1 Einleitung

Vagheit gilt gemeinhin als Problem: Warum eigentlich? Der folgende Beitrag will zeigen, dass Vagheit eine Grundeigenschaft sprachlicher Zeichen darstellt, linguistisch beschreibbar ist und demokratisch inspirierend sein kann. Dabei wird daran erinnert, dass Vagheit mit Verweis auf Max Black (1949) als ein integraler Bestandteil der natürlichen Sprache gilt (siehe grundständig Kluck 2014 »Der Wert der Vagheit«) – sowohl der Alltagssprache als auch graduell eingeschränkt der Fachsprachen (vgl. Roelcke 1991; Gardt 1998; Felder 2016). Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht der Aspekt, dass diese unvermeidbare sprachliche Eigenschaft bisher unberücksichtigte Chancen eröffnet.

Im Recht – um zur Illustration nur ein Beispiel des Fachsprachengebrauchs anzuführen (vgl. grundsätzlich zum fachkommunikativen Verstehen Biere 1998) – argumentieren mitunter höchstrichterliche Entscheidungen mit dem Hinweis auf das »allgemeine Sprachverständnis« (Felder 2003, S. 185). Wie ist dies möglich? Denn aus linguistischer Sicht ist ein »allgemeines Sprachverständnis« wegen der Schlechtbestimmtheit des Mediums Sprache und damit der Wortbedeutungen eine problematische Orientierungsgröße. Schlechtbestimmtheit gilt als nahezu unvermeidbar, weil in der Sprache liegend (vgl. allgemein dazu wegweisend Wolski 1980 sowie Pinkal 1985). Stattdessen gilt es bei der rezeptiven Verarbeitung von (juristischen) Texten die Nicht-Eindeutigkeit im Verhältnis zwischen Ausdruck und Inhalt (das Vagheitspotential) und die nur bedingte Vorhersehbarkeit von (Gesetzes- oder Richter‑) Textwirkungen zu betonen.

Bei vagen Äußerungen werden nicht selten manipulative Absichten unterstellt, ohne dass eine Abgrenzung zum Begriff der Beeinflussung hergestellt wird. Die Herstellung einer Abgrenzung der Begriffe Manipulation versus Beeinflussung dürfte jedoch ohne Explizierung oder Implizierung einer standpunktunabhängigen Wahrheit schwierig sein. Vor diesem Hintergrund geht es in diesem Beitrag um intentionale (»veruneindeutigte«) oder nicht-intentionale (semiotisch unvermeidbare) Vagheit, die Einschätzung ihrer sozio-kommunikativen Folgen und die meines Erachtens unterbelichteten bzw. unberücksichtigten Aspekte hinsichtlich ihrer Chancen und Potentiale. Die Arbitrarität von Ausdrucks- und Inhaltsseite – also die prinzipielle Nicht-Motiviertheit (Nicht-Bestimmtheit) des Zeichens und seines Inhalts – wird durch Konventionalisierung im Sprachgebrauch entschärft. Außerhalb der Sprachwissenschaft interessiert dabei oft die »wörtliche Bedeutung« oder »die« Bedeutung, die aus linguistischer Sicht allenfalls als kontextabstrahierte Grundbedeutung auf der Basis von Erfahrungen mit Sprachgebrauchsregeln zu fassen ist.

Unter kontextabstrahierter Grundbedeutung fasse ich die – sich durch Verfestigung des Gebrauchs – im System strukturell manifestierende und paradigmatische Wortgebrauchsbedeutung, wie sie in der Lexikographie durch pointierte synoptische Eigenschaftszuschreibungen und synonymgestützte Paraphrasierung unter Berücksichtigung der »Tätigkeit von der Darstellungs‑, Erkenntnis‑, Kommunikations- und Symptomfunktion der Sprache« verdichtet wird.Footnote 1

Meinen Ausführungen liegt die folgende These zugrunde: Vagheit ist nicht nur als ein Defizit des Sprachgebrauchs zu betrachten, sondern ist als integraler Bestandteil der natürlichen Sprache mit Chancen und Potentialen zu begreifen. Und dabei darf bei allem verständlichen Interesse für die – linguistisch nicht realisierbare – vermeintlich eigentliche Bedeutung des sprachlichen Zeichens nicht der Ausgangspunkt einer linguistischen Phänomenbestimmung aus dem Auge verloren werden, der darin besteht, dass das Vorkommen des originären sprachlichen Zeichens stets im Text geschieht (so schon Hartmann 1971, S. 12 und inzwischen kanonisiert gemäß Adamzik 2016, S. 57). Von daher ist durch das Vorkommen sprachlicher Zeichen in vielen Texten und Situationen der Wunsch nach Eigentlichkeit (vgl. Gardt 2018) als nicht erfüllbar zu bezeichnen.

2 Phänomenschärfung: Vagheit, Mehrdeutigkeit und ihre Beschreibbarkeit

Mit Verweis auf Hugo von Hofmannsthals (1922, S. 48) Sentenz »Ein Ding ist eine unausdeutbare Deutbarkeit« werden im Folgenden die beiden Wörter Vagheit und Mehrdeutigkeit synonym verwendet (ungeachtet innerlinguistischer Traditionen, die diverse Verwendungsarten aufweisen). Die Konsultation verschiedener gängiger Nachschlagewerke beschreibt sprachliche Vagheit als ein Phänomen, das sich auf einzelne Ausdrücke oder Mehrwortverbindungen bis hin zu Sätzen erstreckt, die inhaltlich nicht ausreichend bestimmt sind oder von einzelnen Personen als nicht ausreichend bestimmt angesehen werden. Sprachliche Zeichen bzw. Zeichenketten, die als vage oder mehrdeutig etikettiert werden, weisen also bezüglich bestimmter semantischer Inhalte einen Mangel an Präzision auf. Inwiefern die mangelnde Präzision ein Kommunikationsproblem darstellt oder aber eine flexible Anpassung an verschiedene Kontexte und Situationen ermöglicht, bleibt damit zunächst einmal unberücksichtigt. Bußmann (1983, S. 567) begreift Vagheit als ein Phänomen »pragmatischer Unbestimmtheit«, Kutschera (1976) als pragmatische Vagheit. Beide bewegen sich damit an der Schnittstelle von Semantik und Pragmatik. Der von Äußerungsbeteiligten aktiv hergestellte kommunikative Sinn ist als Ergebnis der Interaktion von modularen Kenntnissystemen aufzufassen – mit fließenden Grenzen zwischen sprachlichen und weiteren konzeptuellen Wissenseinheiten.

