1 Liturgische Ästhetik in mittelalterlicher Performanz und moderner Literatur

Liturgie entfaltete im Mittelalter ihre ästhetische Wirkung einerseits in der Lektüre einschlägiger Texte, andererseits durch das unmittelbare Erleben der Performanz. Die oft intertextuell mit Hagiographie und Historiographie verwobenen liturgischen Texte wurden jedoch in erster Linie durch die ausführenden Nonnen, Mönche und Kleriker vollständig und regelmäßig in Augenschein genommen.Footnote 1 Die neuere liturgiewissenschaftliche Forschung ist demgegenüber vor allem auf Texte fokussiert, die eine Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienst erkennen oder zumindest vermuten lassen. Darunter fallen dann lateinische und landessprachliche, teilweise gesungene Gebete (etwa im Rahmen der seit dem Hochmittelalter üblichen Elevation der Hostie auf dem Höhepunkt der Messliturgie), lateinische Sequenzen (Textierungen der Melodien auf der Schlusssilbe des Halleluja) sowie vernakulare gottesdienstliche Lieder (etwa »Christ ist erstanden«) und verschiedene Prozessionsgesänge.Footnote 2 Einen weiteren Forschungsschwerpunkt bilden traditionell spezifische Codices, die immerhin den persönlichen Mitvollzug oder das unabhängige eigene Beten nach den liturgischen Vorgaben ermöglichten, etwa Stundenbücher.Footnote 3 Hinzu kommen als beliebte Quellen hagiographische Zeugnisse, die in den Lesungen des nächtlichen Stundengebets die spätantiken patristischen Texte verdrängten und somit nach den alt- und neutestamentlichen Lesungen der vorausgehenden Nokturnen den jeweiligen hagiologischen Kern von zeit- und ortsbedingt gefeierten Heiligenfesten betonten.Footnote 4 Weit weniger im Fokus der Forschung stehen hingegen die Wahrnehmung der Liturgie samt der ihr bereits immanenten Ästhetik und deren eigenständige literarische Rezeption.

Liturgische Ästhetik, im Sinne einer aísthesis (Wahrnehmung) der Liturgie selbst, wurde im Rom der Renaissance zu einem eigenen Konzept der von Amts wegen zuständigen Zeremoniare des Papstes. Der Zeremonienmeister der Renaissancepäpste Julius II. und Leo X., Paris de Grassis, ging sogar so weit, das Mitlesen von Texten zu verbieten und das Erleben der Liturgie mit ihrer graziösen Schönheit (cum gratia et decore) allein darauf zu konzentrieren, dass diese durch die Performanz der Zeremonien selbst sichtbar, hörbar und somit nachvollziehbar wurde (per ipsarum operationem).Footnote 5 Durchsetzen konnte er sich nicht bei allen Rubriken. Sein Grundanliegen jedoch blieb in der Papstliturgie und dem an ihr orientierten römischen Ritus auch für die tridentinisch und posttridentinisch bestätigten, teilweise oder sogar erst wiederhergestellten mittelalterlichen Zeremonien erhalten.Footnote 6 Die Ästhetik der Zeremonien erhielt dadurch dauerhaft neben der Frage der kirchenrechtlichen Gültigkeit in Kathedralen und Klöstern, Frauen- und Männerkonventen, Kirchen und Kapellen ihren eigenen Stellenwert – in der Verbindung von Liturgie, Musik, Kunst und Literatur, die – mit den Augen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts betrachtet – geradezu als eine Art ›Gesamtkunstwerk‹ angesehen worden sein mögen.Footnote 7 Die kunstvolle Liturgie begeisterte – ganz im Sinne der Zeremoniare – eigene Kirchenmitglieder,Footnote 8 nicht zuletzt aber gerade auch auswärtige Besucherinnen und Besucher ohne entsprechende eigene religiöse Sozialisation, doch mit einem umso größeren Interesse.

Kaum eine Reliquie zog die verschiedenen nach Rom pilgernden Gruppen und Einzelpersonen so sehr in ihren Bann wie das Acheiropoieton, das heißt ›nicht von Hand gemachte‹, sog. ›Schweißtuch der Veronika‹ – ein Phänomen, dem in Cambridge 2016 eine eigene Tagung gewidmet worden ist.Footnote 9 Dieses Tuch gilt der Tradition nach – neben und teilweise in Konkurrenz zum Schleier von Manoppello und Grabtuch von Turin – als das »wahre Antlitz« Christi, dessen tieferer Sinn bereits im Namen der ›Veronika‹, für vera eikón, wahres (Ab‑)Bild, aufleuchtet – gleichsam als »Schleier und Spiegel«.Footnote 10 Bereits im 15. Jahrhundert wurde dieses Tuch wegen seiner zumindest rezeptionsästhetisch unbestrittenen Wirkmächtigkeit mitunter – entgegen dem eigentlichen Sinn und Zweck seiner Präsentation – dazu eingesetzt, die strömenden Massen gezielt zu lenken, um Panik und Unglücke zu verhindern.Footnote 11 Seine Bekanntheit und Bedeutung waren so groß, dass man es in ganz Europa rezipierte. Wurde das sudarium schon früh alljährlich in der dem Dichter und Historiographen Wipo († nach 1046) zugeschriebenen Ostersequenz Victimae paschali laudes besungen, so integrierte man sichtbare Zeugnisse davon in Form von Abbildern nach römischem Vorbild in die eigene Liturgie.Footnote 12

Demgegenüber spielten bei jungen Adligen der Frühen Neuzeit, die eine Kavalierstour unternahmen, eher andere Zeremonien eine große Rolle;Footnote 13 spätestens bei den bürgerlichen Romreisenden der Klassik und Romantik übten die Zeremonien der Heiligen Woche insgesamt eine besondere Anziehungskraft aus. Gerade auch nichtkatholische Literaten, Musiker und Gelehrte wie Goethe, Mozart, Mendelssohn und Madame de Staël verfolgten mit ihren Bildungsreisen das erklärte Ziel, die Gesamtatmosphäre der Karwochenliturgie mitzuerleben, einschließlich ihrer kunstvollen Zeremonien und ihres traditionellen Gesangs nach Art der päpstlichen Kapelle – a cappella. Die nächtlichen sog. ›Düsteren Metten‹ erreichten sogar einen Sightseeing-Wert, der in der neueren Forschung angesichts mitunter geradezu schwärmerischer Ekstase und Entrückung von Dichterinnen wie Friederike Brun (1765–1835) und (persönlich distanzierter) Fanny Lewald (1811–1889) – auch mit Blick auf eigens angelegte Abschriften und Sammlungen – zu Recht als »Karfreitagszauber« bezeichnet worden ist.Footnote 14

