1 Einleitung

„Und sie bewegt sich doch!“ Der Satz, den der florentinische Hofmathematiker, Philosoph und Astronom Galileo Galilei im Jahr 1632 vor der römischen Inquisition gesagt haben soll, könnte in einer schönen Analogie auch für die internationale Drogenpolitik stehen. Die neue Drogenbeauftragte der Deutschen Bundesregierung, Daniela Ludwig, war unlängst in Innsbruck und zeigte sich beeindruckt vom dortigen Drug Checking-Projekt, wo Konsumenten*innen schon seit 2014 anonym synthetische Drogen auf ihre Inhaltsstoffe untersuchen lassen können – und dabei gleichzeitig eine Beratung zum schadensmindernden Umgang mit diesen Substanzen und möglichen Folgen des Konsums erfahren. Man müsse sich mit dieser Option auch in Deutschland beschäftigen, sagt Ludwig (CSU) und kann sich auch eine bundeseinheitliche Obergrenze von 6 g für den Besitz von Cannabis für den Eigenkonsum – sogar in Bayern – vorstellen. Drogenpolitik verstehe sie primär als Gesundheitspolitik.

Der aktuelle Jahresbericht 2019 des in Wien ansässigen International Narcotics Control Board (INCB), der Watchdog-Organisation der Vereinten Nationen, die über die Einhaltung der internationalen Drogenkonventionen wacht, beschäftigt sich thematisch schwerpunktmäßig mit „Improving substance use prevention and treatment services for young people“ (INCB 2020, Kap. I). Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung dieses Berichts am 27. Februar 2020 entgegnete der neue Präsident des INCB, Cornelis P. de Joncheere, auf die Frage des Autors, ob denn die neuerdings erweiterten Interpretationsspielräume für die Konventionen die Arbeit des INCB nicht erschweren würden, unter anderem: „Wir könnten wohl noch weitere 20.000 Substanzen kontrollieren und würden das Problem wahrscheinlich nicht lösen.“ In dieser hier frei übersetzten und ohne Kontext wiedergegebenen Antwort schwingt eine gewisse Resignation angesichts zunehmend dynamischer Herausforderungen mit – und implizit auch die Erkenntnis, dass neue Wege beschritten werden müssen, beziehungsweise die Bereitschaft, genau das zu tun.

Freilich: Das Terrain ist umkämpft. Während es noch vor wenigen Jahren stets vorrangig um strengere Gesetze und ihren konsequenten Vollzug ging, hat bereits Stück für Stück ein neuer Diskurs mit gesundheitspolitischem Fokus an Einfluss gewonnen, wie er in einem Interview des Autors vom 15. Januar 2020 im Vienna International Centre mit dem Chef der Abteilung für Prävention und Gesundheit des Drogenkontrollprogramms der UN (United Nations Office on Drugs and Crime, UNODC), Gilberto Gerra, zum Ausdruck kam. Der Italiener Gerra gehörte selbst von 2004 bis 2007 dem INCB an, bevor er in seine aktuelle Position beim UNODC wechselte. Seit etwa 2007 bis 2009, so Gerra, habe sich der Blick auf Drogen gewandelt. Eine wissenschaftlichere Perspektive habe in zunehmendem Maße alte Glaubenssätze abgelöst. Auch die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) habe ihren Blick auf Drogen stärker geöffnet. Parallel zu dieser Öffnung habe es auch wichtige Fortschritte in der Wissenschaft gegeben, sagt der Neuroendokrinologe und Suchtforscher. „From coercion to cohesion“ – vom Zwang zum Zusammenhalt – laute heute das Motto eines neuen Politikansatzes, der von immer mehr Mitgliedsstaaten akzeptiert werde. Mit dem gleichen Ansatz habe man erfolgreich für Maßnahmen im Bereich „harm reduction“ geworben. Der Ansatz, so Gerra, gehe hier noch weiter: Nicht nur mit sterilen Nadeln wolle man helfen, sondern mit Decken und Tortellini: „harm reduction“ als ideologiefreier, umfassender Ansatz – eben im Sinne von cohesion oder sozialer Inklusion. Gerra abschließend: „We need a new generation to implement these approaches.“