Das hier synonym verwendete Wort Mehrdeutigkeit meint »[1] allgemein: die Möglichkeit unterschiedlicher Interpretation eines Gegebenen, eines Sachverhalts, einer Lehre oder von sprachlichen Ausdrücken« und »[2] in der Linguistik: unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten speziell von Wörtern, Syntagmen oder Sätzen«. [Quelle: https://de.wiktionary.org/w/index.php?title=Mehrdeutigkeit&oldid=8295009 zuletzt abgerufen am 13.05.2022].

An diesen Punkt werde ich anknüpfen, um die bereits oben benannte These zu schärfen: Vagheit gehört zur natürlichen Sprache und stellt weniger ein Defizit dar, sondern eröffnet vielmehr Chancen und Potentiale (vgl. dazu aus laienlinguistischer Perspektive Hoffmeister [im Druck]).

2.1 Vagheit und ihre Explikationsmöglichkeiten

Zwecks Operationalisierung wird im Folgenden – ohne eine bedeutungstheoretische Grundsatzdiskussion zu führen – aus heuristischen Gründen zwischen Bedeutungsextension und Bedeutungsintension unterschieden. Mit der Extension ist der Umfang eines Begriffs oder die Menge der ein Konzept erfüllenden Gegenstände oder Sachverhalte gemeint. Die Intension erfasst die Gesamtheit aller Teilaspekte bzw. Teilbedeutungen eines Begriffs.

Im Kontext der Vagheitsproblematik lässt sich resümieren: Wo von Extensionsunschärfe die Rede ist (auf welche Sachverhalte und Gegenstände kann mit einem Ausdruck verwiesen werden; z.B. referieren die Ausdrücke Oma oder Opa grundsätzlich immer auf mehrere Personen, die Eltern von Mutter und Vater), muss auch über Intensionsunschärfe gesprochen werden, also den Begriffsinhalt mit der Menge der zu explizierenden Teilbedeutungen. Bedeutungsexplikationsversuche werden dadurch eingeschränkt, dass nicht alle Bedeutungsaspekte einer Wortverwendung aufgezählt werden können, sondern nur die verstehensrelevanten (vgl. Busse 1992, S. 141) oder umstrittenen (vgl. Felder 2006, S. 17) – also immer nur eine bestimmte Auswahl, die für die meta-sprachliche Reflexion einschlägig ist. Bedeutung – kompositionell aufgefasst – bemüht sich um die Explizierung von Teilbedeutungen angesichts einer nicht explizierbaren Holismusvorstellung von Intension und Extension. So ist beispielsweise der Ausdruck Kommissionsmitglied im Verwendungskontext von Personenreferenzen intensional genderunspezifiziert – und damit in gewissem Sinne auch vage.

Somit kommen wir zu mentalistischen Konzepten als einem Bindeglied zwischen individuellem und intersubjektivem Sprachgebrauch einerseits und Aspekten der Referenz bzw. Sachverhaltskonstitution andererseits (vgl. allgemein zur Kognitionslinguistik Schwarz-Friesel 2008). Kognitive Ansätze verfolgen das Ziel, Struktur und Funktionsweise semantischer Beziehungen syntagmatischer und paradigmatischer Art offenzulegen und die Bedeutungskonstitution bei Produktion und Rezeption von Texten nachzuzeichnen (Textverarbeitung). Im Aufmerksamkeitsfokus steht die prozessuale Struktur der Textbedeutung, die kein statisches Gefüge von Propositionen darstellt, sondern darauf angelegt ist, dass Menschen mittels Inferenzen konzeptuelle Strukturen aktivieren, die zur Herstellung von Textkohärenz und zur Komplettierung des Textsinns erforderlich sind.

Die hier zugrunde liegende Bedeutungsauffassung (vgl. ausführlicher Felder 2006, S. 20 ff.) will die Struktur kognitiver Konzepte (wie sie z.B. die Stereotypenforschung ansetzt) mit dem sprachlichen Handeln und Typen von Gebrauchsregeln verknüpfen und führt daher die Komponenten Kognition, Referenz und Handlung sinnvoll zu einem Bedeutungsverständnis zusammen. Angesichts des hier behandelten Vagheitskontextes werden diese drei Aspekte der Bedeutungsproblematik – Kognition, Referenz, Handlung – fokussiert.

In strikter Abgrenzung zu Ansätzen, in denen eine Beschränkung auf Wortsemantik vorgenommen wird, wird hier eine Untersuchung der zentralen Fachtermini aus textsemantischer Sicht vorgenommen. Damit ist gemeint, dass Probleme der Unbestimmtheit von Fachbegriffen nur im Geflecht fachlich relevanter Texte wie z.B. in der wissenschaftlichen Fachliteratur transparenter gemacht werden können. (Felder 2006, S. 36)

Was hier für Fachtermini reklamiert wird, gilt in besonderem Maße selbstredend auch für alltagsweltlichen oder öffentlichen Zeichengebrauch. Identische Ausdrücke entfalten je nach individuellem Wissensrahmen und Ko(n)text spezifische Bedeutungskonfigurationen (vgl. zur Polysemie in Gemein- und Rechtssprache Eriksen 2002).

2.2 Das Paradigma der Unterbestimmtheit

In der Vielzahl möglicher Erklärungen von Vagheit oder Mehrdeutigkeit spreche ich im Folgenden nicht von Unbestimmtheit (mit der Evokation der gegensätzlichen Pole Bestimmtheit versus Unbestimmtheit), sondern von Unterbestimmtheit. Damit wird weder dem deontischen Gebot der Bestimmtheit gehuldigt noch dem als »normal« insinuierten Standardwert der Bestimmtheit. Vielmehr wird auf der Grundlage eines Spektrums (in Bezug auf die Verteilung von Häufigkeit und Intensität) von bestimmt versus weniger bestimmt ausschließlich darauf abgezielt, dass Bestimmtheit nicht vorliegt – und zwar ohne jede Bewertung.

Es geht hier thematisch um den Sinnbezirk, der durch folgende Ausdrucksliste evoziert wird: Vagheit, Uneindeutigkeit, Mehrdeutigkeit, Unbestimmtheit, Vieldeutigkeit, Unterspezifizierung, Ambivalenz, Ungenauigkeit, Doppeldeutigkeit, Unklarheit, Doppelsinnigkeit, Zweideutigkeit, Zwieschlächtigkeit.

