1 Anfänge in Heidelberg

Am 27. Dezember 2020 ist Erwin Faul, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier, im Alter 96 Jahren verstorben (Universität Trier 2021). Er war der letzte Zeitzeuge aus den Anfangsjahren der vor 70 Jahren als neues universitäres Fach wiederbegründeten „Politischen Wissenschaft“.

Nach vier Jahren als Soldat und einer kurzen Zeit als Kriegsgefangener kam der 22-jährige Mannheimer, Sohn eines städtischen Arbeitnehmers, im November 1945 nach Heidelberg, um an der wieder eröffneten Universität zu studieren. Dort hatte Alfred Weber, der jüngere Bruder von Max Weber – obwohl schon 77 Jahre alt – begonnen, das von ihm 1924 gegründete und von den Nationalsozialisten 1933 zerschlagene Institut für Sozial- und Staatswissenschaften (INSOSTA) mit Billigung der amerikanischen Besatzungsmacht wieder aufzubauen. An ihm hatten neben Soziologen wie Karl Mannheim, Norbert Elias und Erich Fromm auch Politikwissenschaftler wie Carl Joachim Friedrich, Arnold Bergstraesser und Richard Löwenthal ihre wissenschaftliche Karriere begonnen. Das neue INSOSTA zog Angehörige einer Generation an, die von Hitlerjugend, Krieg und Kriegsgefangenschaft geprägt worden war. Sie suchten nach einer neuen Orientierung und waren beeindruckt von Alfred Webers universalgeschichtlicher Großzügigkeit in seinem Denken. So gingen auch aus dieser zweiten Phase des INSOSTA, die Mitte der 1950er-Jahre ausklang, Schüler hervor, die als Wissenschaftler, wie Rudolf Wildenmann und Reinhart Koselleck, oder als Publizisten, wie Bruno Dechamps (FAZ) und Hans Heigert (Süddeutsche Zeitung), wichtige Beiträge zum intellektuellen und politischen Leben der ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik leisteten.

2 Pionier der Forschung zu Hitlers Machtgewinnung

Alfred Weber regte seine ersten Schüler nach 1945 an, sich mit den Grundlagen der Macht des NS-Regimes zu beschäftigen. Erwin Faul unternahm es, den Weg vom Renaissance-Machiavellismus zum zugespitzten Machiavellismus des NS-Regimes als eine politische Methode nachzuzeichnen, die sich die menschlichen Triebe, Leidenschaften und Gefühle nutzbar machen will. Seine Analyse der Technik Hitlers zur Machtgewinnung war eine der ersten Arbeiten zu diesem Thema. Erst zu Beginn der 1960er-Jahre befassten sich die größeren historischen Studien von Bracher und Shirer (Bracher et al. 1960) mit dieser Frage. 1952 legte Faul in Heidelberg seine Dissertation zu „Die Situation des modernen Machiavellismus“ vor. Seine Ausführungen zu Hitlers Machiavellismus wurden 1954 in einem der ersten Ausgaben der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte mit einer einleitenden Vorbemerkung des Herausgebers Hans Rothfels veröffentlicht (Faul 1954, S. 344). Er stimmte Faul zu, dass für den Aufstieg und die Machtübernahme Hitlers die nationalsozialistische Parteiprogrammatik nicht überschätzt werden dürfe. Hitlers Aufstieg sei vor allem seinen machiavellistischen Praktiken zuzuschreiben. Die einzelnen Forderungen seines Programms dienten ihm vornehmlich dazu, den Vorstellungen der Masse der fanatisierten Anhänger zu entsprechen. Sie seien austauschbar und daher inhaltsleer gewesen. Das zentrale Ziel Hitlers sei es gewesen, unter seiner Führung die Weltherrschaft einer Elite der nordischen Rasse durch den Sieg über die jüdische Weltverschwörung zu errichten.Footnote 1