Literarisch angereicherte Reiseführer für Rom und Anthologien mit Bezügen zur Ewigen Stadt erfreuen sich auch heute noch ungebrochener Beliebtheit.Footnote 15 In verschiedenen Prosa-Texten, Romanen und literarischen Essays, spielt die Liturgie seit Jahrzehnten eine große, wenn auch immer wieder gewissen Konjunkturen unterworfene Rolle. »Literarisch-theologische Porträts« zum 20. Jahrhundert reichen von distanzierten Literaten wie Gottfried Benn, der Gott als ein »schlechtes Stilprinzip« betrachtete, und Bert Brecht, dem Alfred Döblins am 14. August 1943 in Santa Monica bei Los Angelos abgelegtes Bekenntnis der Konversion vom Judentum zur römisch-katholischen Kirche infolge eines Erlebnisses in der Kathedrale von Mende als »Peinlicher Vorfall« erschien, bis zum praktizierenden Katholiken Reinhold Schneider, der sich einer gottvergessenen Kunst entgegenstellte.Footnote 16 Als einheitsstiftend erscheint in ästhetischer Hinsicht – bei aller Kritik, Gleichgültigkeit oder auch Begeisterung – der Zeit und Raum überdauernde Ritus, dessen Prinzip der scheinbar immergleichen Wiederholung bei gleichzeitiger Anlassgebundenheit Unkundigen den Zugang erschwert, diesen aber allen Eingeweihten orts- und zeitunabhängig überhaupt erst garantiert. Wie bereits bei den Romreisenden der Frühen Neuzeit so war und ist die eigene konfessionelle oder auch nur religiöse Zugehörigkeit keineswegs zwingend. So hebt der gläubige Muslim Navid Kermani in seinem Buch Ungläubiges Staunen. Über das Christentum die »Tradition« der orthodoxen Liturgie hervor, gegenüber der es »[k]ein grösseres Staunen« gebe;Footnote 17 denn »[a]lles ist ein Zeichen« und die mangelnde Ausrichtung der Gottesdienste »auf den Zuschauer, den Konsumenten« erscheint ihm nicht als »Zumutung«, sondern als ein »Geschenk«.Footnote 18 Und noch vor dem mit ihm befreundeten dezidiert römisch-katholischen Schriftsteller und Büchner-Preisträger Martin Mosebach setzte sich die Nichtkatholikin Agatha Christie als schon zu Lebzeiten beliebte Krimi-Autorin – im Verbund mit Künstlern wie dem bekennend jüdischen Jahrhundertviolinisten Yehudi Menuhin – angesichts der infolge des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) vorgenommenen Modifikationen des römischen Ritus für den Erhalt von dessen im Wesentlichen durch das Konzil von Trient (1545–1563) bestätigten, im Kern noch mittelalterlichen äußeren Formen ein.Footnote 19

Angesichts der gegenwärtig so lebendigen, mitunter auch sehr kontrovers geführten Diskussionen um das Verhältnis von Liturgie und Literatur muss es umso erstaunlicher erscheinen, dass eine hier besonders einschlägige Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts offensichtlich unerwähnt bleibt und auch sonst in letzter Zeit kaum zur Kenntnis genommen worden ist: Gertrud von le Fort.Footnote 20 Insbesondere ihr Roman Das Schweißtuch der Veronika führt zentrale liturgische Erlebnisse des frühen 20. Jahrhunderts vor Augen: zum einen mit Blick auf die bereits im Mittelalter praktizierte Präsentation der Veronika-Reliquie, zum anderen aber auch hinsichtlich der bereits von zahlreichen Bildungsreisenden begeistert besuchten, jahrhundertealten Zeremonien der Heiligen Woche insgesamt, vor allem der Karmetten.Footnote 21 Dieser Autorin und ganz gezielt ihrem ästhetisch einschlägigen Roman gilt deshalb im Folgenden die Aufmerksamkeit. Dabei sollen die bereits angedeuteten neueren liturgiehistorischen Forschungen direkt in die Analyse des literarischen Textes eingebunden werden. Als liturgiehistorische Referenz wird – ungeachtet verschiedener anderer möglicher Quellen und bis in die Gegenwart reichender Kontinuitäten – der Übersichtlichkeit halber ein einziges zeitgenössisches Buch herangezogen, das gleichermaßen Stundengebet und Messliturgie mit deren jeweiliger Abfolge und wechselseitigen Bezügen umfasst: der Liber usualis.Footnote 22

2 Das ›Schweißtuch der Veronika‹ im gleichnamigen Roman von Gertrud von le Fort

2.1 Über die Autorin: Gertrud von le Fort

Gertrud Freiin von le Fort wurde am 11. Oktober 1876 im westfälischen Minden geboren. Sie war das erste Kind des preußischen Majors Lothar Friedrich Freiherr von le Fort (1831–1902).Footnote 23 Ihre Kindheit verlebte die junge Gertrud zusammen mit ihren jüngeren Geschwistern Elisabeth (1880–1972) und Stephan (1880–1953) in dem freiherrlichen Hausstand.Footnote 24 Ungeachtet der gut situierten äußeren Verhältnisse boten ihre Eltern das lebendige Beispiel einer sparsamen Lebensweise in Zurückgezogenheit als Ausdruck einer Orientierung an calvinistischem Denken, das in der protestantischen Herkunft der Familie gründete.Footnote 25 Einige Vorfahren der Familie sollen der Laienpredigerbewegung der ›Waldenser‹ angehört haben. Aus deren Schicksal als verfolgte Protestanten lassen sich die Maximen ableiten, auf welche die Kinder im Rahmen der elterlichen Erziehung schon früh eingestimmt worden sein mögen.Footnote 26 Die ethische und religiöse Haltung ihrer Eltern wirkte offenbar sehr prägend auf Gertrud von le Fort, wobei die traditionell protestantische Familientradition keineswegs mit einer Feindschaft anderen Bekenntnissen gegenüber einherging.Footnote 27 Die religiöse Erziehung erfuhr sie in besonderer Weise durch die fromme Mutter, Elsbeth Karoline von le Fort, geborene von Wedel-Parlow (1849–1918).Footnote 28

Allgemein legte das geistige Erbe ihres großen Herkunftsgeschlechts, das durch zahlreiche berühmte Ahnen auf vielschichtige Weise Verbindungen zur europäischen Geschichte aufwies, einen entscheidenden Grundstein für ihr späteres dichterisches Lebenswerk.Footnote 29 Dem Offiziersberuf des Vaters geschuldet, unternahm die Familie zahlreiche Umzüge. Neben längeren Aufenthalten im mecklenburgischen Herrenhaus Boek am Müritzsee und einer vierjährigen Phase in Berlin verbrachte Gertrud von le Fort ihre Kindheit und Jugend in Minden, Koblenz, Hildesheim, Halberstadt und Ludwigslust.Footnote 30 Ihr Heimatbegriff umfasste daher ganz Deutschland als Paradigma für das »irdische[] Reich« – in Abgrenzung zur Religion als »ewiges Reich«Footnote 31. Auch hinsichtlich des lokal eher unsteten Daseins erwies es sich als vorteilhaft, dass der Vater die Erziehung Gertruds zunächst selbst mit der Unterstützung von Privatlehrern vornahm. Dies änderte sich, als Gertrud von le Fort von ihrem fünfzehnten Lebensjahr an in Hildesheim eine öffentliche Mädchenschule besuchte.Footnote 32 Unter anderem in der alten Bischofsstadt Hildesheim begegnete sie der katholischen Kirche erstmals unmittelbar und voller Faszination.Footnote 33