Im Folgenden wird der Ausdruck der Unterbestimmtheit priorisiert. Darunter verstehe ich die unvollständige begriffliche Fassbarkeit (Intensionsunschärfe) eines schwer zu fassenden Referenten bzw. Referenzobjektes (Sachverhalt oder Gegenstand). Unterbestimmtheit insinuiert ein (prinzipielles oder deontisches) Potential der Präzision. In diesem Zusammenhang verweise ich auf die wegweisende Monographie von Matthias Attig (2021) mit seinen Darlegungen zum analytischen Konzept der »Zwieschlächtigkeit«; er entwickelt dort »sprachwissenschaftliche Zugänge zur Unterbestimmtheit« und weist exemplarisch in kanonischen Texten aus Wirtschaft und Recht diese hermeneutisch fruchtbare Erkenntniskategorie nach.

2.3 Vagheit im Spiegel der Hermeneutik als diskursiv instruierte Wissenskonstitution

Mit Verweis auf die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Beeinflussung und Manipulation haben wir bisher Möglichkeiten der Bedeutungsexplikation resümiert und uns für ein Zusammenspiel gebrauchstheoretischer und mentalistischer Ansätze entschieden. Diese sollen dazu dienen, die oben dargelegte Definition von Vagheit im Sinne der Unterbestimmtheit (im Paradigma von Attig 2021) operationalisierbar zu machen. Dazu wird in diesem Abschnitt eine Brücke geschlagen zu hermeneutischen Ansätzen, wie sie in der Linguistik in den letzten 20 Jahren wieder verstärkt behandelt wurden (vgl. Hermanns/Holly 2007; Bär 2015; Bleumer et al. 2021). Dieser Fokus dient dem Zweck, die Verstehensleistung der rezipierenden Individuen in den Mittelpunkt zu rücken, nicht als Gegensatz zur mitunter zeichenfixierten Textverständlichkeits- oder Textverstehensforschung und zur dort diskutierten Mehrdeutigkeit, sondern im Sinne der Komplementarität.

Wurde also bisher Vagheit als mangelnde Präzision sprachlicher Zeichen in Äußerungen charakterisiert, so ist in diesem Abschnitt der Blick auf das Verstehen aus linguistischer Sicht zu richten. Sodann werde ich mich auf das Verstehen unterbestimmter Zeichen konzentrieren. Eine Zusammenschau hermeneutischer Ansätze für die linguistische Verstehensforschung (vgl. auch Felder 2012, S. 119 ff.) weitet den Horizont in der Vagheitsfrage; daher zunächst zur linguistischen Hermeneutik, die sich mit sprachwissenschaftlichen Verfahren des Verstehens, der Erklärung und Auslegung von Texten beschäftigt (vgl. dazu in der Linguistik exemplarisch Jäger 1977; Scherner 1984, 1994; Biere 1989, 1998, 2007; Hermanns 2003; Hermanns/Holly 2007 und ganz grundsätzlich die Breite des Themenfeldes aufspannend Bär 2015).

Biere (2007) resümiert die hermeneutischen Traditionen vom 18. Jahrhundert bis heute und definiert die Konstituierung von Wissen als das hermeneutische Geschäft, die Organisation von Wissen als das dialektische und die Vermittlung von Wissen als das rhetorische (vgl. dazu das Forschungsnetzwerk Sprache und Wissen). Für die Gegenwart postuliert Biere:

Freilich kann ›Wissen‹ in seiner Abhängigkeit von Rhetorik und Hermeneutik (Reden und Verstehen) nun auch neu konzeptualisiert werden und im Begriff des ›Werdens von Wissen‹ prozesshaft begriffen werden (Biere 2007, S. 19).

Schon Schleiermacher verabschiedete sich von der Idee eines definitiven Verstehensprozesses und ersetzte sie durch die Idee der Unbestimmtheit, der »Unendlichkeit« und Approximativität des Verstehens als einer ständigen Probe: »alle Mitteilung über äußere Gegenstände ist beständiges Fortsetzen der Probe, ob alle Menschen ihre Vorstellungen identisch konstruieren« (Schleiermacher 1838/1977, S. 460).

Und damit stellt sich die Frage, ob Menschen identisches Wissen konstruieren, wenn sie auf identische lexematische Zeichen stoßen – was ja eine Voraussetzung des default-Wertes der Eindeutigkeit wäre. Schleiermacher bemerkt dazu kritisch: »Allein diese Identität, sowohl an sich, als insofern sie zu bestimmtem Bewusstsein gebracht werden kann, hat ihre Grenzen, welche die Relativität des Wissens ausmachen« (Schleiermacher 1838/1977, S. 460). Diese Relativität ergibt sich nach Schleiermacher aus dem Medium, mittels dessen Individuen sich über Bewusstsein austauschen, nämlich der Sprache:

Die Gleichheit in der Konstruktion des Denkens als das eine Element des Wissens hat nur ihre Manifestation in der Sprache. Nun gibt es keine allgemeine Sprache, also keine allgemeine Gleichheit der Konstruktion (Schleiermacher 1838/1977, S. 461).

In der Sprache also liegen die Relativität des Wissens und seine Grenzen begründet. Mit Bezug auf das Wissen einer Gemeinschaft »über äußere Gegenstände« lässt sich resümieren: »Wird also die Sprache schon hervorgelockt durch den Prozeß des Schematisierens, so muß in diesem selbst schon eine Differenz und die Relativität des Wissens liegen« (Schleiermacher 1838/1977, S. 461). Damit wird die vertextete Sprache (vgl. Scherner 1994) von Diskursakteuren, die auf der Basis von Textsortenroutinen im Medium Sprache handeln (vgl. v. Polenz 1988, S. 298 ff.), ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und das Verstehen als semiotisch und pragmalinguistisch instruierte Anordnung von Wissen zwischen gebrauchsinduzierten Prinzipien und konventionalisiertem Gebrauch angesiedelt. Verstehen konzentriert sich stets auf das verstehende Individuum und seine Voraussetzungen.

2.4 Vagheit als Phänomen: Synopse aus Hermeneutik und Wissen

Die Zusammenfügung der bisherigen Ausführungen über Vagheit, Hermeneutik und Wissen basiert auf Schleiermachers Verabschiedung der Idee eines definitiven Verstehensprozesses. Stattdessen wird hier mit expliziter Bezugnahme die Idee der Unterbestimmtheit (vgl. Attig 2021) und Approximativität des Verstehens als eine ständige Probe gefasst: »alle Mitteilung über äußere Gegenstände ist beständiges Fortsetzen der Probe, ob alle Menschen ihre Vorstellungen identisch konstruieren« (Schleiermacher 1838/1977, S. 460). Salopp könnte man sagen: Der Weg ist das Ziel: Also die Probe des Konstruktionsabgleichs (Weg) schafft einen Erkenntnisgewinn (Ziel), der gewünscht ist. Wenn wir uns den Abgleich der Konstruktionen nicht nur auf Äußerungen zwischen Individuen denken, sondern strukturell in einer Gemeinschaft oder Gesellschaft, so gelangen wir zu dem, was ich weiter unten mit Bezug auf Habermas als strukturelle Dialogizität stark machen werde.