Noch beschränkt sich dieser Wandel weitestgehend auf den Diskurs, wie ganz aktuell die Absicht der kolumbianischen Regierung zeigt, zur Besprühung von Kokafeldern mit Glyphosat aus der Luft zurückzukehren.Footnote 1 Wie geradezu revolutionär dieser (noch weitgehend rhetorische) Aufbruch zu neuen, drogenpolitischen Ufern in historischer Perspektive ist, mag folgendes Zitat aus den Hochzeiten der Drogenkriegsdebatte in Washington veranschaulichen, wo es noch um obligatorische Mindeststrafen für den bloßen Besitz und generell eine Politik der harten Hand ging. Der Abgeordnete Henry J. Hyde aus Illinois beklagte sich in einem Hearing im Auswärtigen Ausschuss des US Repräsentantenhauses darüber, dass man in Vietnam einen Krieg ohne Kriegserklärung gehabt habe, beim Drogenkrieg in den Anden aber eine Kriegserklärung ohne Krieg und er empfahl:

Ich war vor einigen Jahren dort [in Malaysia, Anmerkung des Autors]. Zwei Australier wurden am Flughafen geschnappt und hingerichtet. Die Queen von England trat für eine Begnadigung ein, ich glaube auch der Papst. Aber Malaysia richtete sie hin. Darin liegt eine große Therapie. (Hyde, zit. n. U.S. House of Representatives Committee on Foreign Affairs 1989, S. 40–41, eigene Übersetzung)

Dazwischen liegen nicht nur drei Jahrzehnte. Es handelt sich vielmehr um zwei grundverschiedene Menschenbilder. Der vorliegende Essay zeichnet die Entwicklung und ihre Triebkräfte nach und zeigt Perspektiven auf.

2 Drogenkontrolle heute: State of the Art

Die internationale Drogenkontrolle wird von drei UN-Konventionen geregelt. Basisabkommen ist die UN Single Convention on Narcotic Drugs von 1961 (UN 1972). Ihr Ziel ist es, die Verfügbarkeit psychoaktiver Substanzen für den medizinischen Gebrauch zu gewährleisten, ihn gleichzeitig aber auf medizinische oder wissenschaftliche Verwendungszwecke zu begrenzen. Sie wird ergänzt durch die Convention on Psychotropic Substances von 1971 (UN 1971) und die Convention Against Illicit Traffic in Narcotic Drugs and Psychotropic Substances von 1988 (UN 1988), die auch als Wiener Konvention bezeichnet wird.

Der Gebrauch und Missbrauch von Drogen ist ein jahrtausendealtes gesellschaftliches Phänomen. Internationale Drogenkontrolle war eine Antwort auf den grenzüberschreitenden Charakter des Handels mit psychoaktiven Substanzen wie Opium bzw. Heroin, Kokain und Cannabis im 19. Jahrhundert – und sie spiegelte stets auch internationale Interessen und Machtverhältnisse wider. Das bekannteste historische Beispiel waren die beiden Opiumkriege (von 1839 bis 1842 und von 1856 bis 1860), in deren Ergebnis sich britische Freihandelsinteressen gegen den chinesischen Versuch einer Kontrolle bzw. eines Verbots der Opiumeinfuhren durchsetzten; nebenbei bröckelte die Hegemonie Chinas im asiatischen Raum und Hongkong wurde britisch.

Vor allem in den USA – wo man in einer puritanistischen Denktradition den Konsum von Alkohol und Drogen stets als etwas unamerikanisches, von außen hereingetragenes sah – hatte es bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erste Verbotsbestrebungen (Temperence Movement, Liga gegen den Saloon) und lokale Verbote, insbesondere gegen Rauchhäuser oder Opiumhöhlen gegeben (Lessmann 1996, S. 26–35; Musto 1987). Im Rahmen der Internationalen Opiumkommission, die 1909 in Shanghai zusammenkam, traten vor allem die USA und China für Handelsbeschränkungen ein und trafen damit auf den Widerstand der Kolonialmächte, aber auch des Deutschen Reichs mit seiner pharmazeutischen Industrie. Die Haager Opium Konvention von 1912 – das erste Abkommen dieser Art – sah kein Verbot von Anbau oder Konsum vor und war mehr regulierend als prohibitiv. Erste Verbote waren in der Genfer Convention for the Suppression of the Illicit Traffic in Dangerous Drugs aus dem Jahr 1936 vorgesehen, die jedoch nur von 13 Staaten unterzeichnet wurde und bei Inkrafttreten 1939 von den Kriegsereignissen zur Bedeutungslosigkeit verdammt wurde (Jelsma 2010, S. 2–3; Bewley-Taylor 2011, S. 2–5).

