Zusammenfassung
Ausgangspunkt des Beitrags ist die Feststellung, dass das Thema politische Bildung innerhalb des aktuellen Fachdiskurses der Kinder- und Jugendhilfe unterbeleuchtet ist. Insgesamt zeigt sich, dass das konzeptionelle Selbstverständnis von Jugendhilfe als eminent politische Bildung, in deren argumentativen Zentrum ein praxisphilosophisch akzentuierter Begriff von Bildung als Movens des Politischen steht, nur marginal zur Kenntnis genommen wird. Angesichts des exponentiellen Wachstums von sozialer (Bildungs‑)Ungleichheit und (Kinder‑)Armut seit Ausbruch der Corona-Pandemie gilt es die besondere Bedeutung von politischer Bildung zu betonen. Damit angesprochen ist das Problem, dass unsere Gesellschaft derzeit für eine lebenspraktische Vorbereitung auf eine demokratische Lebensführung für Kinder und Jugendliche in prekären Lebensverhältnissen über keinen Strategieplan für eine gesellschaftlich verantwortbare Bildung verfügt. Besonders aus der Perspektive einer kritischen Sozialen Arbeit gilt es sich somit über das der Profession Jugendhilfe innewohnende Bildungsverständnis neu zu verständigen und die Forderung nach einer politischen Bildung für alle zu radikalisieren.
Abstract
The starting point of this article is the observation that the topic of political education has not been adequately included in the professional discourse of child and youth welfare. The increasing child poverty rate with its resulting multiple disadvantages for young children make it absolutely necessary for youth services to position themselves as a democratic arena where children and youth of disadvantaged socioeconomic backgrounds can make claims with authorization. At the same time, youth services must attempt to define an appropriate balance between “youth services and political education” without excluding the basics of a critical Philosophy of Practice. Against this background, it becomes clear that a discussion about the core issue of youth services in Germany must be able to define the new social challenges in their practical aspects of political education. An expanded concept of youth services as political education with its implications for emancipatory child policy provides youth services with an opportunity to become constitutive in the democratization of society.
Notes
Hierbei sind die „Vier Versuche zu einer Theorie der Jugendarbeit“ (Müller et al. 1964), die bedürfnisorientierte Jugendarbeit (vgl. Damm 1975) und die antikapitalistische Jugendarbeit (vgl. Lessing und Liebel 1974) anzuführen. Aktuelle Anknüpfungspunkte für eine kritische politische Bildung unter Berücksichtigung ihres marxistisch akzentuierten Ursprungsformats (vgl. Schmiederer 1971) im Handlungsbereich der Jugendhilfe ergeben sich insbesondere zu den wissenschaftlichen Akteur*innen aus der Sozialen Arbeit (vgl. hierzu u.a. Hirschfeld 2012; Bütow et al. 2014) und politischen Jugendbildung, die zugleich einen integralen Bestandteil des Diskurses der politischen Bildung darstellen (vgl. Widmaier und Overwien 2013; Hafeneger 2011; Lösch und Thimmel 2010). Erwähnenswert sind zudem sozialpädagogische Bildungsansätze im Rahmen der Kinder- und Jugendarbeitsdebatte (vgl. Thole et al. 2021), die ein erweitertes Verständnis von Bildung in den Mittelpunkt rücken.
Insofern unter den Bedingungen einer Neoliberalisierung der Bildungs- und Gesellschaftsverhältnisse Kindheit und Jugend stärker denn je in die militant gewordenen Prozesse der Kapitalakkumulation eingeflochten sind, ist die von Karl Marx entwickelten Gesellschaftstheorie der Kritik der Politischen Ökonomie von unmittelbarer (sozial)pädagogischer Relevanz. Mit der Einverleibung des historisch-materialistischen Erkenntnisverfahrens in den (sozial)pädagogischen Diskurs, werden die Disziplinen in die Lage versetzt, die gesellschaftliche Funktion von Bildung im Kontext einer kapitalbestimmten Gesellschaftsstruktur kritisch zu beleuchten und die dahinter liegenden Interessen zu bestimmen. Die intellektuellen Referenzgrößen einer „kritischen Bildungstheorie“, wie bspw. Heinz-Joachim Heydorn, Gernot Koneffke und Hans-Joachim Gamm, repräsentieren den Versuch, die Konsequenzen der marxistischen Praxisphilosophie für pädagogisches Denken weiterzuentwickeln. Da es die von der Kapitallogik beherrschten empirischen Subjekte sind, die ein kritisches Bewusstsein über die konkreten Lebensumstände entwickeln und die Verantwortung für die Umgestaltung der sozialen Welt übernehmen müssen, zielt ein Materialismus humaner Prägung darauf ab, neue Zugänge zu einer gesellschaftsverändernden Praxis zu reflektieren.
Horst Adam bringt den internen Verweisungszusammenhang von Bildung, Politik und Emanzipation aus einer praxisphilosophischen Perspektive folgendermaßen auf den Punkt: „Politisch ist Emanzipation nach Marx und Engels nur über eine Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und die Unterwerfung der Anarchie des Marktes unter eine demokratische gesellschaftliche Kontrolle zu realisieren, was unter den gegebenen Bedingungen noch an Aktualität gewinnt. Marx und Engels sind sich dabei durchaus bewusst, dass eine Umstrukturierung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht allein ausreichend sein wird, um eine menschlichere Gesellschaft zu organisieren. Denn die Menschen selbst sind den Sozialisationsmechanismen des Kapitalismus unterworfen, die ihre Mündigkeit hintertreiben. Dieser Umstand betrifft die pädagogische Dimension der allgemeinen menschlichen Emanzipation. Sie macht eine Bewusstseinsbildung erforderlich, die durch kritische Selbstreflexion genau diese Sozialisationsmechanismen offenlegt. Diese muss an realen gesellschaftlichen Vorgängen, konkreten gesellschaftlichen und persönlichen Erfahrungen der Menschen ansetzen, also dort, wo sie aufwachsen und sozialisiert werden“ (Adam 2012, S. 43).
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Dr. phil. Dominik Novkovic ist Bereichsleiter in einer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung und Lehrbeauftragter der Institute für Sozialwesen/Soziale Arbeit und Philosophie an der Universität Kassel.
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Novkovic, D. Politische Bildung für alle! – Eine Neuorientierung der Kinder- und Jugendhilfe unter dem Aspekt der kritischen politischen Bildung. Soz Passagen 14, 169–183 (2022). https://doi.org/10.1007/s12592-022-00411-x
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