Insofern ist die Forderung der insinuierten Präzision als Standardwert der Kommunikation in neuem Licht zu sehen – in einem Licht, das die prinzipielle Sinnhaftigkeit der Präzisionsforderung nicht aufhebt, aber pragma-semiotisch erdet!

3 Pragma-semiotische Erdung von Vagheit in Textäußerungsko(n)texten

Was bedeutet pragma-semiotische Erdung? Die Mehrdeutigkeit sprachlicher Zeichen in konkreten Äußerungen ist eingebettet in Texte und ihre Ko- und Kontexte. Die Konventionalisierung sprachlicher Zeichen erfolgt durch »Texte-in-Funktion«, die linguistisch über Charakteristika der jeweiligen Textsorte und Äußerungssituationen beschreibbar sind. So werden Zeichen mit ihrer semiotisch inhärenten Arbitrarität zwischen Ausdrucks- und Inhaltsseite nicht einheitlich formatiert, aber geformt – und zwar mit einem relativ stabilen Kern und einer gewissen Randunschärfe (metaphorische Sprechweise). Diesen Vorgang kann man als Schematisierung bezeichnen, wenn man ihn nicht zu mechanistisch auffasst. Schematisierung ist auf der Ausdrucksseite dingfest zu machen durch Musterbildung auf der sprachlichen Oberfläche zum Zwecke kommunikativ routinisierter Aufgabenbewältigung.

Sprachhandeln in Tätigkeitsfeldern vollzieht und manifestiert sich in konkreten Texten (»Texten-in-Funktion«) und Gesprächen als Exempel von Routinen. Dementsprechend weisen Texte und Gespräche (also die Manifestationen der Sprachhandlungen und der kommunikativ-kulturellen Praxis) Musterhaftes auf der Ausdrucksseite (vgl. Feilke 2003), aber auch Spezifisches (Originäres) auf. Hier wird folgende terminologische Differenzierung zugrunde gelegt: Mit dem Ausdruck Muster wird hier auf die Sprachoberfläche verwiesen (bezogen auf die sprachlichen Formen), und mit dem Wort Routine sind die im jeweiligen Kontext getätigten Sprachhandlungen gemeint, die in Kommunikationssituationen im Rahmen von Äußerungen vollzogen werden. Es geht also um typische Handlungsabläufe und Handlungsprozesse, die von der Pragmatik erfasst und beschrieben werden. Das bedeutet für unsere Mehrdeutigkeitsfrage: Vermeintlich vage Ausdrucksweisen können für Insider sehr wohl verstehbar und präzise sein. Vagheit ist daher stets im Spiegel der (Mehrfach‑)Adressierung zu sehen ebenso wie im Fokus der Texte-in-Funktion (charakterisiert durch textinterne und textexterne Eigenschaften). Darüber hinaus ist Vagheit zu projizieren in unsere Erfahrungen mit Textsorten als konventionell geltenden Sprach- und Kommunikationsfertigkeiten für komplexe sprachliche Handlungen, die auf pragmatischer Ebene durch konsistente Routinen der Aufgabenbewältigung in verschiedenen Lebenssituationen bestimmt sind und durch die prototypische Abfolge von Sprachhandlungen mittels etablierter Sprachzeichen realisiert werden.

3.1 Entschärfung des Vagheitsproblems mit Hilfe des Wissens um Gebrauchskontexte und Textsorten: z.B. Diskursivierung des Rechts

Exemplarisch wird im Folgenden die Vagheit der Textsorte Gesetzestext und ihrer Weiterverarbeitung diskutiert. Im Kontext der Vagheitsproblematik ist im Hintergrund Folgendes zu bedenken: Nicht selten beinhalten die veröffentlichten Meinungen zur geforderten Präzision von Gesetzestexten einen Vorwurf, den man in einer Schlagzeile des folgenden Typs verdichten könnte: Vagheit ist ein Problem und Türöffner für staatliche Willkür. Dem widerspreche ich hier. Der Vorwurf ist nicht neu – wie ein Blick auf das Infektionsschutzgesetz und darin insbesondere § 28a zeigt. Es wurde als zu vage kritisiert und damit unkalkulierbare Relativität oder gar Beliebigkeit unterstellt. Dass ein Gesetz in der Regel graduell noch präziser formuliert werden kann und vielleicht auch sollte, bezweifle ich nicht und ist hier nicht Gegenstand meiner Überlegungen. Vielmehr geht es mir um das grundsätzliche Problem der (sprachlichen) Vagheit bei Gesetzestexten wie z.B. dem Infektionsschutzgesetz und den (nachgelagerten) Möglichkeiten der Präzisierungen in demokratischen Verfahren. Denn der Gesetzgeber kann zum Zeitpunkt der Gesetzesverabschiedung „nicht alle möglichen Einzelfälle“ bedenken (Kluck 2014: 163).

Dass die allgemeine Verunsicherung in der Öffentlichkeit ebenso auf Sprache und ihre Gebrauchsformen überschlägt und man auch dort verzweifelt nach Halt sucht, ist verständlich. Allerdings muss Sprachwissenschaft in Bezug auf die fachsprachliche Präzision von Texten – insbesondere von bestimmten Gesetzestexten wie z.B. dem § 28a des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) – für einen realistischen Blick votieren und naive Wunschvorstellungen enttäuschen (vgl. dazu die Darlegungen in Felder in Vorbereitung).

Mit »realistischem Blick« auf die Erkenntnismächtigkeit des Mediums Sprache meine ich, dass ihre prinzipielle Fähigkeit zur Eindeutigkeit bedacht werden muss. Viele Faktoren sind dabei einzubeziehen: Die Sprechintentionen des Gesetzgebers – also der Wille des Gesetzgebers – und die seelischen wie kognitiven Rezeptionsbedingungen des Einzelnen stehen dabei mit Sicherheit im Zentrum und müssen berücksichtigt werden ebenso wie die Angemessenheit der Wortwahl. Die Worte sollen idealiter die unterschiedlichen Wissensvoraussetzungen aller Gesetzesbetroffenen in Rechnung stellen. Schon daran sieht man, wie man sich von den Höhen der Ideale in die Niederungen der Verstehenspraxis begeben muss, was ich hier als pragma-semiotische Erdung bezeichne.