Erst die Single Convention on Narcotic Drugs der UN von 1961 verpflichtete die Mitgliedstaaten unter anderem erstmals zu umfassenden Verboten sogenannter Drogenpflanzen – auch traditioneller, wie dem Kokabusch – sowie des Besitzes der fraglichen Substanzen. Die Konvention von 1961 kennt nicht den Begriff illegale Drogen. Sie spricht von „kontrollierten Substanzen“ (eigene Übersetzung), die auf verschiedenen Listen geführt werden und damit vier unterschiedlich strengen Kontrollregimen unterliegen. Mit vielen dieser Substanzen gibt es durchaus auch einen legitimen und legalen Verkehr, sei es etwa für die Veterinärmedizin oder mit Opiaten für Schmerzmittel. Die Aufnahme oder Streichung einer Substanz in oder aus eine(r) dieser Listen obliegt der UN Commission on Narcotic Drugs (CND), die ihre Entscheidung auf der Basis eines Gutachtens der WHO trifft. Oberziel der Konvention ist es, die Verwendung dieser „kontrollierten Substanzen“ auf den medizinischen und wissenschaftlichen Gebrauch zu beschränken. Das historische Ziel, eine Einheitskonvention zu schaffen, wurde freilich verfehlt. Dieses Basisvertragswerk der internationalen Drogenkontrolle wurde im Jahr 1972 durch ein Protokoll erweitert und in den Jahren 1971 durch die Konvention über Psychotrope Substanzen sowie die Wiener Konvention von 1988 ergänzt. Letztere verschärfte noch einmal die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, mit Strafgesetzen gegen den unerlaubten Anbau, die Herstellung, den Besitz und Konsum kontrollierter Substanzen vorzugehen – letzteres nun auch explizit in Art. 3 § 2 (UN 1972). Zur Überwachung der Einhaltung der Konventionen wurde das INCB mit Sitz in Wien geschaffen. Die Verabschiedung dieser ergänzenden Konventionen an sich wie auch die modifizierten Prioritäten darin machen deutlich, dass sie sich auf eine sehr dynamische Problematik und sich verändernde Wahrnehmungen derselben beziehen.

Die UN schätzen die Zahl der Konsumenten kontrollierter Substanzen heute auf 271 Millionen weltweit; bei 35 Millionen handelt es sich um „problematischen Konsum“; nur einer von sieben findet einen adäquaten Therapieplatz (UNODC 2019a, S. 7-8). Im Jahr 2017 starben daran etwa 585.000 Menschen gegenüber rund 200.000 noch vor weniger als einem Jahrzehnt; die meisten gesundheitlichen Komplikationen und Opfer sind in Verbindung mit dem Konsum von Heroin und anderen Opioiden zu beklagen, durch Überdosen, aber auch durch gesundheitliche Langzeitfolgen aufgrund des hohen Suchtpotenzials und durch Infektionen wie HIV oder Hepatitis (UNODC 2019a, S. 19). Das Infektionsrisiko mit HIV ist für Personen, die sich Drogen per Spritze verabreichen (people who inject drugs, PWID) 23-mal höher als im Durchschnitt, und mehr als 80 % der PWID haben oder hatten eine Hepatitis C-Infektion (UN system coordination task team on the implementation of the UN system common position on drug-related matters 2019, S. 16).Footnote 2

Ist die Welt im letzten halben Jahrhundert dem Oberziel der Konvention näher gerückt, den nichtmedizinischen Gebrauch kontrollierter Substanzen auszumerzen oder zumindest einzudämmen? Verfechter*innen des drogenpolitischen Status quo führen sogenannte no-events ins Feld: Ohne die strengen Bestimmungen, so argumentieren sie, wäre alles noch schlimmer gekommen. Tatsache ist: Die Zahl der Drogenkonsument*innen steigt. Wie bereits erwähnt, schätzt man ihre Zahl heute weltweit auf 271 Millionen - gegenüber 247 Millionen 2014 (UNODC 2016a, S. 1). Das ist selbst unter Berücksichtigung des Bevölkerungswachstums deutlich mehr als zur Jahrtausendwende (141 Millionen 1999) – nahezu eine Verdoppelung. Allerdings sind in der Tat auch die Herausforderungen gewachsen. Waren es zur Zeit der Haager Konvention 7, so waren es zu ihrem hundertsten Geburtstag (2012) 234 „kontrollierte Substanzen“ – immerhin 2,75-mal mehr als 1961 bei der Verabschiedung der Single Convention (UNODC 2013, S. xi).Footnote 3 In den 1970er und 1980er Jahren war es – insbesondere in den westlichen Industrienationen, allen voran in den USA – zu einem rasanten Anstieg der Nachfrage nach bestimmten kontrollierten Substanzen gekommen: namentlich nach Cannabis, Heroin und Kokain, aber auch LSD. Dieser schlug sich in einem ebenso starken Anwachsen der Anbauflächen der pflanzlichen Ausgangsprodukte dieser Stoffe nieder und in der Herausbildung illegaler Verarbeitungs- und Vermarktungsketten.