Das von Herkunft und Tradition geprägte soziokulturelle Umfeld Gertrud von le Forts mit dem Vater als führendem Oberhaupt, dem sie sich überdies stets sehr nahe fühlte,Footnote 34 erfuhr im Jahre 1902 eine harte Erschütterung, als der Major Lothar Friedrich Freiherr von le Fort plötzlich verstarb.Footnote 35 In der Zeit nach dem Tod des Vaters unternahm Gertrud von le Fort mehrere Reisen – zum Teil gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester –, die sie von 1907 an mehrmals nach Rom führten. Besonders prägend für diese neue Lebensphase war eine intensivere Beschäftigung mit Literatur – sowohl rezeptiv als auch verstärkt kreativ. Ihre literarischen Versuche wurden von Erfolg gekrönt, als ab dem Jahr 1895 ihre ersten Veröffentlichungen erschienen. Im Jahr 1908 erhielt sie daraufhin die Möglichkeit, ihre persönlichen, geisteswissenschaftlich geprägten Interessen im Rahmen eines Gasthörerstudiums zu vertiefen. Gertrud von le Fort studierte – mit Ausnahme dreier Freisemester in Rom und einer Unterbrechung nach Kriegsausbruch – insgesamt neun Semester an verschiedenen Universitäten, davon sieben in Heidelberg und je eines in Marburg und Berlin. Sie belegte dabei »in der Hauptsache Philosophie und evangelische Theologie, auch Geschichte, insbesondere Kirchen‑, Kunst- und Kulturgeschichte, daneben etwas Rechts- und Politikwissenschaft«Footnote 36. In Heidelberg verspürte le Fort eine besondere geistige Atmosphäre, welche sich innerhalb der kritisch-intellektuellen Szene in einer hitzigen Diskussionskultur entfaltete.Footnote 37

Den wohl bedeutsamsten Einfluss auf sie übte der seit 1894 in Heidelberg eine Professur für evangelische systematische Theologie bekleidende Religions‑, Geschichts- und Kulturphilosoph Ernst Troeltsch aus.Footnote 38 Die tiefgreifenden und wegweisenden Anregungen, die sie in Auseinandersetzung mit seiner Theologie erhielt, trugen wohl dazu bei, ihre schon in der Koblenzer und Hildesheimer Zeit spürbare Affinität zur katholischen Kirche noch zu verstärken.Footnote 39 Darüber hinaus sammelte Gertrud von le Fort besonders während ihrer mehrmonatigen Aufenthalte in Rom prägende Erfahrungen mit der katholischen Kirche.Footnote 40

Infolge mehrerer Schicksalsschläge geriet le Fort in Heidelberg in eine »seelische Krise der Selbst- und Weltentfremdung«Footnote 41. Schließlich fand sie in Bayern eine neue Heimat, wo die regionalen Einflüsse aus dem katholischen Milieu eine richtungweisende Wirkung auf ihre künftige Entwicklung ausübten.Footnote 42 Es zeichnete sich ein Wendepunkt in Gertrud von le Forts Biographie ab, als sie ihre Entscheidung für eine Konversion zur katholischen Kirche auch äußerlich bekannte. Sie nahm Konversionsunterricht bei dem Münchener Jesuiten Erich Przywara, der sie in die katholische Sakramentenlehre einführte. Gertrud von le Fort betonte dabei bezeichnenderweise selbst, ihre »Beheimatung in der katholischen Kirche wurzle in der Liturgie«Footnote 43. Der Entschluss zur Konversion fand unter anderem Ausdruck in dem Werk Hymnen an die Kirche. Nach einem sechsmonatigen Aufenthalt in Rom im Jahr 1925, während dessen sie am Roman Das Schweißtuch der Veronika arbeitete, trat sie im März 1926 in die katholische Kirche ein. Die Konversion und das Erscheinen der Hymnen an die Kirche bildeten bedeutende Meilensteine auf le Forts Weg – innerlich wie beruflich. Durch ihr starkes »Auftrags – und Sendungsbewusstsein«Footnote 44 sowie ihre weiteren literarischen Erfolge und die sich dadurch eröffnenden neuen beruflichen Perspektiven verfolgte sie ihre schriftstellerischen Ambitionen immer entschiedener. Nach der Veröffentlichung des Romans Das Schweißtuch der Veronika (Teil 1: Der römische Brunnen), der von Hermann Hesse als »ein wirkliches Kleinod« anerkannt wurde, wuchs le Fort in die damalige europaweite christliche Literaturszene hinein.Footnote 45 Das Werk der Dichterin lässt sich in die europäisch religiöse Erneuerungsbewegung des sog. Renouveau catholique einordnen oder zumindest im Vergleich dazu betrachten.Footnote 46

Das religiöse Moment ist sowohl auf inhaltlicher als auch auf stilistischer Ebene prägend für zahlreiche Werke le Forts wie Die Letzte am Schafott (erschienen 1931), Die Abberufung der Jungfrau von Barby (erschienen 1940) oder Der Kranz der Engel (erschienen 1946) als zweiter Teil des Romans Das Schweißtuch der Veronika, um nur einige Beispiele zu nennen.Footnote 47 Im Folgenden soll allerdings der erste Teil des letzteren Werkes, Der römische Brunnen, aufgrund seiner besonderen liturgischen Bezüge im Fokus der Betrachtung stehen.

Am 1. November im Jahr 1971 starb Gertrud von le Fort im bayerischen Oberstdorf, ihrer Wahlheimat – »ihr[em] Rom«.Footnote 48 Von Hermann Hesse 1949 für den Literaturnobelpreis vorgeschlagenFootnote 49, von Rezensenten als »bedeutendste deutsche Schriftstellerin der Gegenwart«Footnote 50 geehrt, wird le Fort bis heute vor allem im religionsphilosophischen, theologischen und kulturgeschichtlichen Bereich rezipiert. Besondere Aufmerksamkeit erfährt die Rezeption der Künstlerin aktuell in der nach ihr benannten ›Gertrud von le Fort-Gesellschaft zur Förderung christlicher Literatur‹.Footnote 51

2.2 Der Roman: Das Schweißtuch der Veronika

Im Jahre 1928 erschien Gertrud von le Forts wohl bekanntester Roman: Das Schweißtuch der Veronika, der sich literarisch der Gattung des Bildungsromans zuordnen lässt.Footnote 52 Der Untertitel Der römische Brunnen macht deutlich, dass es sich um ein mehrteiliges Werk handelt.Footnote 53 Die Ich-Erzählerin Veronika reflektiert in der Retrospektive eine prägende Phase ihrer Jugend im Haushalt ihrer Großmutter in der deutschen Kolonie in Rom kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Vor dem Hintergrund des weltanschaulichen Pluralismus im 20. Jahrhundert fungiert Rom, ein »kultureller Mikrokosmos«Footnote 54, als eine sinnbildliche Bühne für das Zusammentreffen von Antike, Christentum und Moderne. Veronika spürt, wie die »Polaritäten säkulare Bildungswelt und Christentum«Footnote 55 nach ihrer Seele auf der Suche nach Orientierung und Identität zu greifen scheinen. Umso eindringlicher wirken diese zwei verschiedenen Welten durch eine Form der Typisierung in der Gestalt der Verwandten Veronikas.Footnote 56