Somit lässt sich resümieren: Gesetze sind an Laien sowie an Expertengruppen ohne und mit juristischer Vorbildung adressiert. Das heißt, wir haben es nicht nur mit Polyfunktionalität (vgl. Felder 2003, S. 228), sondern auch mit Mehrfach-Adressierung zu tun – verschiedene Menschen und Personengruppen verfügen über unterschiedliches Vor- und Fachwissen (vgl. Felder 2003, S. 221). Insofern ist Vagheit nicht unbedingt ein Problem, sondern eine Chance der nachträglichen Justierung oder Feinabstimmung im Hinblick auf die je spezifischen Vorkenntnisse des Einzelnen. Das Plädoyer für Präzision des Gesetzestextes inklusive konkreter Regelung vieler Details einerseits und der gleichzeitige Wunsch nach größtmöglicher Legitimation aller nur antizipierbaren Lebenssachverhalte andererseits ist verständlich, aber in sich widersprüchlich.

Das Paradoxon lässt sich wie folgt beschreiben: Viele Menschen erwarten einerseits gesetzestextliche Präzision, die a priori nahezu alle regulationsrelevanten und zukünftig eintretende Lebenssachverhalte möglichst vollumfänglich regelt. Andererseits muss man konzedieren, dass auch die Rechtssprache die Arbitrarität von Ausdrucks- und Inhaltsseite nur im Rahmen ihrer Möglichkeiten – nämlich der fachspezifischen und institutionellen Konventionalisierung – zu vereindeutigen vermag. Dieser Widerspruch zwischen zivilgesellschaftlichem Präzisionswunsch und pragma-semiotischer Wirklichkeit kann insofern entschärft werden, als die Legitimation gesetzestextlicher Präzisierung bzw. Feinjustierung – falls ein Zoon politikon mit der judikativen oder exekutiven Praktik der Präzisierung nicht einverstanden ist – über die demokratisch legitimierten Folgeverfahren (Instanzenweg) überprüft werden. Dadurch werden die im Vorfeld nur bedingt zu antizipierenden Fälle einer nachträglichen Kontrolle unterzogen, die Inhalte sind nur bedingt schon im Vorfeld eindeutig zu definieren.

Vagheit ist in diesem Zusammenhang nur bedingt ein Problem, sondern eher eine Chance, weil je fallspezifisch, je sachverhaltsbezogen die Verantwortlichen entscheiden können – was ich als Diskursivierung des Rechts bezeichnen möchte. So ist schließlich die Exekutive gezwungen, in Bezug auf den Gesetzestext ihre Maßnahmen zu rechtfertigen – also juristische und mediale Textarbeit zu leisten (vgl. zur juristischen Textarbeit und ihrer Weiterverarbeitung in der Öffentlichkeit Felder 2003). Gleiches gilt für die Judikative, falls es zu Verfahren kommt. Im Anschluss an die getroffenen Entscheidungen findet also wieder eine öffentliche Auseinandersetzung bezüglich dessen statt, was der Gesetzgeber als richtig oder angemessen intendiert hat. Das bedeutet: Der Diskurs ist nicht zu Ende, sondern er wird fortgesetzt – und die Passgenauigkeit des Gesetzestextes auf die von der Exekutive realisierten Maßnahmen unter Bezugnahme auf § 28a Infektionsschutzgesetz werden weiterhin öffentlich diskutiert und können Gegenstand der politischen Willensbildung sein – auch in Zeiten des Wahlkampfes.

3.2 Vagheit korrespondiert mit Demokratie: Vagheit als demokratische Chance begreifen angesichts heterogenen Adressatenvorwissens

Aus der Vagheit wird ein nachträglicher Präzisierungsprozess, und dieser ist ein demokratischer. Die Gesellschaft verfolgt und diskutiert aufmerksam, wie ein – nicht alle Lebenslagen antizipierender – unterbestimmter Gesetzestext auf eintretende Situationen je spezifisch feinjustiert wird. Und in der Folge können Wähler sich wieder eine Meinung bilden; all dies geschieht in großer Transparenz. Der irgendwo verständliche, aber auch naive Wunsch, zum Zeitpunkt der Gesetzesverabschiedung alles konkret für alle zukünftigen Sachverhalte schon regeln zu wollen, ist daher ein Stück weit realitätsfremd.

Die abstrakte linguistische Kategorie des heterogenen Adressatenwissens ist nun in Bezug zu setzen zur kommunikativen Voreinstellung der deontischen Präzision, die ich oben als default-Wert (Standardvorannahme) bezeichnet habe. Deshalb ist zu fragen, welche hochgradig abstrakte Figur hinter der Formulierung »Wille des Gesetzgebers« steckt – der Gesetzgeber besteht beim Infektionsschutzgesetz unter anderem aus den gewählten Volksvertretern in Bundestag und Bundesrat. Gleiches gilt für den Gesetzesadressaten; es handelt sich dabei – theoretisch betrachtet – um 83 Millionen Normadressaten. Diese Schwierigkeit der zu antizipierenden Rezeptionskontexte – als der aus meiner Sicht zentrale Aspekt der Vagheitsproblematik – beschäftigt uns auch in der vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) in Auftrag gegebenen Studie zur »Evaluation der gesetzesredaktorischen Arbeit auf die Verständlichkeit von Rechtsvorschriften« (Vogel et al. 2022: Gesetzesverständlichkeit aus rechtslinguistischer Perspektive). In einem gemeinsamen Projekt der Universität Siegen und Heidelberg haben wir als Rechtslinguisten den Auftrag bekommen, den Einfluss der gesetzesredaktorischen Arbeit auf die Verständlichkeit von Rechtsvorschriften zu evaluieren. Unser Hauptproblem ist die adäquate Berücksichtigung verschiedener Adressatengruppen wie juristische und außerrechtliche Fachleute sowie Laien, für die allesamt der gleiche Normtext eine Bindungswirkung entfaltet.Footnote 2 Die grundlegende Herausforderung lautet demnach: Wie lassen sich die unterschiedlichen Rezeptionskontexte adäquat antizipieren und in Bezug setzen zu Mehrdeutigkeit und Adressatenvorwissen?

4 Zeichen-in-Textfunktionen und Dialogstruktur

Die bisherigen Ausführungen zur Vagheit im Rechtsbereich sollten das grundlegende Problem aus semiotischer Sicht im Spiegel heterogenen Adressatenwissens exemplifizieren. Als Resultat ist festzuhalten: Zu dechiffrieren sind institutionenspezifische und wissenschaftsimmanente Vorannahmen, charakteristische Argumentationsmuster und gesellschaftliche Geltungsansprüche von Aussagen. Hilfreich ist dabei eine bi-direktionale Wechselwirkung wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Narrative als Kondensate von Narrationen (vgl. ausführlich dazu Kückelhaus 2021) – deswegen ist die Gedankenfigur der strukturellen Dialogizität (vgl. Felder 2020) so einschlägig. Fachwissenschaftliche Erkenntnisse fließen in den öffentlichen Dialog ein, und umgekehrt formuliert die Gesellschaft ihre Erwartungen an die Institutionen und Fachwissenschaften und nimmt damit Einfluss auf die Ausrichtung und Priorisierung von Politik und Forschungsvorhaben.