3 Angebotsbekämpfung im Zeichen des war on drugs

Diesen in Kapitel 2 erwähnten Verarbeitungs- und Vermarktungsketten sowie dem Anbau galt jahrzehntelang das Hauptaugenmerk der internationalen Drogenbekämpfung unter der Führung von Washingtons war on drugs (Lessmann 1996, 2015). In den USA waren sowohl der Konsum kontrollierter Substanzen als auch die Sorge darum besonders groß. Im Vordergrund stand Kokain mit seiner rauchbaren und besonders aggressiven Variante Crack. Bereits im Jahr 1971 hatte US-Präsident Richard Nixon den Drogen den Krieg erklärt, doch erst unter Präsident Ronald Reagan (1981–1989) wurde aus der Kriegserklärung Ernst. Mit der Novellierung des Posse Commitatus Act im Jahr 1981 wurde die gesetzliche Grundlage für einen möglichen Einsatz der Armee im Kampf gegen den illegalen Drogenhandel geschaffen; dessen ursprüngliche Fassung aus dem Jahr 1878 hatte jeden Eingriff des Militärs in zivile Angelegenheiten untersagt (Lessmann 1996, S. 34). War diese Militarisierung zunächst auf die Versiegelung der Landesgrenzen (border interdiction) beschränkt, so erfolgte ab Mitte der 1980er Jahre die Externalisierung der US-Drogenkontrolle (Lessmann 1996, S. 26–70). Bereits seit 1978/1979 gibt es im State Department ein Bureau for International Narcotics Matters and Law Enforcement AffairsFootnote 4 (INL). Washington verlieh dem soft law der UN-Drogenkonventionen nunmehr im Alleingang Zähne und Klauen.

Drogen seien zu einer Bedrohung der nationalen Sicherheit geworden, erklärte US-Präsident Reagan in einer National Security Decision Directive zu Beginn des Jahres 1986 (Lessmann 1996, S. 40). Nachdem die border interdiction nicht den erhofften Erfolg gebracht hatte, hieß das Motto nun: Going to the source! Mit den Anti-Drogen-Gesetzespaketen von 1986 und 1988 wurden sogenannte drogenproduzierende Länder sowie wichtige Transitländer mit obligatorischen Sanktionen belegt, die der Präsident jeweils für ein Jahr aussetzen konnte (certification), wenn sie in der Drogenkontrolle kooperativ waren. Ein bedrohliches Damoklesschwert, mit dem es Washington weitgehend gelang, seinen Diskurs und teilweise sehr konkrete Maßnahmen in den betroffenen Ländern durchzusetzen. Mit der Wahrnehmung von Kokain als der Problemdroge Nummer eins waren dies zunächst vor allem die südamerikanischen Produzentenländer Bolivien, Kolumbien und Peru, wo es in der Folge zu einer US-Amerikanisierung und Militarisierung der Drogenkontrolle kam (Lessmann 1996, 2015). Diese war verbunden mit teilweise schwerwiegenden Eingriffen in die nationale Souveränität: Eingriffe in die nationale Gesetzgebung; Aufstellung, Ausrüstung und Training von paramilitärischen Spezialpolizeieinheiten; Einbeziehung des Militärs in die Drogenbekämpfung; Tätigkeit von US-Polizei- und Militärpersonal im Gastland auch in leitenden Funktionen; Entführung mutmaßlicher Drogenstraftäter in die USA; temporäre Militärinterventionen in Bolivien (Operation Blast Furnace, 1986) und Panama (Operation Just Cause, 1989–1990), bei letzterer soll es sich um das bis dato größte Luftlandeunternehmen seit dem Zweiten Weltkrieg gehandelt haben.