Nachdem ihre Mutter Gina gestorben und ihr Vater, ein Heidelberger Gelehrter, zu einer Forschungsexpedition in den tropischen Regenwald aufgebrochen ist, wird Veronika in den Haushalt ihrer Familie mütterlicherseits in Rom aufgenommen, wo sie von nun an mit ihrer Großmutter, ihrer Tante Edelgart und ihrer ehemaligen Bonne, der Französin Jeanette, zusammenlebt.Footnote 57 Die Gestalt der Großmutter repräsentiert dabei »typologisch den atheistischen Teil des Wilhelminischen Bildungsbürgertums, respektive den ausklingenden Idealismus des 19. Jahrhunderts mit seinem Bildungsideal und seiner kunstreligiösen Zuwendung zur Antike«Footnote 58. Die Figur der Edelgart, Veronikas Tante, verkörpert dagegen ein »sinnentleertes, fehlgeleitetes Christentum, das sich nur an äußere Formen der Frömmigkeit klammert«Footnote 59. Während die fünfzehnjährige Veronika gemeinsam mit ihrer geliebten Großmutter voller Ehrfurcht die Kulturgüter der Ewigen Stadt bewundert und dabei dem Wunsch des Vaters gemäß von der religiösen Welt ihrer Tante bewusst ferngehalten wird, bereitet sich diese als getaufte Protestantin auf ihre Konversion zur katholischen Kirche vor. Jeanette ist die einzige Katholikin in dem kleinen Hauswesen und lebt auf ihre zurückhaltende Weise eine idealtypische »tiefe Volksfrömmigkeit«Footnote 60. Die Beziehungskonstellation gerät in eine gewisse Spannung, als ein junger expressionistischer Dichter namens Enzio gemeinsam mit seiner Mutter »Frau Wolke« anreist. Die Großmutter empfindet eine starke mütterliche Liebe zu ihm, war sein Vater doch ihr ehemaliger Geliebter. Enzio verkörpert den »zeittypischen Kulturpessimismus [der expressionistischen Avantgarde] als Antirationalismus und Antihistorismus«.Footnote 61

Veronika ist von Beginn an »auf der geistigen und seelischen Suche nach zuverlässiger Orientierung und nach sich selbst, angetrieben durch eine namenlose Sehnsucht«.Footnote 62 Weder die weltanschaulichen Positionen der Großmutter und Enzios noch die abschreckende religiöse Einstellung ihrer Tante vermögen Veronika den ersehnten Halt zu bieten.Footnote 63 Ihre innere Suche erfährt schließlich eine Wendung, als sie eines Nachts in der vatikanischen Basilika St. Peter die geheimnisvoll vor ihren Augen erstrahlende Monstranz erblickt.Footnote 64 Nur wenig später erfährt die Ich-Erzählerin Veronika die für sie zentrale Begegnung mit der katholischen Kirche im Zusammenhang mit der liturgischen Weisung des Schweißtuches der Heiligen Veronika.Footnote 65 Als ihre Tante Edelgart kurz vor ihrer Konversion vom Glauben abfällt, nimmt sie deren Stelle als Katechumene bei dem Dominikanerpater Angelo ein.Footnote 66

An der Figur der Veronika wird eine mediale Gabe lebendig, die sich in Form eines besonderen Verstehens aus Liebe äußert. Übersinnliche Erscheinungen vermag das Mädchen in ihrer Seele widerzuspiegeln und unbewusst zu erfassen, weswegen sie liebevoll »Spiegelchen« genannt wird.Footnote 67 In ihr stellen Religiosität und die Bildungskultur keinen Widerspruch dar, ist sie doch für beide ihr Leben in Rom prägenden Welten empfänglich.Footnote 68 In dem Roman erfolgt letztlich die »existenzphilosophische Darstellung geistiger Zeitströmungen«Footnote 69 angesichts des Themas der Identitätssuche, wobei die »identitätssichernde Funktion echter Religiosität«Footnote 70 bewusst zum Ausdruck gebracht wird.

Gertrud von le Forts Sprache zeichnet sich durch ihren Bilderreichtum und den geradezu singenden Sprachrhythmus ihrer langen, hypotaktischen Satzkonstruktionen aus. Dies zeigt sich schon in der Metaphorik des Titels Das Schweißtuch der Veronika in Anlehnung an die Legende der heiligen Veronika als Sinnbild für das ›Spiegelchen‹ der Seele Veronikas.Footnote 71Der römische Brunnen, der Untertitel des Werks, scheint sogar als lyrisches, wohl auf Conrad Ferdinand Meyers berühmtes Gedicht anspielendes MotivFootnote 72 auf Veronikas Seelenleben mit dem ihr eigenen Zugang zu einer unbewussten, transzendenten Welt hinzudeuten.

2.3 Liturgie in der Literatur: Schlüsselszenen im Roman Das Schweißtuch der Veronika

»[I]ch hörte von dem Balkon über uns Geläut und sah dort oben das weiße Leuchten priesterlicher Gewänder; ein geheimnisvoller Gegenstand wurde erhoben: ich erkannte nichts, aber ich fühlte dieselbe unaussprechliche Ergriffenheit wie damals beim Anblick der Monstranz, ja ich glaubte sie zu sehen, nicht mit meinen Augen, sondern mit meiner Liebe«.Footnote 73

Mit diesen feierlichen und gleichsam kryptischen Worten schildert Gertrud von le Fort die zentrale Glaubenserfahrung der Ich-Erzählerin Veronika.Footnote 74 In dieser Szene findet die am Gründonnerstagabend in der vatikanischen Basilika Sankt Peter vollzogene liturgische Weisung des Schweißtuchs der Heiligen Veronika einen besonderen literarischen Ausdruck. Die geschilderte Zeremonie geht bereits auf mittelalterliche Traditionen zurück. Der erwähnte Balkon wurde im 16. Jahrhundert eigens für die Reliquienpräsentation in der Nähe des Hauptaltars errichtet, die Termine der Präsentation variierten allerdings.Footnote 75 Die Hauptfigur Veronika erlebt die feierliche, jedoch von vorösterlicher Schlichtheit geprägte Karwochenliturgie in Begleitung ihrer Großmutter und des jungen Dichters Enzio aus der Perspektive eines jungen Mädchens, welches gemäß der Bestimmung ihres Vaters seit jeher von der Welt des Christentums ferngehalten worden ist. Dementsprechend entbehrt sie bei ihrer Betrachtung jedweden dogmatischen Wissens im Bereich der Theologie oder der Liturgie. Vielmehr schwelgt sie in der Vielzahl und Intensität ihrer Eindrücke. Den Lesenden erscheint die Zeremonie durch die Augen der Ich-Erzählerin auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung als mystisch umwobenes Geheimnis.