4.1 Auflösung von Veruneindeutigungen als ein aktiver Verstehensprozess auf Rezipientenseite

Vor diesem Hintergrund kann Sprache und ihr Gebrauch auch als rhetorische Waffe beim Kampf um Deutungshoheit gesehen werden (vgl. Felder 2006), bei dem natürlich Vagheitsaspekte strategisch mit zu reflektieren sind. Programmatisch konkret anmutende Programmvokabeln (z.B. Sicherheit, Freiheit, Schutz vulnerabler Gruppen), die in der Zukunft doch gewisse Flexibilitätsspielräume ermöglichen, sind im politisch-öffentlichen Raum nichts Besonderes. Anstatt sie zu verurteilen und mit nicht haltbaren Präzisionsvorstellungen zu überfrachten, plädiere ich für kommunikationsaufgeklärte Individuen: »Damit will ich den Fokus vom vermeintlich guten oder bösen Medium zum selbständig denkenden und urteilenden Staatsbürger lenken« (Felder 2022, S. 198). Solche Persönlichkeiten können geschult und sensibilisiert in Bezug auf das Medium Sprache selbständig aktiv am semantischen Kampf (vgl. Felder 2006, S. 17) um richtige Politik teilnehmen. Manche mögen dieses Bild als einerseits zu idealistisch und andererseits als zu kriegerisch empfinden, dennoch trifft es meines Erachtens sehr gut den Umstand, dass Macht und Interessen von Individuen und Gruppen hinter der Durchsetzung bestimmter sprachlicher Gebrauchsformen für das Zoon politikon offengelegt werden sollen. Erforderlich ist breites Wissen darüber, wie das Instrument Sprache im Meinungsbildungsprozess eingesetzt werden kann, und weniger Urteile darüber, welche einzelnen Sprachzeichen vermeintlich gut und welche verwerflich sind.

Gegen die häufig zu hörende Problematisierung vermeintlicher Instrumentalisierung derart, eine Person instrumentalisiere die Sprache, oder gegen die Vorhaltung mehrdeutiger Zeichenverwendung ist grundsätzlich nichts zu sagen, weder aus moralischer noch aus argumentativ-strategischer Sicht. Vielmehr müssen sich diejenigen, die solche Mängel äußern bzw. derartige Monita diskursstrategischen in Anschlag bringen, fragen lassen, was man denn beim sprachlichen Kommunizieren anderes macht denn Sprachzeichen als Instrument der Verständigung oder Überzeugung zu verwenden – also zu instrumentalisieren. Und wenn eine instrumentelle Sprachverwendung zu kritisieren ist – welche Sprachverwendung oder welches Verständnis von Sprache ist dann ein angemesseneres? Und in Bezug auf die Mehrdeutigkeit muss die Frage erlaubt sein, ob im konkreten Situationskontext eine präzisere, und damit häufig auch platz- oder zeitintensivere Erläuterung des Gemeinten überhaupt möglich gewesen wäre – auch vor dem zu reflektierenden Hintergrund der »Konzepte des Impliziten: Präsuppositionen und Implikaturen« (Linke/Nussbaumer 2000, S. 435). Einer pauschalen Problematisierung vagen oder uneindeutigen Sprachgebrauchs wäre generell entgegenzuhalten, dass ihr durchaus eine redliche oder kooperative Ausdrucksabsicht zugrunde liegen könnte; eine solche positive Vorannahme entspräche dem Prinzip der »hermeneutischen Billigkeit« (Attig 2021, S. 36), das auch mit dem Paradigma der strukturellen Dialogizität harmoniert.

Das Vorhaben, seine Interessen im Diskurs mittels Instrumentalisierung sprachlicher Zeichen durchsetzen zu wollen, ist aus Sicht einer kommunikativ aufgeklärten Bürgerschaft zu begrüßen und stellt Vagheits- und Mehrdeutigkeitsphänomene mit in Rechnung: Semantische Wettkämpfe im Diskurs sind das Schmiermittel demokratischer Gesellschaften bei der Aushandlung strittiger Fragen (vgl. Blog https://scilogs.spektrum.de/semantische-wettkaempfe/ zuletzt abgerufen am 13.05.2022). Offenheit von Streitfragen und der Abgleich divergierender Konzepte bei gleichen Ausdrucksmitteln (also von Vagheit) kann auf verschiedenen Ebenen angegangen werden. Zum einen auf der Sachebene, also auf der Ebene des Streits um die richtigen Inhalte. Ungeachtet des verbreiteten konstruktivistischen Paradigmas, das zu Recht auf die Instruktionskraft sprachlicher Zeichen beim Evozieren mentaler Korrelate hinweist, gibt es bei Streitfragen – wie z.B. dem Pro und Contra von Steuererhöhungen – eine Ebene, die sprachliche Indikation zwar aufweist, aber auch aus sich selbst heraus sprachunabhängig in die eine oder andere Richtung weist.

Zum anderen werden Streitfragen auch auf sprachlicher Ebene diskutiert – also zusätzlich zu der erwähnten Sachebene – und zwar genau dann, wenn auch oder nur um die Wirkung sprachlicher Zeichen gestritten wird. Ein solcher Streit um Benennungen sowie Bedeutungs- und Sachverhaltsfixierungsversuche (vgl. Felder 2006, S. 17) bezieht mal mehr, mal weniger die Sachebene in die Erörterung ein – er schafft mehr Verständnis gegenüber dem Sachverhalt und dem Sprachgebrauch.

4.2 Wider den Wort-Objektivismus

Allerdings scheint mitunter der Streit um angemessenen Sprachgebrauch und die meta-sprachliche Reflexion über Vagheits- und Präzisionsmöglichkeiten beim Kommunizieren in eine Überhöhung des Mediums Sprache zu münden. Sprache instruiert das Denken, es determiniert es aber nicht. Insofern sind Diskussionen wünschenswert, aber keine Absolutheit insinuierenden Behauptungen in Bezug auf kontextunabhängige Form-Wirkungs-Korrelationen.