Die Arbeit Fauls zeigte die nihilistischen und sozialdarwinistischen Grundlagen des vom Nationalsozialismus realisierten modernen Machiavellismus auf (umfassend dazu: Faul 1961). Sie leitete damit eine politikwissenschaftliche Bearbeitung eines Themas ein, das von deutschen Historikern in jenen Jahren aus persönlicher Betroffenheit umgangen oder einseitig behandelt wurde. Die nationalsozialistische Führungstechnik sei im Wesentlichen als Substrat handgreiflicher Erfahrungen in Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern und in der Gestaltung der eigenen Bewegung entstanden. Hitlers Stellung sei wegen der schon in den Jahren der Eroberung der Macht durchgesetzten und später ausgebauten Zentralisierung der NSDAP so dominierend gewesen, dass alle von anderen Mitgliedern der Führungsmannschaft eingeleiteten Aktionen zumindest seiner stillschweigenden Duldung bedurften. Er sei wegen seiner technisch propagandistischen Fähigkeiten und seiner Willensenergie unbestrittener Führer und Vorbild gewesen.

Mit seiner Arbeit entsprach Faul den Erwartungen Alfred Webers zu einem wichtigen Thema der Politikwissenschaft. Dieser hatte bereits 1947 die Erteilung eines Lehrauftrags an Dolf Sternberger für die „Wissenschaft von der Politik“ durchgesetzt. Er sah darin eine Chance für die Neuausrichtung der bisherigen „Staatswissenschaft“. Mit Hilfe seines Schülers Carl Joachim Friedrich, der von 1943 bis 1946 die „Harvard University School of Overseas Administration“ für die Ausbildung von Militärregierungsbeamten geleitetet hatte und von 1946 bis 1948 Berater für Verfassungs- und Regierungsfragen des US-Militärgouverneurs General Lucius D. Clay war, erhielt Sternberger eine Zuwendung der Rockefeller-Stiftung, um rechtzeitig mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes ein begleitendes Forschungsprojekt zu den Themen Parlamentarismus, Fraktionen und Parteien, Soziologie der Repräsentation, Parlamentarische Opposition und Regierungsorganisation ins Leben zu rufen. Das erste Team der Forschungsgruppe bestand aus Schülern Alfred Webers. Neben der Bearbeitung seines Forschungsthemas – die Rolle der SPD als Oppositionspartei im Bundestag – übernahm Faul auch die Organisation und Geschäftsführung der Forschungsgruppe. Dies war eine anspruchsvolle Aufgabe, da Sternberger sich öfters in der Leitung der Sitzungen vertreten ließ. Faul war zudem gleichzeitig von 1953 bis 1955 Redakteur der Zeitschrift der Deutschen Wählergesellschaft und assistierte Alfred Weber bei seinen letzten Veröffentlichungen.