An jenem Gründonnerstag wird Veronika entgegen ihrer Erwartungen beim Betreten der Basilika von den »düsteren Schatten der Trauermette«Footnote 76 empfangen. Bei diesem Gottesdienst handelt es sich um die Matutin des nächtlichen Stundengebets, wie sie mit jeweils wechselnden Gesängen und Gebeten am Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag begangen wird.Footnote 77 Die Stimmung trostloser Dunkelheit legt sich schmerzhaft auf die Ich-Erzählerin,Footnote 78 während sie von ihrem Platz nahe des »nackt[en] und kahl[en]«Footnote 79 Hauptaltars aus die Zeremonie voller gleichgültiger Traurigkeit auf sich wirken lässt.Footnote 80 Aus diesem inneren Schmerz heraus lauscht sie dem Gesang der alttestamentlichen Lesungen aus dem Buch der Klagelieder, der in der älteren Tradition dem Propheten Jeremia zugesprochenen Lamentationen. Am Ende jeder dieser Lesungen erklingt – wie ein Kehrvers – Jerusalem, Jerusalem, convertere ad Dominum Deum tuum – ›Jerusalem, Jerusalem, bekehre Dich zum Herrn, Deinem Gott!‹.Footnote 81 Während viele Rom-Reisende spätestens seit dem 18. Jahrhundert den abschließenden Psalm 50 (51) Miserere mei als besondere Attraktion hervorhoben,Footnote 82 ist die Ich-Erzählerin – noch vor ihrer eigenen Konversion – auf diesen Vers fokussiert. In der Papstliturgie der Renaissance wurde dieser an Jerusalem gerichtete Aufruf convertere oft von jüdischen Konvertiten gesungen, wobei einige Zeitgenossen in ihnen die Nachfahren der alttestamentlichen Israeliten sahen und ihren Vortragsstil des lateinischen Texts – einschließlich der als Zahlzeichen verbliebenen und musikalisch mitvertonten hebräischen Buchstaben – passend zu den Lamentationen als »lamentabiliter« wahrnahmen.Footnote 83 Veronika ist in dieser Trauerstimmung zumute, »als [finge] die Seele selbst an […] zu singen«.Footnote 84 Sie erlebt einen Zustand seelischer Entgrenzung im mystischen Hauch, welcher bei den Klängen des Aufrufs zur Konversion das Kirchengewölbe erfüllt.Footnote 85 Mit Tränen in den Augen nimmt Veronika wie im Traum und ohne jedes Zeitgefühl den »unendliche[n] Schmerz«Footnote 86 der zunehmenden Düsternis und Trostlosigkeit der Feierlichkeiten tief in sich auf.Footnote 87 Vor Augen hat sie dabei – für die Lesenden gleichsam unsichtbar und doch im imaginierten Hintergrund präsent – das liturgisch bedingte fortschreitende Auslöschen der Kerzen des fünfzehnarmigen Kandelabers.Footnote 88 Veronika befindet sich auf einer anderen Ebene des Bewusstseins, ist im Begriff, sich von sich selbst loszulösen im schier überwältigenden Gefühl der schmerzlichen Verlassenheit, als erneut »liebreich, schmerzreich, sterbend« der Gesang Jerusalem, Jerusalem, convertere ad Dominum Deum tuum erklingt.Footnote 89 In Veronikas seelischen Zustand einer existenziellen Grenzerfahrung hinein gelangt das »aus der Höhe niederströmende Licht wie etwas fast Rettendes«. Als der »geheimnisvolle Gegenstand«, als welcher das ›Schweißtuch der Veronika‹ der Ich-Erzählerin erscheint, erhoben wird, fühlt sie eine solche »unaussprechliche Ergriffenheit« und Anziehung, dass sie niederkniet, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ihre Großmutter bringt Veronika unmittelbar nach diesem entgrenzenden Erlebnis eines unbewussten Zugangs zur Ebene des Transzendenten und Ewigen jäh wieder zu Bewusstsein. Sie tadelt Veronika, es sei selbst »der Ehrfurcht nicht erlaubt zu knien, wenn sie nicht weiß wovor«.Footnote 90

Als die Matutin, wegen ihrer ästhetischen Wirkung gemeinhin auch ›Düstere Mette‹ genannt,Footnote 91 kurz darauf endet, erklärt die Großmutter im Hinausgehen nachträglich »den Sinn der Feier« sowie die hohe Bedeutung der Reliquie der heiligen Veronika.Footnote 92 Ohne die Erwähnung vonseiten der Großmutter wäre der »geheimnisvolle […] Gegenstand«Footnote 93 aus Veronikas Wahrnehmung wohl nicht eindeutig als das Schweißtuch der Heiligen benannt worden. Es ist augenfällig, dass das Wissen der Großmutter im Bereich Dogma, Kirchenjahr und Gebetsformen das ihrer Enkelin bei Weitem übersteigt. Und doch eröffnet sich der Ich-Erzählerin ein eigener Zugang zur Liturgie der Trauermette. Veronikas Beziehung zum christlichen Glauben gründet nicht auf einem rationalen Erfassen, sondern auf einem irrationalen Erfasstsein von dem Unfassbaren. Diese mystische GlaubenserfahrungFootnote 94 eröffnet, losgelöst von der rationalen Erklärbarkeit durch das kirchliche Dogma, eine Perspektive auf die Liturgie, welche den ZeichencharakterFootnote 95 in den Hintergrund, indes den subjektiv erfahrenen Symbolgehalt in den Vordergrund rücken lässt. An die Stelle mittelalterlicher Liturgie-Allegorese tritt so ein ganz eigenes, unmittelbares Liturgie-Erlebnis.

Die Tiefendimension dieses liturgischen Erlebnisses, von der Veronika, unabhängig von einem dogmatischen Bewusstsein der rituellen Handlungen und doch bewegt durch deren einnehmende äußere Gestalt, erfasst wird, findet in der metaphorischen Sprache le Forts ihre Entfaltung. Als Ausdruck der Irrationalität lassen einige Leerstellen bei der literarischen Beschreibung der liturgischen Formen jenen mystischen, geheimnisvollen Sog, welchen die Ich-Erzählerin angesichts der »sinnliche[n] Frömmigkeitsformen«Footnote 96 fühlt, gerade dadurch aufscheinen, dass diese auf einer rationalen Verständnisebene sprachlich verschleiert werden.