Mit der Andenstrategie (Lessmann 1996, S. 54–64) vom Januar 1990 wurde unter George Bush sen. insbesondere die Polizei- und Militärhilfe an Bolivien, Kolumbien und Peru drastisch erhöht. Gleichzeitig wurde das Budget für Anti-Drogen-Operationen des Southern Command der US-Streitkräfte in Panama von 230 Mio. US-$ auf 430 Mio. US-$ ausgeweitet, womit es höher lag als die gesamte reguläre Anti-Drogen-Hilfe, die 1990 im Rahmen der Andenstrategie bewilligt wurde. Mit einer National Defense Authorization war das Pentagon bereits im September 1989 zur „single lead agency“ bei der Entdeckung und Beobachtung illegaler Drogentransporte erklärt worden (Lessmann 2010, S. 381). In der Folge wurde der Andenraum mit einem hochmodernen System der Radarüberwachung überzogen. Elitesoldaten der U.S. Special Forces wurden in den Drogenkrieg einbezogen und mit Militär- und Geheimdienstpersonal besetzte Tactical Analysis Teams (heute meist Narcotics Action Section genannt) steuerten von der jeweiligen US-Botschaft aus die Drogeneinsätze im Gastland (Lessmann 1996, S. 54–64). Diese Eingriffe in die nationale Souveränität der betroffenen Länder haben dort zu Protesten und innenpolitischen Auseinandersetzungen geführt. In Bolivien wurde der Chef der machtvollen Gewerkschaften der Kokabauern, Evo Morales, im Herbst 2005 zum Präsidenten gewählt.

Die Ergebnisse von mehr als 35 Jahren Drogenkrieg unter der Regie Washingtons in Lateinamerika sind mehr als ernüchternd: Die Kokainproduktion, die ausgemerzt oder zumindest eingedämmt werden sollte, lag 2017 auf einem Allzeithöchststand von 1976 t (UNODC 2019b, Tab. 10, S. 68). Die Schwerpunkte des Kokaanbaus - 2017 waren es 245.400 ha - (UNODC 2019b, Tab. 8, S. 67) verlagerten sich in den 1990er Jahren von Bolivien und Peru nach Kolumbien und zwischendurch wieder zurück. Heute hat Kolumbien wieder einen Anteil von 70 % am Kokaanbau und der Kokainproduktion. Außengesteuerte Politiken der Kokavernichtung haben in den Anbauzonen zu Menschenrechtsverletzungen, politischen Unruhen und Todesopfern geführt. In Kolumbien kann man mit der besonders umstrittenen Besprühung von Kokafeldern mit Pflanzengift aus der Luft von einer regelrechten Bauernvertreibung sprechen (Lessmann 2010, S. 383–385).Footnote 5 Seit Präsident Ernesto Samper unter Korruptionsvorwürfen Washingtons im Jahr 1994 zur Einwilligung in das Besprühungsprogramm gedrängt wurde, hat man in Kolumbien rund 2 Mio. ha Koka vernichtet, weit mehr als das Zehnfache des historischen Maximums der Anbaufläche (163.000 ha im Jahr 2000; 171.000 ha im Jahr 2017). Bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 48 Millionen Menschen sind in Kolumbien 6,9 Millionen Menschen auf der Flucht – vor allem wegen des Bürgerkriegs. Kolumbien ist damit zusammen mit Syrien das Land mit den meisten Binnenflüchtlingen (UNHCR 2016). Die Politik der Kokavernichtung ohne Nachhaltigkeit hat zu dieser unfreiwilligen Mobilität in Kolumbien beigetragen.

Die Projektarbeit im Rahmen der Alternativen Entwicklung hat andererseits gezeigt: Kokabauern sind in aller Regel bereit, auch Einkommenseinbußen hinzunehmen, wenn sich im Gegenzug Lebensqualität und vor allem Lebenssicherheit erhöhen (Dietz et al. 2001; UNODC 2015, S. 77–118). Doch obwohl noch alle Strategien als balanced approach – im Sinne einer ausgewogenen Mischung von Repression, Prävention, Therapie und Alternativer Entwicklung – bezeichnet wurden, standen doch stets polizeilich-militärische Maßnahmen im Vordergrund, war die Alternative Entwicklung in den meisten Fällen nur Beiwerk.