Wie vielschichtig und differenziert man die Fokussierung von Schlüsselwörtern mit Unschärfepotential betrachten muss, zeigt sich in dem von Sven Bloching und mir durchgeführten Projekt »Culture Wars: Ehe und Familie als kulturelles Erbe – Kontinuitäten und Disruptionen« (https://culture-wars.uni-heidelberg.de/forschungsvorhaben/#EHE zuletzt abgerufen am 13.05.2022). Dieses Projekt untersucht Sprachkämpfe als Kulturkämpfe im Zusammenhang mit dem institutionellen sowie gesellschaftlich-konzeptuellen Kulturerbe von »Ehe« und »Familie«. Sowohl die Begriffe als auch die Konzepte unterliegen bei identischer Ausdruckshülle – nämlich Ehe und Familie – gerade einer grundständigen Renovierung, sind also alles andere als präzise, weil sich extensional und intensional in letzter Zeit im Sprachgebrauch sehr viel getan hat. Wiederum zeigt sich das Potential und die Chancen, die Vagheit immanent sind. Deswegen widmet sich dieses Projekt mit einem linguistisch-diskursanalytischen Ansatz den kontingenten und vielseitigen Wechselwirkungen zwischen Sprach‑, Kultur- und Rechtswandel.

Im Zentrum des Untersuchungsinteresses steht dabei die Frage nach individuellen sowie kollektiven Lenkungs- und Persuasionsmöglichkeiten durch distinktive Bezeichnungsstrategien. Welche Akteure sprechen z.B. wann und in welchen Zusammenhängen von einer Homo-Ehe, welche von einer Ehe für alle – und warum? Dem inzwischen populären Credo »Sprache schafft Wirklichkeit«, das durch den Fokus auf die lexikalische Ebene zuweilen banalisiert zu werden droht, stehen hochkomplexe pragmatische und kontextuelle Diskursdynamiken gegenüber, die durch einzelne Diskursakteure kaum antizipierbar, geschweige denn kontrollierbar scheinen. Umso mehr gilt es daher, diese korpuspragmatisch nachzuzeichnen (https://culture-wars.uni-heidelberg.de/forschungsvorhaben/#EHE,zuletzt abgerufen am 13.05.2022).

Daraus folgt, es gilt einer verabsolutierenden Fixierung einzelner Wörter zu widerstehen, wie dies im Wortobjektivismus geschieht.

Im Kontext der unangemessenen Wortfixierung spreche ich genau dann von »Wortobjektivismus« (Felder 2022, S. 206), wenn ein Diskursakteur (unabhängig vom sozio-kulturellen Hintergrund) einen bestimmten Sprachgebrauch als zwingend etikettiert, weil mit ihm angeblich eine klar benennbare Assoziation in allen Rezipientenköpfen entstehen würde.Footnote 3 Diese rhetorische Strategie halte ich für problematisch – und zwar genau dann, wenn die Vagheit explizit in Abrede gestellt oder monosemiert wird. Das heißt gleichwohl im Gegenzug nicht, dass jede stigmatisierende Bezeichnungstechnik zu akzeptieren wäre. Einer solchen Abwertungstechnik kann sehr wohl mit semantischen und pragmatischen Argumenten begegnet werden, aber nicht im Duktus des Wortobjektivismus. Denn dieser operiert trotz sprachlicher Vagheit mit Angst vor dem »falschen« Sprachgebrauch und setzt nicht auf Diskussion von Form-Inhalts-Beziehungen bei umstrittenen Ausdrucksweisen.

In diesem Erkenntniszusammenhang ist auch ein Blick auf die Perspektive derjenigen sinnvoll, die absichtlich soziale Praktiken des Tabubruchs (vgl. Bloching 2020) realisieren und mit den Rezipientenwirkungen zu spielen scheinen. Bloching widmet sich in diesem Kontext den Fragen nach dem Ursprung und der Ritualisierung von beleidigenden Tabubrüchen, die für die Rapkultur konstitutiv sind, ihrem numinosen Reiz auf ihre aktive Zielgruppe, ihren identitätsstiftenden Effekten speziell für Subkulturen und schließlich ihren Rezeptionswirkungen. In diesem Zusammenhang kann Vagheit als eine Kulturtechnik bezeichnet werden, die mit sozialen Normen und Konventionen spielt. Da Sprache – vor allem im Alltag und der Kunst – auch immer ein nicht lenkbares Moment innewohnt (abgesehen von institutionellen Sprachgebrauchsformen), muss meines Erachtens ein sprachliches Verbot oder ein Gebot nur auf Plausibilität gründen und soll die gedankliche Überzeugung derjenigen anstreben, von denen ein bestimmtes sprachliches Verhalten gewünscht wird.

4.3 Eine kommunikationsaufgeklärte Bürgerschaft kann mit Vagheit umgehen

Eine Politiker-Bürger-Kommunikation im Geiste eines Dialogs oder struktureller Dialogizität (vgl. Felder 2020), wie sie im Themenkreis der Veruneindeutigungen einschlägig ist, benötigt daher ein kommunikationskompetentes Zoon politikon. Die hier geforderte Dialogizität soll insofern strukturell verankert sein, als die Prinzipien eines solchen Dialogs im Sinne partizipativer Kommunikationsstrukturen dem Duktus nach den weniger Wissenden nicht bevormunden oder auf die Übernahme einer Position abrichten, sondern einzelne Schritte der Abwägung und Entscheidungsfindung transparent machen. Zu fordern ist ein kommunikationsaufgeklärtes Individuum, das geschult Kommunikation wahrnehmen und kontextualisieren kann. Damit sind Sprecherinnen und Sprecher gemeint, die zwischen den Worten und dem Handeln mit Worten zu differenzieren wissen und um die Unterbestimmtheit wissen. Die einzelne Person soll über die Wirkung bestimmter Wörter eigenständig nachdenken können. Sie sucht die Wahrheit nicht im Wort selbst, sondern in der Angemessenheit zwischen Wortwahl und Inhalt in Abhängigkeit von Situation und sozialer Beziehung der beteiligten Akteure.

Und damit sind wir bei der pragma-semiotischen Wendung des Vagheitsproblems angekommen – nämlich bei der Unterscheidung von Aussageinhalt einerseits und sprachlicher, handlungsstrategischer Verpackung andererseits. Auf der Suche nach der Wahrheit in den Wörtern selbst arbeitet man am besten ein paar Beispiele der Re-Semantisierung (pragma-semantischen Neuaufladung) ab – so zum Beispiel der Ausdruck und Begriff Volk und Nation in diachroner Perspektive (vgl. Hermanns 2003). Neben dem oben erwähnten Verweis auf die Arbitrarität von Sprachzeichen, um wortobjektivistische Ansprüche zurückzuweisen, ist natürlich auch die Konventionalität und die systematische Einbindung von Konventionalisierungspraktiken in Anschlag zu bringen – schließlich sind unterschiedliche Konventionen von Faktoren wie z.B. Milieu, Sozialprestige, Erwartungshaltungen und soziale Rolle der Akteure abhängig. Diese Praktiken der Konventionalisierung spielen eine zentrale Rolle bei der Analyse von Diskursen unter dem Aspekt der Vagheit.