Prägend für den sprachlichen Ausdruck des Geschehens ist die Aneinanderreihung von Eindrücken und Empfindungen der Hauptfigur in langen, hypotaktischen, zum Teil geradezu labyrinthisch erscheinenden Satzgebilden mit einem äußerst gehobenen, leicht altertümlich anmutenden Stil. Die eindringliche Wirkung der Sprache, welche die Lesenden immer tiefer in das mystische Erleben der erzählten Ereignisse eintauchen lässt, wird durch den Einsatz zahlreicher Stilmittel verstärkt. So beschreibt die Ich-Erzählerin ihren zunehmend geradezu körperlich schmerzhaften Eindruck der Basilika Sankt Peter am Gründonnerstag mit einem Trikolon, innerhalb dessen eine Steigerung erkennbar ist: »Der marmorne Schmuck […] [der] Wände, die Gräber […] [der] Päpste, die Statuen […] [der] Heiligen, alles lag erstorben!«Footnote 97 Die Schilderung des Geschehens zeichnet sich in ihrer Bildhaftigkeit ebenfalls durch die zahlreichen verwendeten Adjektive aus. Der Altar, welcher schon den allegorischen Deutungen des Mittelalters entsprechend in der Liturgie am Gründonnerstag – wie Christus – ›entkleidet‹ und ›gewaschen‹ wurde, um am Karfreitag von Tuch und Schmuck entblößt zu sein,Footnote 98 erscheint Veronika beispielsweise »nackt und kahl«,Footnote 99 wobei zwei bedeutungsähnliche Adjektive im Sinne einer Tautologie die emphatische Ausdrucksweise intensivieren. Eine ganz besondere Wirkung geht mithilfe der entsprechenden sprachlichen Ausgestaltung von dem durch das Kirchengewölbe wehenden Gesang des Jerusalem, JerusalemFootnote 100 während der Trauermette aus. Es zeigt sich hierbei die für den Roman so charakteristische Bildsprache mit einem lyrischen Anklang: Metaphorisch wird die singende Stimme als »kleiner Vogel im dunklen Weltraum« beschrieben, was den Kontrast zwischen dem zarten A‑cappella-Gesang und der Größe des so düster erscheinenden Kirchengewölbes lebendig werden lässt: Die Stimme steigt mit »dem eintönigen Flügelschlag eines unendlichen Schmerzes von Einsamkeit zu Einsamkeit empor bis in die höchsten Fernen der Kuppel«.Footnote 101 Diese Empfindung wird weiter ausgeführt anhand eines Vergleichs der Stimme mit einem Weinen »wie an Felsen […], wie über unermeßlichen Meeren«, bevor sich die mannigfache, bildreiche Beschreibung schließlich mitten in einer Aufzählung mehrerer Versuche, das Wahrgenommene in Worte zu fassen, verliert, so als ob der Gesang als entgrenzende Empfindung die Möglichkeiten des Sagbaren übersteigen würde. Veronikas Ergriffenheit ist hier vergleichbar mit jener Begeisterung, die sonst vor allem Vertonungen des abschließenden 50. (51.) Psalms auslösten, insbesondere Allegris Miserere, dessen zauberische, streng geheim gehaltene Sopranpartien von Reisenden wie Mozart, Mendelssohn und Madame de Staël enthusiastisch geschildert wurden.Footnote 102

Die emotionale Bewegtheit der Ich-Erzählerin bricht sich Bahn in einem innerlichen Ausruf: »[N]ie, nie würde ich dieses unsagbare ›Jerusalem, Jerusalem‹ vergessen können«Footnote 103! Der inversive Satzbau betont die Unmöglichkeit eines Vergessens, welche durch die Wiederholung des vorangestellten »nie« zusätzlich manifestiert wird. Hinzu kommt, dass die in der Liturgie vorgesehenen Repetitionen aufgegriffen und literarisch verarbeitet werden: Das eindringliche zweimalige Anrufen Jerusalems erscheint als wörtliches Zitat, und die liturgisch-ästhetische Wirkung der Wiederholung des gesamten Verses am Ende jeder Lesung wird literarisch dadurch erzielt, dass die Ich-Erzählerin die Szenerie an verschiedenen Stellen gedanklich einschiebt, indem sie die Liturgie vor ihrem geistigen Auge und Ohr Revue passieren lässt. Das bei Rom-Reisenden sonst so sehr im Mittelpunkt stehende Miserere, der mehrstimmige liturgische Ausklang, wird von ihr nur nachträglich, gleichsam als literarischer Nachklang, angerissen.Footnote 104 Im Zentrum ihrer Wahrnehmung steht der liturgische Aufruf zur Konversion. Die Zeremonie versinkt daraufhin in Veronikas Wahrnehmung erneut in trostloser Dunkelheit, was sich sprachlich in der knappen Beschreibung des Geschehens niederschlägt und in Form einer trikolonischen Klimax pointiert Ausdruck findet: »Alles umher verblich, vergraute, veraschte«.Footnote 105 Aus dieser schmerzlichen Dunkelheit heraus erhebt sich schließlich als Höhepunkt des liturgischen Geschehens die geradezu rettende Wahrnehmung der Weisung des Schweißtuches der heiligen Veronika. Veronikas Eindrücke sprudeln in einer asyndetischen, wie atemlos wirkenden Aneinanderreihung hervor, so dass auf sprachlicher Ebene eine Art Sog bis hin zur alles erfassenden Liebe entsteht: »[E]in geheimnisvoller Gegenstand wurde erhoben: ich erkannte nichts, aber ich fühlte dieselbe unaussprechliche Ergriffenheit wie damals beim Anblick der Monstranz, ja ich glaubte sie zu sehen, nicht mit meinen Augen, sondern mit meiner Liebe«.Footnote 106 In dieser für Veronikas Form der Religiosität so bezeichnenden Schilderung findet sich eine Art Parallelismus zwischen den Gegensätzen »ich erkannte nichts, aber ich fühlte« und »nicht mit meinen Augen, sondern mit meiner Liebe«, wodurch der Eindruck eines Verstehens aus Liebe sprachlich intensiviert wird.

In dieser zentralen Szene der liturgischen Glaubenserfahrung der Hauptfigur vollbringt Gertrud beispielhaft eine besondere Form der Wortmalerei in vielfältigen Metaphern, Vergleichen und Emphasierungen, welche die emotionale Ergriffenheit auf kunstvolle Weise sprachlich abbildet und eindrucksvoll betont.Footnote 107 Die Bedeutsamkeit der Sprache für die mystische Entfaltung des unsagbaren Erlebens ist demnach entsprechend hoch.

Ihre seherische Gabe lässt in Veronika im Moment der »unaussprechlichen Ergriffenheit« angesichts der Weisung der Reliquie die nicht lange zurückliegende Erinnerung an den »Anblick der Monstranz«Footnote 108 auf dem Altar der Basilika Sankt Peter erneut lebendig werden.Footnote 109 In dem nächtlichen Kirchengewölbe machte die Figur der Veronika seinerzeit ihre erste, tief berührende und wegweisende Glaubenserfahrung. Im Gegensatz zum gegenwärtigen Dunkel der Karwoche stand damals das helle Licht in Form der Erscheinung der erstrahlenden Monstranz, deren ungeheurer Umfang »durch einen Altar gebildet wurde, der, mit Hunderten von Kerzen ihre Umstrahlung fortsetzend, wie ein Feuerherd in […] [der] großen, einsamen Kirche brannte«. Auf sprachlicher Ebene entfaltet die Erscheinung »noch halb im Traum, aber doch wieder mit […] [den] Augen« ihre schier überwältigende Wirkung durch eine metaphorisch ausgeschmückte Beschreibung. Der symbolträchtige Vergleich des Altars mit einem »Feuerherd« »ungeheure[n] Umfang[s]« – betont durch eine Alliteration –, welcher die dynamische Kraft, das Licht und die Wärme der unausweichlich um sich greifenden Macht verdeutlicht, wird noch überstrahlt von der auf ihm thronenden Monstranz, welche mit der überirdischen »Vision eines riesigen Sternes«, vor dem die personalisierte Finsternis zurückweicht, verglichen wird. Der sprachliche Bilderreichtum lässt die Grenze zwischen Fantasie und Realität verschwimmen und legt einen Schleier der Empfindungen über das Geschehen, wodurch die Mystik der Glaubenserfahrung in den Fokus tritt.