Die konstante Verlagerung des Anbaus führte zu ökologischen Schäden beträchtlichen Ausmaßes, wie das Abholzen (sub-)tropischer Wälder, Bodenerosion und die Vergiftung von Erdreich und Gewässern durch die zur Weiterverarbeitung notwendigen Chemikalien. Da es dabei um langanhaltende oder bleibende Schäden geht, handelt es sich bei genauerer Betrachtung auch nicht einfach um eine Verlagerung, sondern um eine Ausbreitung der Probleme. Nicht nur im ökologischen Bereich: Stand Kolumbien vor 20 Jahren beispielsweise im Brennpunkt der Gewalt der Drogenkartelle, so haben sich inzwischen die Schaltzentralen des Kokaingeschäfts nach Mexiko verlagert, wo seit der Einbeziehung des Militärs im Jahr 2006 zwischen 200.000 und 250.000 Todesopfer im Drogenkrieg zu beklagen sind. Doch weiterhin werden zwei Drittel aller Kokainlaboratorien in Kolumbien entdeckt und zerstört.

Eine Sache sind internationale Konventionen und diplomatische Erklärungen der Völkergemeinschaft, eine andere die konkrete Politik vor Ort. Dieser Exkurs in die Geschichte der angebotsorientierten Dogenbekämpfung skizzierte die Hintergründe, die gerade lateinamerikanische Länder dazu führten, nach Reformen zu suchen und eine Sondergeneralversammlung der UN zum Thema Drogen zu beantragen.Footnote 6 Um die Dominanz der USA in der Drogenpolitik auch quantitativ vor Augen zu führen: Das Budget des UNODC liegt bei 373,7 Mio. US-$ received bzw. 240,7 Mio. US-$ expenditures (UNODC 2017). Das Drogenbudget der USA lag im Fiskaljahr (fiscal year, FY) 2016 bei insgesamt 31,1 Mrd. US-$, dessen internationale Komponenten bei 1,549 Mrd. US-$ – also rund viermal so hoch. Das Budget für internationale Aktivitäten verteilt sich auf Verteidigungsministerium (Department of Defense, DoD: 567,1 Mio. US-$), Justizministerium (Drug Enforcement Administration, DEA: 467,9 Mio. US-$) und Außenministerium (Bureau for International Narcotics Matters and Law Enforcement Affairs, INL: 382,.4 Mio. US-$ und U.S. Agency for International Development, USAID: 131,9 Mio. US-$) (Office of Management and Budget 2016).Footnote 7

Washingtons war on drugs verdeutlicht, wie sehr Politiken der Drogenbekämpfung in mancherlei Hinsicht selbst zu einem Problem geworden sind. Er wurde unilateral über den Hebel von Sanktionsdrohungen implementiert. Die Externalisierung der Anti-Drogen-Politik fügte sich dabei nicht nur auf der Ebene des politischen Diskurses in größere außenpolitische Zusammenhänge ein. Hatte der war on drugs nach dem Ende des Kalten Kriegs bestimmten außenpolitischen Kreisen und einzelnen Waffengattungen als Argument für ihre Legitimation und Budgetforderungen gedient, so war es später der war on terror. Ende des letzten Jahrzehnts (FY 2010) erhielten mit Afghanistan (272,5 Mio. US-$) und Kolumbien (244,6 Mio. US-$) zwei Schlüsselländer im sogenannten Krieg gegen den Terror zusammen mehr als 50 % des INL-Gesamtbudgets von 878,7 Mio. US-$ (Lessmann 2010, S. 394).

Dieser teilweise sogar militärische Ansatz der Angebotsbekämpfung führte allenfalls zu einer Verlagerung, streng genommen sogar zu einer Ausbreitung und Verschlimmerung der Probleme – bei sehr hohen ökologischen, sozialen und politischen Kollateralschäden (Lessmann 2016). Und ohne hier ähnlich ausführlich auf die Details eingehen zu können: Beim Schlafmohn (Opium, Heroin) ist die Sache nicht besser. 18 Jahre nach dem Beginn der Operation Enduring Freedom im Oktober 2001 und nach mehr als einem Jahrzehnt westlicher Sicherheitskooperation ist die Sicherheitslage in Afghanistan mehr als prekär und das Land beherbergt annähernd 80 % des weltweiten Schlafmohnanbaus, der sich mit 345.000 ha noch immer auf einem Rekordhoch befindet (gegenüber 2017 mit 414.000 ha aktuell nur durch eine Dürre und Preisverfall wegen Überproduktion in Afghanistan etwas eingebremst) (UNODC 2019b, Tab. 5, S. 62–63). Ein Fiasko!

