Das Buch von Matthias Platzeck erscheint dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung; für ihn Anlass, seine ostdeutsche Perspektive auf das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten deutlich zu machen. Auch erscheint das Buch genau 50 Jahre nach Unterzeichnung des Moskauer Vertrags, der den Weg in die Ostpolitik Willy Brandts bahnte. Angesichts der nach wie vor angespannten deutsch-russischen Beziehungen empfiehlt Platzeck, die damals erprobten Ansätze erneut anzuwenden.

In den ersten drei Kapiteln schildert der Autor seine persönlichen Erinnerungen an das geteilte Deutschland, die Wendezeit, die Hoffnungen und enttäuschten Erwartungen an die Wiedervereinigung. Seine größte Enttäuschung ist dabei der Westen, in dem die umfangreichen Umwälzungen kein Echo hervorriefen. Während der Osten sich rasch verändern musste, blieb der Westen unberührt, so Platzeck. Die heutige Frustration, die er bei den Ostdeutschen registriert, seien Folgen fehlender Wertschätzung sowie einer Missachtung für das „Selbstwertgefühl der Ostdeutschen“ (S. 69). Platzeck plädiert für einen sensiblen Umgang mit den ostdeutschen Erfahrungen und ein genaueres Zuhören. Viele ehemalige DDR-Bürger*innen litten immer noch unter biographischen Wunden des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Es müsse ein Ost-West-Dialog stattfinden, in dem auch die ostdeutsche Erinnerung über die Wende erzählt und die Lebensleistungen der Ostdeutschen gewürdigt werden (S. 73).

Nicht nur zwischen Ost- und Westdeutschland müsse Dialog stattfinden, sondern auch im internationalen Maßstab zwischen Ost und West, plädiert der Autor. Er ist überzeugt: Vor allem wegen der divergent narratives, der unterschiedlichen Erzählungen und Wahrnehmungen, gebe es viele Missverständnisse. Die ostdeutschen Erfahrungen der Umbruchszeit ließen sich nutzen, um auch den internationalen Ost-West-Antagonismus zu verstehen. Wie die DDR habe Russland „dramatische Erfahrungen“ mit Reformen (S. 75) gemacht, die im Westen nicht gehört und in den „weitreichenden Konsequenzen“ nicht verstanden worden seien.

Immer wieder geht es Platzeck um Gefühle und Wahrnehmungen. Sie stehen im Vordergrund des Buches und sind entscheidend bei der Einordnung von Konfrontationen: Wenn es um den Osten, bzw. Russland geht, dann sei das politische Handeln durch Gefühle von Demütigung zu erklären. Der Westen hingegen handele aus dem Gefühl zivilisatorischer und moralischer Überlegenheit heraus. Zweifellos spielen auch emotionale und kulturelle Aspekte eine Rolle, jedoch wird dieser Ansatz der Komplexität der innen- und außenpolitischen Entwicklungen nicht gerecht: weder in Russland noch in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und im Westen. Zudem trägt er kaum zur Versachlichung der ohnehin emotionalen Debatte bei.

In den folgenden Kapiteln stellt Platzeck dar, wie es zur Entfremdung zwischen Russland und dem Westen kommen konnte, behauptet wiederholt, dass Frieden in Europa nur mit Russland möglich sei und es Kooperation auf Augenhöhe brauche. Für Platzeck trägt vor allem der Westen die Verantwortung dafür, dass Russland nicht zum Partner nach dem Kalten Krieg wurde. Die im Umgang mit Ostdeutschland diagnostizierte fehlende Sensibilität des Westens spielt eine wichtige Rolle: In „seiner Selbstherrlichkeit“ (S. 104) bleibe der Westen für die Bedürfnisse des Ostens taub.

Wer genau mit dem Westen gemeint ist, erläutert Platzeck leider nicht. Der Osten ist für ihn Russland, womit er die Vielfalt der osteuropäischen Staaten und ihrer Interessen ausblendet.

Eindeutig ist, dass es Platzeck vor allem um Russlands vermeintlich vernachlässigte Interessen und Bedürfnisse geht. Die NATO-Osterweiterung belaste die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen sehr stark, so Platzeck. In Moskau habe man die NATO-Osterweiterung als Vertrauensbruch empfunden, was zur Entfremdung beigetragen habe. Er verweist zwar auf das Prinzip der freien Bündniswahl, setzt sich jedoch nicht ansatzweise mit den Motiven der osteuropäischen NATO-Mitglieder auseinander. Indem der Autor nur die alten, westlichen NATO-Staaten in Verantwortung sieht, offenbart er geopolitische Vorstellungen, die der Wirklichkeit längst nicht mehr entsprechen.

Während Platzeck dem Westen vorwirft mit der NATO-Osterweiterung gegen den Geist der Charta von Paris verstoßen zu haben (S. 103), sieht er in der Annexion der Krim durch Russland 2014 erstaunlicherweise keine Verletzung der Prinzipien der Charta und der europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung (S. 109).

Platzeck erwähnt zwar, dass Russland unter Putin immer autoritärere Züge aufweise, ermahnt jedoch Europa, Russland hierfür zu kritisieren und zu „rechthaberisch“ aufzutreten (S. 114). Viel wichtiger sei, Russlands Interessen anzuerkennen und die Ansichten Moskaus zu respektieren (S. 196). Platzeck plädiert damit für einen bedingungslosen Dialog. Weder die autoritäre innenpolitische Konsolidierung des Regimes noch außenpolitische Aggressionen sind für ihn Gründe, die Kooperation mit Russland zu überprüfen. Die bestehenden Sanktionen seien „pädagogische Strafmaßnahmen“ des Westens (S. 194) und „kontraproduktiv“ (S. 238). Stattdessen brauche es eine grundlegende Revision des Umgangs mit Russland, die den großen östlichen Nachbar wieder zum Partner auf Augenhöhe macht.

Platzecks Buch ist denjenigen zu empfehlen, die an Einblicken in die persönlichen Eindrücke des Autors in Bezug auf die Wendezeit interessiert sind. Wie vielschichtig und emotional die Wende für die Menschen in Ostdeutschland war, erzählt Platzeck durchaus eindrucksvoll an seiner eigenen Biographie – und lässt ahnen, wie diese Erfahrung bis heute nachwirkt. Auch gewinnt man einen kenntnisreichen Einblick in die Ostpolitik der beiden Friedenspolitiker Willy Brandt und Egon Bahr, deren Bedeutung für das Europa nach Ende des Kalten Krieges berechtigterweise gewürdigt wird. Allerdings lernt man wenig über eine neue Ostpolitik, die der Buchtitel ankündigt. Das Buch ist vielmehr ein allzu oft polemisches Plädoyer für eine Russlandpolitik, die alle übrigen Staaten zwischen Berlin und Moskau geflissentlich übersieht. Dieser Ansatz erinnert eher an die Zeit des Moskauer Vertrags als an die Realitäten von heute, 50 Jahre später. Doch gerade die Leitidee der Ostpolitik – die Realitäten anzuerkennen – hat nichts an Aktualität eingebüßt. Ganz im Gegenteil: Die gegenwärtigen innen- und außenpolitischen Realitäten in Russland und ganz Osteuropa verlangen ein genaueres Hinsehen und eine differenziertere Analyse, als Platzecks Buch anbietet.