Die sich sprachlich manifestierende Intensität des Ergriffenseins der Ich-Erzählerin sowohl bei dem zeitlich zurückliegenden Anblick der MonstranzFootnote 110 als auch bei der Weisung der Reliquie am GründonnerstagFootnote 111 drückt die in Veronikas Seele unbewusst widergespiegelte tatsächliche Verbindung beider Szenen in der Analogie zu dem Gesicht und dem Leib Christi aus.Footnote 112 Durch diesen Rückverweis wird die theologisch entscheidende Verbindung zwischen Christi Abbild in der realen Präsenz des Schweißtuches und der Realpräsenz in der gewandelten Hostie der Monstranz deutlich, die ihren Ursprung in der Eucharistie hat – jener sakramentalen Gottesdienstfeier, deren Einsetzung durch Jesus Christus regelmäßig am Gründonnerstag erinnert und erneuernd vollzogen wird. Diese sakramententheologischen und dogmatischen Zusammenhänge werden aber nicht explizit reflektiert, sondern aus dem unmittelbaren Erleben der Liturgie selbst heraus in der Literatur rezeptionsästhetisch auf gänzlich neue Weise erfahrbar. Die vera eikón wird dabei als eine Reliquie, die ihren eigenen medialen Status als Bild immer schon mitverhandelt oder reflektiert, nicht allein auf die Dimension des Visuellen reduziert, sondern in eine multimodale, liturgische »Frömmigkeitsarena«Footnote 113 eingebunden.

Auf der Ebene der Erzählung drückt sich die zentrale Bedeutung der zwei Szenen in der beinahe mittigen Position als Wendepunkt aus, von dem an sich eine antithetische Entwicklung bei der Hauptfigur Veronika in ihrer zunehmenden Hinwendung zur katholischen Kirche einerseits und bei ihrer Tante Edelgart in ihrem recht plötzlichen Abfall vom Glauben andererseits beobachten lässt. Der Roman ist als Erzählung hinsichtlich der beiden »antithetische[n] Repräsentanten eines geistigen Konzepts«Footnote 114 inhaltlich geradezu chiastisch aufgebaut. Das Verhältnis am Ende der Erzählung wird mit dem zu Beginn verglichen, wobei die fromme, sich in sinnentleerten Formen der – vermeintlichen – Orthodoxie ergehende Figur der Tante Edelgart der zunächst fern von der religiösen Welt aufwachsenden Veronika gegenübersteht.Footnote 115

Auf Veronikas Suche nach einer identitätssichernden Orientierung markieren neben dem zentralen Erlebnis der Weisung des Schweißtuches der heiligen Veronika in der Trauermette am Gründonnerstag zahlreiche weitere Glaubenserfahrungen unterschiedlich großer Dynamik und Wirkmacht ähnlich einer Spur von erhellenden Lichtpunkten ihren inneren Weg. Dabei fällt auf, dass die Ich-Erzählerin insbesondere im Zusammenhang mit sinnlichen Frömmigkeitsformen als »offene[n] Zeichen«Footnote 116 wie beispielsweise den Sakramenten oder der Liturgie, jene tiefen und wegweisenden Eindrücke erhält.

Ein Beispiel für eine weitere Glaubenserfahrung im liturgischen Kontext bildet Veronikas Erleben der Osternacht in der Lateran-Basilika San Giovanni nahezu unmittelbar nach der zentralen Szene der Weisung des Schweißtuches am Gründonnerstag in der Basilika Sankt Peter.Footnote 117 Die Ich-Erzählerin fühlt eine sprachlich durch eine Alliteration betonte »tiefe, traumhafte Verzauberung ringsum«. Die Kleriker erscheinen ihr »wie große weiße Blumen, welche eine unsichtbare Bahre schmück[en]«. An dieser Stelle wird einmal mehr die Tragweite des sprachlichen Ausdrucks deutlich; durch den bildlichen Vergleich entfaltet sich die Tiefendimension des liturgischen Geschehens auf einer mystischen Ebene des Verstehens. Die Entzündung der Osterkerze wird vom Gesang des Exsultet begleitet, den Veronika als »herrliche[n] und über alles wunderbare[n], erhabene[n] Hymnus« wahrnimmt, in welchem »der vom Tode erlöste Mensch die Engel zum Jubelsturm ohnegleichen durch alle Himmel fortreißt«. Die Betonung der zutiefst bewegenden Wirkung des Lobgesangs in Form eines Trikolons wird noch übertroffen durch den lyrisch anmutenden Vergleich. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass nach der damaligen Liturgie die Osterkerze keineswegs schon zu Beginn des Gottesdienstes angezündet wurde, sondern – wie von der Ich-Erzählerin beschrieben – während des Gesangs des Exsultet.Footnote 118 Auf der sprachlichen Ebene lässt sich während der anschließenden Lesung der Prophetien – also der alttestamentlichen Lesungen der Osternachtsliturgie – ein Rückgang in der Intensität der Erzählweise beobachten, bevor die sinnliche Wahrnehmbarkeit des Erstrahlens von Kerzen und Lampen auf allen Altären während der Liturgie der österlichen Lichtfeier Veronika erneut in einer mystisch-metaphorischen Dimension erschauern lässt mit den Worten: »[D]as schöne Licht der Osterkerze brach gleichsam in Hunderte von Flammen aus«. Die Atmosphäre ist erfüllt von einem »Leuchten und Schimmern«, was sprachlich durch die einer Tautologie ähnelnden Dopplung des Ausdrucks in der Intensität ihrer Wirkung noch verstärkt wird. Als nach den Lesungen die eigentliche Messfeier beginnt, wird Veronika überwältigt von dem Gloria und dem folgenden Halleluja, »gleich einer Woge des Dankes und der Liebe die ganze Kirche überströmend«.Footnote 119 Die besondere Wirkung entfaltet sich an dieser Stelle gegebenenfalls auch angesichts des unerwähnt gebliebenen Umstandes, dass das österliche Gloria den liturgischen Rubriken zufolge üblicherweise an allen Fastensonntagen ausgelassen worden war und nur kurz am Gründonnerstag hatte erklingen dürfen, woraufhin alle Glocken, Altarschellen und sogar die Orgel dem Schweigen unterlagen. In der besagten Szene erklang nun das Gloria mit überwältigendem Orgelgetöse und unter dem Vollgeläut aller Glocken, womöglich noch verstärkt durch sämtliche verfügbaren Altarglöckchen – und spätestens jetzt wurden auch alle restlichen Lichter der Kirche entzündet.Footnote 120 Auf das Halleluja hatte man sogar in der gesamten Fastenzeit verzichten müssen – an allen Werk- und Sonntagen, Fast- und Festtagen.Footnote 121 Der kraftvolle sprachliche Vergleich des Halleluja mit einer »Woge des Dankes und der Liebe« lässt dessen unbeschreibliche Wirkung nach der langen Zeit der Entbehrung lebendig werden und in das reine, symbolträchtige Erleben Veronikas eintauchen: »Es war nun wirklich, als ob alle Schatten zu Herrlichkeit würden, als ob die schwarze Erde selbst sich in Licht verwandle und alle ihre Steine in Flügel.«Footnote 122 Der Reichtum an Metaphern bringt auch hier den symbolischen Charakter der Zeremonie zum Vorschein, während das liturgische Geschehen auf der Oberflächenstruktur wie durch einen Schleier verborgen und gerade dadurch in seiner Tiefendimension erfasst wird. Der mystische Hauch findet einen besonderen Ausdruck in Veronikas Wahrnehmung einer geheimnisvollen »leise[n] Entrückung«Footnote 123 – wiederum beim Anblick des erhobenen Allerheiligsten – dieses Mal jedoch nicht Form der Monstranz, sondern durch die Elevation der gewandelten Hostie beim Höhepunkt der Messliturgie, der Feier des österlichen Pascha-Mysteriums.Footnote 124