4 Herausforderungen für Rechtsstaatlichkeit, Staat und Gesellschaft

Vor dem Hintergrund des umfassenden prohibitionistischen Ansatzes der internationalen Drogenkontrolle bildeten sich mit dem in diesem Umfang bisher ungekannten Nachfragesog der 1960er, 1970er und 1980er Jahre illegale Vermarktungsketten von den Anbauzonen bis zum Straßenverkauf heraus. An den Schaltzentralen des illegalen Geschäfts entstanden mächtige kriminelle Organisationen, vergleichbar mit dem Anwachsen der Mafia in den Vereinigten Staaten während der Alkoholprohibition (1919–1933). Hier liegen die Hauptgefahren für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie – nicht nur in den sogenannten institutionell schwachen Staaten. In den 1970er bis in die 1990er Jahre hinein konnte die Cosa Nostra mit ihren Gewinnen aus dem Heroinschmuggel in die USA (Pizza Connection) die Stabilität eines G7-Landes und der viertgrößten Volkswirtschaft in Europa herausfordern. Auf diese Ebene sollte sich der Gesetzesvollzug konzentrieren, dessen Organe – Polizei und Justiz – gestärkt und gegen Korruption so gut wie möglich immunisiert werden müssen. Es muss um die Zerschlagung krimineller Strukturen gehen und ihres Daseinszwecks: durch die Verringerung von Extraprofiten, die durch unzweckmäßige Rechtsnormen überhaupt erst ermöglicht werden, und durch die Beschlagnahmung von Werten (Stichwort: Geldwäsche).

Das UNODC hat im Herbst 2011 eine Studie über Geldwäsche vorgelegt (UNODC 2011). Ihr globales Volumen dürfte nach den Schätzungen der UN bei jährlich 1,2–1,6 Bio. US-$ liegen, wovon etwa 320 Mrd. auf den globalen Drogenhandel entfallen. Man vermutet weiter, dass davon weniger als 1 % entdeckt und beschlagnahmt werden, vielleicht eher 0,2 %. Zahlen, die sowohl die Dimension als auch die Vernachlässigung dieses Feldes deutlich machen. Konkrete Maßnahmen gegen Geldwäsche verstehen sich bisher fast ausschließlich als Mechanismen der Finanzmarktaufsicht und nicht als Instrument zum Aufspüren und Zerschlagen krimineller Organisationen. Die internationale Drogenkontrolle war bisher ebenso einseitig wie erfolglos auf die Unterbindung von Konsum, Produktion und Bereitstellung ausgerichtet. Dabei stellt der illegale Drogenhandel sozusagen das Rückgrat des Organisierten Verbrechens dar – allen voran der mit Kokain, der deutlich besser organisiert und zentralisiert ist als andere Sparten.

Das illegale Unternehmen arbeitet in der Klandestinität und bedient sich zur Durchsetzung seiner Interessen vorzugsweise der Korruption, und erst in zweiter Linie der (Drohung mit) Gewalt. Diese richtet sich nach Bedarf gegen untreue Geschäftspartner, Konkurrenten, staatliche Organe, wie Richter*innen, Staatsanwält*innen, Polizist*innen und Politiker*innen, sowie unliebsame Journalist*innen. In seltenen Fällen kommt es zu direkten Konfrontationen mit dem Staat. Der bekannteste Fall sind wohl die Zusammenschlüsse kolumbianischer Drogenhändler (Medellín-Kartell) und ihre Bomben- und Entführungskampagne gegen ein Auslieferungsabkommen mit den USA Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre.

Durch die extrem hohen Gewinnspannen stellen Drogengeschäfte sozusagen das Rückgrat der transnationalen Organisierten Kriminalität dar. Andererseits finanzieren sich bewaffnete Aufständische aus Drogengewinnen, und die Grenzen zwischen beiden Phänomenen verschwimmen, ob es sich nun um den peruanischen Sendero Luminoso handelt, die FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) in Kolumbien, die Taliban in Afghanistan oder al-Qaida im islamischen Maghreb.

