Bereits der Titel des Themenheftes Veruneindeutigungen verweist auf das Konzept von Uneindeutigkeit als Strategie wie sie in öffentlicher Kommunikation, oftmals mit politischen Motiven, eingesetzt werden kann. Hierzu zählt der Gebrauch von Phänomenen semantischer Vagheit und Ambiguität ebenso wie der Einsatz von Verfahren des Verschweigens, Verdeckens, Verschlüsselns und Verbergens. Wo (öffentlich erhobene) EindeutigkeitspostulateFootnote 1 zu Präzision und eindeutigem Formulieren mahnen, können aus (partei-)strategischen Gründen auch Sprechweisen gewählt werden, die eine Festlegung (bspw. auf ein bestimmtes zukünftiges Handeln oder als Festlegung der Referenz), ein eindeutiges Verstehen erschweren sollen. Insbesondere in der öffentlich-politischen Kommunikation ist das Verstehen nicht immer Ziel des sprachlichen Handelns (vgl. Pappert/Schröter/Fix 2008, S. 9; vgl. u.a. Klein 1996, 2019). Verschlüsselte Botschaften, Kaschieren, euphemisierendes Verhüllen und Verbergen von Sachverhalten und Informationen, mehrfachadressierte Äußerungen, Mehrdeutigkeiten und vages Sprechen sind sprachliche Strategien, die in öffentlicher Kommunikation Äußerungsinhalte verdunkeln können und eher das Ziel des »Nichtverstehensollens« (Pappert/Schröter/Fix 2008, S. 9) verfolgen, verschiedene Lesarten ermöglichen sollen, inhaltliche Unklarheit kaschieren sollen (vgl. Klein 2019, S. 192–193) oder angesichts sozialer Konventionen und gesellschaftlicher Tabuthemen eingesetzt werden (vgl. Garavelli/Lenk 2017). Uneindeutigkeit und Veruneindeutigung als sprachliche oder kommunikative bzw. auch diskursive PraktikFootnote 2 können mit sprachlicher Unangemessenheit korrespondieren. Dabei kann ein sprachlicher Akt als unangemessen gelten, der sich auf unangemessen unspezifische und somit zu wenig informative Äußerungen bezieht und damit den Grice’schen Konversationsmaximen und dem oben genannten Gebot zu Eindeutigkeit (dem »Klarheits- und Verständlichkeitsgebot« (Klein 2019, S. 193)) widerspricht (vgl. Grice 1975; vgl. Pinkal 1991, S. 251; vgl. hierzu auch Völker 2022/i.Dr.). Die Untersuchung sprachlicher Verfahren der Ver(un)eindeutigung, gerade im Spannungsverhältnis zur öffentlichen kommunikativen Eindeutigkeitsforderung, zum Wahrheits- oder Aufrichtigkeitsgebot, aber auch in Bezug auf Kategorien wie Höflichkeit und Pietät sowie im Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlichen Normen und Wertvorstellungen und der Subjektivität einzelner Gesellschaftsmitglieder kann Aufschluss über Denkmuster und Sagbarkeitskonventionen geben und so zu einem erweiterten Verständnis von aktuell gültigen Ordnungs- und Wissensstrukturen im Diskurs geben. Sprachbezogene Analysen verschiedener Formen von Ver(un)eindeutigungen und ihrer Implikationen leisten in dieser Hinsicht einen Beitrag zu einer Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte (vgl. Hermanns 1995).

Bei der Verwendung von Lexemen mit großem Vagheitsspektrum, von mehrdeutiger Terminologie bzw. Formulierung oder wenn ein Ausdruck mit konkurrierenden Bedeutungen verknüpft ist, wird die vom Emittenten*der Emittentin (mutmaßlich) gemeinte BedeutungFootnote 3 ausgehandelt, es wird um die »richtige« oder »angemessene« Bedeutung gestritten, das Mitgemeinte oder Mitbedeutete wird metasprachlich thematisiert und das subjektive Verständnis expliziert. (Politische) Begriffe sind umkämpft, die Deutungshoheit über sie zu erlangen, heißt, Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung und Wissensgenese im Diskurs nehmen (vgl. hier auch Felders Konzept der semantischen Kämpfe u.a. in Felder 2006 sowie das daran anschließende Konzept der Agonalität u.a. in Mattfeldt 2018).Footnote 4 Der Zugriff auf Ein- und Mehrdeutigkeiten bzw. Ver(un)eindeutigungen etwa über die Ebenen Lexik, Metaphorik, Syntax, Text(-sorte), Text-Bild-Konnex und Diskurs soll die Möglichkeit eröffnen, verschiedene kommunikative Phänomene in unterschiedlichen Bereichen öffentlichen Sprechens aus linguistischer und literaturwissenschaftlicher Perspektive zu untersuchen.