Im Anschluss an die Messe besucht Veronika – auch in dieser Szene in Begleitung ihrer Großmutter und des jungen Dichters Enzio – das Baptisterium von San Giovanni in Fonte neben der Lateran-Basilika, der Bischofskirche des Papstes.Footnote 125 In der Sprache drückt sich eine wegweisende Anziehung aus, welche die Ich-Erzählerin angesichts des Taufbrunnens empfindet. Das »kleine, stille, uralte Baptisterium«Footnote 126 lässt durch das Trikolon in seiner Beschreibung die besondere Ausstrahlung geradezu erfühlen. Die Stimmung eines »Frieden[s] und eine[r] Freude« erfährt angesichts der Alliteration des zweigliedrigen Ausdrucks eine Steigerung der Intensität, »so als sollte […] die Osterkerze erst hier entzündet werden«.Footnote 127 Die theologische Verbindung von Osterkerze und Taufbrunnen, liturgisch sichtbar durch die Taufwasserweihe in Form des dreimaligen Herabsenkens der – allerdings schon während des Exsultet angezündeten – Osterkerze,Footnote 128 erhält hier erneut eine rein subjektiv erlebte, doch umso ergreifendere literarische Auszeichnung. An dieser empfundenen Verbindung zur Lichtfeier wird erneut das Potenzial der Sinnhaftigkeit und Transzendenz des bildlichen Zugangs deutlich.

Bemerkenswert ist überdies, in Abgrenzung vom sprachlichen Ausdruck des sinnlichen Erlebens der Ich-Erzählerin, le Forts Gestaltung von Enzios poetischer Umsetzung seiner persönlichen Wahrnehmung von Religiosität und Kirche als expressionistischer Avantgardist, welche aus der Perspektive der Hauptfigur Veronika geschildert wird. Er empfindet den »starken Eindruck der gewaltigen Formsprache der Kirche, deren außerordentliche Möglichkeiten für den Dichter er in demselben Augenblick erkannte, in dem er sie zum ersten Male in ihrer vollen Größe vernahm.«Footnote 129 Seine Gedichte kreisen unter anderem um die Monstranz in der nächtlichen Basilika Sankt Peter, wodurch eine Verbindung zu Veronikas erster Glaubenserfahrung an diesem OrtFootnote 130 geschaffen wird. In seiner Darstellung wird der ganze Dom zu einer »feierlich ausgesetzten Monstranz«Footnote 131, deren »gewaltig[e] äußer[e] Umstrahlung«Footnote 132 Rom selbst bildet.

Unterscheiden sich die Positionen Veronikas und des Dichters Enzio zu der christlichen Welt auch grundlegend, so eint sie doch ihr poetisches Erleben angesichts der »Phantastik des Werkes«Footnote 133. In dem dichterischen Potenzial der kirchlichen »Formsprache«Footnote 134 lässt Gertrud von le Fort eine theologische Bedeutsamkeit aufscheinen, indem Veronika über die metaphorischen Ausdrücke ihres Empfindens zum inneren Kern des in symbolischen Frömmigkeitsformen erfahrbar werdenden Glaubens vordringt.

3 Fazit und Ausblick

Liturgie ist in ihren verschiedenen gottesdienstlichen Formen geprägt von ihrer eigenen, immanenten Ästhetik. Innerhalb des römischen Ritus entfaltete in der Ewigen Stadt selbst vor allem die Präsentation des ›Schweißtuches der Veronika‹ seit dem Mittelalter eine besondere rezeptionsästhetische Bedeutung. Bei den frühneuzeitlichen Kavalierstouren und modernen Bildungsreisen bildete hingegen eher die Karwochenliturgie in ihrer Gesamtheit und mit Blick auf einzelne Zeremonien und Gesänge den zentralen Gegenstand persönlicher Liturgie-Rezeption. Gertrud von le Fort führt in ihrem Roman Das Schweißtuch der Veronika beide Bereiche auf eindringliche Weise literarisch vor Augen.

Hierbei verwendet die Autorin eine bildreiche Sprache, die mit den sinnlichen Frömmigkeitsformen in eine Art Wechselwirkung tritt. Das Wahrgenommene wird durch den metaphorischen Deutungshorizont der sprachlichen Bilder als Ausdruck der Empfindung auf eine höhere Ebene der in den Augen der Ich-Erzählerin irrational erscheinenden Erkenntnis aus Liebe gehoben. Der geschilderte rätselhafte, offene Charakter der mystischen Glaubenserfahrung rückt durch den sprachlichen Schleier in den Vordergrund. Doch letztlich erscheint die Autorin, Gertrud von le Fort, als entscheidende Schlüsselfigur für die Verbindung von Liturgie und Literatur: Sie selbst erhielt besonders tiefe, wegweisende Eindrücke im Zusammenhang mit den ihr zu Beginn fremden sinnlichen Frömmigkeitsformen. Ihre Konversion zur katholischen Kirche beruhte weniger auf einer systematisch-theologischen, dogmatischen Entscheidung, als vielmehr auf mystischen Glaubenserfahrungen in der Liturgie. Eine entscheidende Grundlage bildete dabei Gertrud von le Forts bleibende Prägung durch den evangelischen Theologen Ernst Troeltsch, so dass ihre Religiosität zeitlebens eine gewisse ökumenische Weite behielt. Mit ihren sprachlichen, teilweise lyrisch anmutenden Bildern fängt Gertrud von le Fort mystische Erfahrungen der Liturgie literarisch ein und eröffnet diesen dadurch zugleich ein ganz besonderes, zukunftsweisendes theologisches Potenzial.