3 Prägende Figur für die Anfänge der deutschen Fachgesellschaften

Nach einer Neuorganisation der Heidelberger Politikwissenschaft gegen Ende der 1950er Jahre kam auf Faul eine neue Aufgabe zu. 1951 war, nicht zuletzt auf Drängen der amerikanischen Militärregierung und der American Political Science Association (APSA) die Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) gegründet worden. Dank ihres Engagements und ihres Forschungsprogramms kam den Heidelberger Vertretern des Faches dabei eine führende Rolle zu, da dieses an vielen Universitäten oft noch auf eine einzige Professur beschränkt war. Alexander Rüstow, der auf den Lehrstuhl Alfred Webers berufen worden war, wurde zum ersten Vorsitzenden der DVPW gewählt. Als 1959, nachdem die Berliner Hochschule für Politik in die FU Berlin eingegliedert worden war, ihr Direktor O. H. von der Gablentz den Vorsitz der DVPW übernahm, wurde Faul mit der Redaktion der neuen Fachzeitschrift, der Politischen Vierteljahresschrift (PVS) beauftragt. Er erhielt dafür die Stelle eines wissenschaftlichen Assistenten und einen Lehrauftrag am Heidelberger Institut für Politische Wissenschaft, nebenbei musste er sich auch um den Ausbau der Institutsbibliothek kümmern. Für die PVS erarbeitete er ein Redaktionskonzept, das die von Alfred Weber 1949 auf der Konferenz von Waldleiningen vorgetragenen Vorstellungen aufgriff. Das neue Fach sollte sich mit Weltpolitik und Außenpolitik, politischer Theorie und Ideengeschichte, vergleichender Staatenkunde, politischer Willensbildung und den staatlichen Institutionen befassen. Mit dem Ziel, diesem Konzept auch in der neuen Fachzeitschrift zu entsprechen, gelang es Faul in den folgenden 19 Jahren ein wissenschaftliches und geistiges Profil der PVS zu gestalten, das ihr nicht nur national und international zu hohem Ansehen verhalf, sondern auch dazu beitrug, das neue Fach an den deutschen Hochschulen erfolgreich zu verankern. Seine Redaktionsarbeit fand die entsprechende Anerkennung, er wurde Chefredakteur und schließlich alleiniger Herausgeber und in dieser Funktion 1963 bis 1973 immer wieder in den Vorstand der DVPW gewählt. Seit 1970 leitete Faul die Redaktion von Bochum aus, nachdem er 1970 einen Ruf an die neue Universität angenommen hatte.

Bis 1969 war die Zeitschrift von dem relativ kleinen Kreis von Professoren geprägt, die nach 1945 aus dem Exil zurückgekommen waren oder die sich von den Nachbardisziplinen aus für das neue Fach interessierten. Dazu kamen zunehmend Beiträge ausländischer Wissenschaftler, darunter auch von Emigranten, die nicht nach Deutschland zurückkehrten. Erst ab Mitte der 1960er-Jahre kamen die Beiträge der ersten Doktoranden und Habilitanden der Nachkriegsjahre hinzu. Zahlenmäßig führten dabei die Mitarbeiter der Institute der süddeutschen Universitäten und der FU Berlin. Thematisch dominierten Beiträge zum deutschen Regierungssystem, zur politischen Theorie und zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Der Vergleich mit ausländischen politischen Systemen und Themen europäischer und internationaler Politik, politische Bildung, Meinungsbildung und politische Kultur fanden dagegen weniger Beachtung.

In den 1970er-Jahren veränderte sich allerdings die Situation. Mit der Emeritierung der ersten Generation der Professoren des Fachs, der Errichtung zahlreicher neuer Lehrstühle, dem Wandel der Forschungsinteressen und der Forschungsmethoden, aber auch unter dem Eindruck der Studentenbewegung der späten 1960er-Jahre entstand der Wunsch nach einer Verbreiterung der Thematik. Faul wurde ein Fachbeirat zur Seite gestellt, der zunächst 27, 1979 aber bereits 37 Mitglieder hatte. Faul verschloss sich zwar nicht dem Wunsch nach neuen Themen, etwa der Friedens- und Konfliktforschung oder der neomarxistischen Systemkritik, bestand aber auf einen hohen wissenschaftlichen Standard. Die thematisch wie richtungspolitisch virulenten Auseinandersetzungen konnte Faul schließlich nicht mehr moderieren. Den demokratischen Wertebezug und die zentralen Grundsatzthemen wie Macht, Herrschaft und Legitimität, wollte er nicht in den Hintergrund drängen lassen. 1978 warnte er zusammen mit dem Redaktionsrat vor Fehlentwicklungen. Die seit Ende der 1960er-Jahre entstandenen „Umbruchsbewegungen und Polarisierungen“ seien nicht allein aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Konzeptionen, sondern aus der unterschiedlichen Wertung politischer Erfahrung sowie aus persönlichen Impulsen hervorgegangen. Die Folge sei ein Rückzug in die Arbeitsteilung bis hin zur Separierung der Lehrkörper, die Gründung von „Richtungszeitschriften“, „Sonder- und Geheimsprachen“, „bewusster Gesinnungsexklusivität“ oder „dogmatische Selbstabschließung“ und „abgeschottete Schulrichtungen“. Das bedeute den Verlust einer zusammenhängenden Entwicklung des Fachs und der kommunikativen wissenschaftlichen Diskussion (Faul 1978).