Welche Bedeutung hat das Paradigma der strukturellen Dialogizität (vgl. Felder 2020) im Kontext der Veruneindeutigung? Uneindeutiger Zeichengebrauch (mit dem Vorteil nachträglicher Feinjustierung – je nach Kontext – und dem Nachteil der mangelnden Präzision) kann im Geiste struktureller Dialogizität kontextspezifisch zwischen den Agierenden vereindeutigt werden. Die aus der politischen Rhetorik stammende Denkfigur der strukturellen Dialogizität wird unter anderem von Jürgen Habermas (1971) und Josef Kopperschmidt (1990) prominent gemacht: Sie beharren auf der »Symmetrie von Berechtigungen und Verpflichtungen« (Habermas 1971, S. 138) im Diskurs. Prinzipien struktureller Dialogizität im Sinne demokratischer und partizipativer Kommunikationsstrukturen liegen vor, wenn Rede dem Geiste nach divergente sozio-kommunikative Situationskontexte bei kontextspezifischen Vereindeutigungen mitberücksichtigt.

5 Fazit

Der Titel des Heftes »Veruneindeutigungen« präsupponiert Intentionalität: Menschen sprechen vermeintlich absichtlich vage. In den vorigen Darlegungen hoffe ich deutlich gemacht zu haben, dass mitunter auf zu bestimmende Referenzobjekte nicht immer in der Präzision verwiesen werden kann, wie der vermeintliche Kommunikations-Standardwert (default) der Präzision dies zu insinuieren pflegt. Oder schlichter formuliert: Manchmal kann man es (gemeint ist ein unbestimmtes Referenzobjekt) nicht genauer sagen. Dennoch ist eine Äußerung und ein Kommunikationsakt vonnöten, wie zum Beispiel in der Politik im Allgemeinen oder beim Recht im Speziellen – bei also nur unzureichender Antizipation zukünftiger Sachverhaltslagen.

Vor diesem Hintergrund muss festgehalten werden, dass vages Sprechen nicht per se ein intentional veruneindeutigendes Sprechen mit manipulativen Absichten darstellt (vgl. »Verschlüsseln, Verbergen, Verdecken in öffentlicher und institutioneller Kommunikation« von Pappert/Schröter/Fix 2008 und der Frage, ob und wie man Verborgenes entschlüsseln, enthüllen und entdecken kann). Darüber hinaus ist der Blick auf die Kompetenz der kommunizierenden Individuen zu richten, die inzwischen angesichts der weit verbreiteten Sentenz »Sprache schafft Wirklichkeit« als sprachinteressiert gelten können. Des Weiteren ist festzustellen, dass die Zuhörer auf die postulierte Eindeutigkeit nicht ein Anrecht haben, wie in verbreiteter Vagheits-Kritik eingeflüstert wird. Ganz davon abgesehen, dass diejenigen, die Vagheit ablehnen, selbst dem Eindeutigkeitspostulat nicht in dem Maße gerecht werden, wie der default-Wert der Präzision nahelegt. Sprache und ihr Gebrauch kommen auf Grund der semiotischen Grundstruktur unseres Zeichensystems gar nicht ohne Vagheit aus. Daher plädiere ich dafür, Vagheit im Sinne von auswählbaren Deutungs- oder Präzisierungsoptionen durch das verstehende Gegenüber je nach Kontext zu erfassen. Und was ist mit denen, die absichtlich veruneindeutigen, um uns zu täuschen? Denen muss und darf man Manipulation unterstellen, und man kann sie auch im Geiste der strukturellen Dialogizität stellen und die Geltungsansprüche zurückweisen (allerdings müssen wir dazu das linguistische Spielfeld verlassen).

Aus diesem Grunde ist die strikte Trennung zwischen Akteur und Medium zu berücksichtigen (vgl. Felder 2022, S. 201). Oder um es kurz zu sagen: Nicht der Überhöhung des Mediums Sprache sollte Vorschub geleistet werden, sondern der Trennung zwischen Akteur und Medium. Möglichst kommunikationsaufgeklärte und sprachkultursensibilisierte Individuen haben einen enormen Vorteil: Sie stärken die eigenständige Urteilsfähigkeit des Einzelnen. Wissen über Gepflogenheiten des umstrittenen Sprachgebrauchs ermöglicht jedem eine reflektierte Teilhabe am gesellschafts-politischen Leben. Die Unschärfe des Mediums Sprache ist dabei jedoch in Rechnung zu stellen, indem sie bewusst gemacht und nicht durch vermeintlich einfache Antworten kaschiert wird. Eine Auseinandersetzung um eine Sache ist in der Regel auch ein Kampf um angemessene Sprache: Dabei beziehe ich mich explizit auf Rainer Wimmers (1982) »linguistisch begründete Sprachkritik«, welche die Reflexion des eigenen Sprachgebrauchs und Kommunikationsverhaltens als strukturelle Grundbedingung der Normenaushandlung postuliert.

Das Interesse an sprachlicher Präzision und möglichst eindeutiger kontextabstrahierter Grundbedeutung (»wörtliche Bedeutung«) ist verständlich, kann aber das Arbitraritätsproblem nicht aus der Welt schaffen und wirft die grundlegende Frage auf, in welchem Verhältnis bzw. wie sehr die kontextabstrahierte Grundbedeutung (Systembedeutung) von Wörtern im Vergleich zur kontextkonkretisierenden Situationsbedeutung der Äußerung in konkreten Textexemplaren zu sehen und wie das Ganze im Spiegel von Textsortenkriterien zu beantworten ist.

Meine Antwort halte ich angesichts der strukturell paradigmatischen und mentalistisch kontrastiven Zeicheneigenschaften zwischen Bestimmbarkeit und Nicht-Bestimmtheit (also Zwieschlächtigkeit oder Unterbestimmtheit im Sinne von Attig 2021) für realistisch geerdet: Vagheit im Sinne von auswählbaren Deutungs- oder Präzisierungsoptionen muss im Dialog mit dem verstehenden Gegenüber je nach Kontext ausgehandelt werden. Sie ist unvermeidbar – oder mit Hugo von Hofmannsthal (1922, S. 48) gesprochen: »Ein Ding ist eine unausdeutbare Deutbarkeit.«