legitimität der auserwählten Repräsentanten wird dabei vor allem auch davon abhängig sein, wie die Prozeduren beschaffen sind, mit der die Herrschaftsübertragung vonstattengeht. Diese Prozeduren müssen allgemein zustimmungsfähig sein, zumindest in dem Sinn, dass ihnen mit vernünftigen Gründen nicht widersprochen werden kann (Scanlon 1998, S. 4). Dafür müssen die Regeln selbst fair sein, aber auch die Metaregeln, mit denen man sich über diese Regeln erst einigt, müssen allen Beteiligten gegenüber fair sein und es muss eine Art geteiltes Vorverständnis darüber geben, dass bei Fragen, in denen es um die gerechte Berücksichtigung von Interessen geht, insbesondere Machtinteressen erst gar nicht ins Spiel kommen dürfen (vgl. auch Behnke 2015).

Fast alle Vorschläge, die im Rahmen der Debatte gemacht wurden (vgl. Tab. 2), erfüllen diese Fairnessvoraussetzung. Auch der Vorschlag der Ampelkoalitionäre, über den man im Detail sicherlich streiten kann, ist unstrittig fair, weil er das zu bringende „Opfer“, das durch die Rückführung auf die Normgröße gebracht werden muss, gerecht zwischen allen Parteien aufteilt, da jede genau denselben Anteil ihrer Mandate abgeben müsste.

Es muss hingegen irritieren, dass die Union bisher ausschließlich Vorschläge in die Debatte eingebracht hat, bei denen sie guten Glaubens davon ausgehen konnte, dass sie selbst davon Vorteile hätte. Schon die von den ehemaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble eingebrachten Vorschläge versuchten der Union einen Vorteil zu sichern, indem sie an unausgeglichenen Überhangmandaten festhielten. Damit verloren sie jegliche Glaubwürdigkeit, hier unparteilich als eine Art Bismarck’scher „ehrlicher Makler“ tätig zu sein, und fuhren so beide diese Verhandlungen erfolgreich gegen die WandFootnote 11.

Das Grabenwahlsystem stellt insofern aus Sicht der Union nur noch die letzte und konsequente Endstufe von Reformen zum Zweck der Schaffung eines Vorteils für die eigene Seite dar. Die Debatte begann mit 16 Überhangmandaten 1994, die allgemein durchaus als Problem wahrgenommen wurden, und die Lösung der Union besteht nun darin, ein Modell vorzuschlagen, das in gewisser Weise die Zahl der Überhangmandate auf 299 fixiert und keinerlei Ausgleich für diese vorsieht.

Die übliche Verteidigungslinie mancher Unionsabgeordneter, man verhalte sich insofern fair, weil die Vorteile, die bestimmten Parteien z. B. in Form unausgeglichener Überhangmandate oder beim Grabenwahlsystem zufallen würden, ja theoretisch bei Erfüllung der entsprechenden Bedingungen jeder Partei zufallen würden, kann nicht überzeugen. Denn diese Vorteile sind damit an Eigenschaften geknüpft, die stabil mit bestimmten Akteuren und deren Identität verbunden sind. Die FDP wird aller Voraussicht nach niemals in der Situation sein, Direktmandate in größerer Zahl zu gewinne. Die Union könnte hier genauso gut argumentieren, es bräuchte keine Barrierefreiheit für Rollstuhlfahrer, weil dieser nicht systematisch benachteiligt würde, denn wenn der Rollstuhlfahrer gesund wäre, bräuchte er ja die entsprechenden Hilfsmaßnahmen ebenfalls nicht, bzw. hätte der Gesunde denselben Nachteil, wenn er in der Rolle des Rollstuhlfahrers wäre. Gerechtigkeit besteht nicht einfach darin, dass sich der eine genauso in der Rolle des anderen finden könnte (was empirisch meistens auch gar nicht der Fall ist), sondern dass derjenige, der sich in der Rolle des Benachteiligten findet, entsprechende Unterstützung findet bzw. diese Nachteile ausgeglichen oder beseitigt werden.

Von den vorliegenden Vorschlägen erfüllt daher nur der Ampelvorschlag das Kriterium, dass er zulässig ist in dem Sinn, dass er die Metanormen der Fairness einhält. Was wiederum nicht heißt, dass es nicht auch noch andere Vorschläge geben könnte, die diese Bedingung ebenfalls einhalten würden und die im Zuge der Diskussion noch ins Spiel kommen könnten.