Der Apell fruchtete nicht. Die Meinungsverschiedenheiten waren so groß, dass Faul, nachdem er schon 1977 wegen den Studentenunruhen in Bochum einen Ruf an die Universität Trier angenommen hatte, sich 1979 entschloss, auch sein Amt als Chefredakteur der PVS niederzulegen. Die Gründe führte er in einer prinzipiellen Bestandsaufnahme aus. Die Fronten zwischen den verschiedenen Richtungen hätten sich so verhärtet, dass das Fach von der „Zerreißung“ wissenschaftlicher Kommunikation und damit vom Zerfall bedroht sei (Faul 1979).

Er spricht sich in dem Beitrag zudem für eine Rückkehr zu einer realistischen Politikwissenschaft aus, die den Risikocharakter der Politik nicht hinter Abstraktionen und Entwicklungskonzeptionen verberge. Die Auseinandersetzung mit den systemverändernden Theorien habe zu keiner Klärung geführt. Allerdings hätten sich dabei auch die Schwächen der politischen Bildung gezeigt, die ein nicht nachvollziehbares Idealbild der Demokratie präsentiert habe. Dagegen zeige die Erforschung des eigenen politischen Systems eindrucksvolle Ergebnisse. Die Themen der PVS dürften auch nicht auf das eigene Land beschränkt bleiben. Die Waldleininger Forderung von 1949 nach universalgeschichtlicher und weltpolitischer Analyse gehe in die gleiche Richtung, wie Gabriel Almond für die APSA gefordert hätte.

4 Politikwissenschaftliche Forschung und Lehre mit „fundamentaler Bedeutung“

Als eine Spätfolge des zeitweise erbittert geführten Richtungsstreits (vgl. hierzu ausführlich Bartels in: Knelangen und Stein 2013, S. 481 ff.) kam es 1983 zur Spaltung des Fachverbands durch die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (DGfP), der Faul beitrat (Bleek 2001, S. 359–370). Neben der Lehre gehörte sein Interesse im Sinne einer Politikwissenschaft als praktischer Wissenschaft der durch Kabel- und Satellitentechnik ermöglichten Neuordnung der Medien, für die in Rheinland-Pfalz ein Pilotprojekt durchgeführt wurde (u. a. Faul 1988). Kaum wahrgenommen wurde seine Rückkehr zu den Fragen der politischen Kultur, die in zwei großen, nicht nur lesenswerten, sondern auch immer noch aktuellen Aufsätzen mündete (Faul 1984); (Faul in: Haungs 1977, S. 63–81). Er erinnerte daran, dass die Zivilisation durch die weitere Zerstörung der natürlichen Umwelt, die globale Übervölkerung und die zerstörerische Macht von Waffen in den Händen von Machteliten bedroht sei. In einer späteren Schrift (Faul 1992) verleitete ihn das zu einer kontroversen Kritik an der deutschen Zuwanderungspolitik (vgl. dazu Linden 2006, S. 145–146). Fauls durchgehendes Plädoyer blieb, dass eine an universelle Werte gebundene politikwissenschaftliche Forschung und Lehre fundamentale Bedeutung für das Gemeinwesen in verunsicherten Situationen habe. Die Politikwissenschaft stehe, was schon ihren antiken Urvätern bewusst war, auf dem schwierigsten Terrain, das die Wissenschaft überhaupt zu vergeben habe. Für diese Herausforderungen der deutschen Politikwissenschaft war Erwin Faul an ihren Anfängen ein wichtiger Steuermann. Seine Arbeit wurde durch eine zweibändige Festschrift zu seinem 65. Geburtstag gewürdigt (Breitling und Gellner 1988).