Das vorliegende Heft setzt an diesen theoretischen Überlegungen an und fasst Ver(un)eindeutigungen als komplexe sprachliche Verfahren, die mehr oder weniger strategischFootnote 5 eingesetzt werden können, um spezifische Bedeutungsbestandteile gemäß der eigenen (politischen oder kommunikativen) Ziele hervorzuheben oder auszublenden.Footnote 6 Als Ver(un)eindeutigungen werden somit sprachliche Handlungen gefasst, die mit Hilfe sprachlicher Zeichen auf ein Referenzobjekt (einen Sachverhalt, eine Person, eine soziale/politische Gruppe, einen Gegenstand usw.) in alternativer Weise, d.h. abweichend vom aktuell üblichen Sprachgebrauch und damit linguistisch markiert, Bezug nehmen und durch die spezifische Sprachverwendung bestimmte Merkmale des Referenzobjektes hervorheben, ausblenden oder gemäß der jeweils eigenen Sichtweise und (Welt‑)Anschauung des Emittenten*der Emittentin auf es projizieren. Insbesondere im politischen Bereich geschieht dies mit dem Ziel, auf zukünftige (sprachliche oder nicht-sprachliche) Handlungen Einfluss zu nehmen, wobei das Spektrum möglicher Lesarten erweitert oder im Falle von Vereindeutigungen reduziert wird. Uneindeutige Ausdrucksweisen versperren sich einer eindeutigen Bedeutungsbestimmung.

(Un‑)Eindeutigkeit wird in diesem Heft zum Gegenstand einer sprachbezogenen Reflexion, die verschiedene Praktiken ver(un)eindeutigender Sprachverwendung in öffentlicher und politischer Kommunikation in den Blick nimmt, und dabei linguistische und literaturwissenschaftliche Zugänge zu unterschiedlichen Textsorten vereint. Das Datenmaterial, das hinsichtlich sprachlicher Praktiken der Ver(un)eindeutigung in den hier versammelten Beiträgen untersucht wurde, ist vielfältig und umfasst schriftliche Antwortbeiträge einer Online-Befragung (im Beitrag von Lind), Online-Kummerkasten-Beiträge (im Beitrag von Kalwa), AfD-Facebook-Posts (im Beitrag von Schröter), eine politische Rede sowie Sonette und Dramen (im Beitrag von Bauer und Zirker), Tarnschriften (im Beitrag von Markewitz), Produktverpackungen (im Beitrag von Bachmann-Stein) sowie mediale Berichterstattung, Todes- und Traueranzeigen, Gedenk‑/Kondolenztexte und Abschiedsbriefe (im Beitrag von Stein).

Potenziale und Probleme von Uneindeutigkeit und Ver(un)eindeutigungen werden in den in diesem Heft versammelten Beiträgen empirisch am konkreten Datenmaterial aufgezeigt und diskutiert. Die Beiträge zeigen, dass Veruneindeutigungen im öffentlichen Sprachgebrauch polyfunktional sind: Mit ihnen können unliebsame Wissensbestandteile verschleiert werden (für das Beispiel Werbekommunikation untersucht dies Bachmann-Stein), aber auch politisch kompromittierende, zensierte Inhalte oder die jeweiligen Emittent*innen können einer eindeutigen Zuordnung durch Verschleierung der Textsortenzugehörigkeit und der Autorschaft, und damit politischen Folgen, entzogen werden (für die Zeit des Nationalsozialismus untersucht dies Markewitz in seinem Beitrag). Im Bereich öffentlich-politischer Kommunikation können Veruneindeutigungen, die formal als explizi(er)tes Schweigen realisiert werden, dem Navigieren angesichts gesellschaftlicher Tabus dienen bzw. diese durch ausdrückliches Schweigen als Sagbarkeitsgrenzen skandalisieren (vgl. den Beitrag von Schröter). Im politischen Sprachgebrauch kann Ambiguität weiterhin rhetorisch genutzt werden, um politisch disparate Inhalte miteinander zu verbinden, indem Differenzen kaschiert werden, wovon sich literarische Ambiguierungen unterscheiden, die auf miteinander verbundene inkongruente Bedeutungsbestandteile verweisen und auf deren semantischem Wechselspiel zur Bedeutungsgenerierung basieren, wie Bauer/Zirker in ihrem Beitrag zeigen. Auch im Zusammenhang mit den Kategorien der Höflichkeit und Pietät können Veruneindeutigungen als kommunikative Strategie angesichts gesellschaftlicher Tabuthemen eingesetzt werden (vgl. den Beitrag von Stein). Im Themenbereich Sprache und Geschlecht werden Bestrebungen nach Vereindeutigungen sichtbar. So kann durch (in öffentlichen Äußerungen zum Ausdruck kommende Wünsche nach) Schaffung neuer Personenbezeichnungen bzw. die Klärung der Bedeutung bestehender Bezeichnungen die angesichts einer binären Geschlechterordnung uneindeutig erscheinende eigene Geschlechtsidentität sprachlich vereindeutigt werden bzw. kann auf Eigenschaften und Defizite des aktuellen Sprachgebrauchs und Sprachsystems verwiesen werden, wobei durch Selbstbezeichnungsversuche eine Selbstverortung angestrebt wird (vgl. den Beitrag von Kalwa). Für eine Bezeichnungseindeutigkeit jenseits von Zweigeschlechtlichkeit im Sinne einer, gesellschaftlichen und sprachlichen, Anerkennung und Legitimierung nicht-binärer Positionen spricht sich im Anschluss an ihre Analyse auch Lind in ihrem Beitrag aus.

Das komplexe Thema Ver(un)eindeutigungen birgt Potenzial für weitere linguistische und literaturwissenschaftliche Untersuchungen. Wir hoffen, mit diesem Themenheft die Diskussion darüber anzuregen und einige Anknüpfungspunkte zu bieten.