5 Neue Herausforderungen, neue Unübersichtlichkeit

Internationale Drogenmärkte und ihre Produktpalette sind im letzten Jahrzehnt erheblich komplexer und unübersichtlicher geworden – und damit auch die mit ihnen verbundenen Probleme. Dazu gehört die Vielfalt von neuen, im Labor hergestellten Substanzen: New Psychoactive Substances (NPS), Amphetamin-type Stimulants, Legal Highs. Seit 2009 wurden den UN 803 neue NPS gemeldet – das sind rund dreimal so viel, wie kontrollierte Substanzen in der Liste der UN-Konventionen aufgeführt sind; seit 2015 wurden 39 davon unter das Kontrollregime der Konventionen gestellt (UN system coordination task team on the implementation of the UN system common position on drug-related matters 2019, S. 36).

NPS drängen mit bisher ungekannter Schnelligkeit und Vielfalt auf die Märkte, doch nur wenige schaffen es, sich dort auch regional auszubreiten und über längere Zeit zu halten. Gleichwohl ist es schwierig, den Überblick zu behalten, gerade auch was ihr jeweiliges Risikopotenzial betrifft. Sie sind häufig leichter herzustellen und schwieriger zu kontrollieren. Länder- oder kontinentübergreifende Transaktionen sind zumeist unnötig, die Zugriffsmöglichkeiten für die Exekutive insofern geringer. Doch während man erwartet hatte, dass sie die klassischen, pflanzengestützten Substanzen verdrängen könnten, ist dies offenbar nicht der Fall. Sie stellen vielmehr eine Erweiterung und Ergänzung des Angebots dar.

Heute treten mit der sogenannten Opioid-Krise verstärkt wieder Probleme mit dem Konsum verschreibungspflichtiger Substanzen auf, sei es aus illegaler Herstellung oder durch Abzweigen aus den legalen, kontrollierten Vermarktungsketten. Die Zahl der bekannten synthetischen Opioide (meist fentanyl-analog) ist von einer Substanz (2009) über 15 (2015) auf 46 (2017) angewachsen (UNODC 2019a, S. 11). In den USA schätzt man die Zahl der Menschen, die pharmazeutische Opioide auf nichtmedizinische Weise nutzen, auf 10,5 Millionen Menschen (UNODC 2019c, S. 17). Eine wichtige Ursache lag in der exzessiven Verschreibung in den 2000er Jahren, die den Weg in Missbrauch und Abhängigkeit ebnete. Im Jahr 2017 starben in den USA 70.237 Personen allein an Opioid-Überdosen – ein Anstieg um 10 % gegenüber dem Vorjahr; in Kanada waren es 3998, ein Anstieg um 33 % (UNODC 2019b, S. 30). Während das Opioid- bzw. /Fentanyl-Problem sich klar auf Nordamerika konzentriert, geben größere Beschlagnahmungen auch in Europa Anlass zur Sorge. Nicht kontrollierte Fentanyl-Analoge werden dort als Pulver, Tabletten, Injektionen oder Nasenspray im Internet angeboten (UNODC 2019c, S. 61–62). In Afrika gibt es Probleme mit dem nichtmedizinischen Konsum von Tramadol, das nicht unter internationaler Kontrolle steht (UNODC 2019c, S. 23–24).

„Globale Drogenmarktplätze im Darknet unterlaufen die jahrzehntelangen Bemühungen zur Einhaltung der Prohibition und polizeilicher Kontrolle des Drogenangebots“, schreibt Meropi Tzanetakis (2019a, S. 15) in der Einleitung des von ihr mitherausgegebenen Bandes Drogen, Darknet und Organisierte Kriminalität (Tzanetakis und Stöver 2019a). Drogenvermarktung im Internet ist ein sehr junges, kaum ein Jahrzehnt altes Phänomen; ein schnell wachsendes mit (noch) geringer Reichweite. Es überwiegt der Kleinhandel. Die Zustellung der Ware erfolgt über konventionelle Post- oder Kurierdienste. Für die Konsument*innen bietet sie eine grenzenlose, nahezu ständige Verfügbarkeit einer größeren Auswahl von Produkten und Händlern, in der Regel besserer Qualität (Reinheit) der Substanz, bei niederschwelligem Zugang durch Anonymität (besser: Pseudonymität). Diskussionsforen ermöglichen eine gewisse Anbieterqualitätskontrolle.

Eine Untersuchung der ehemals größten Plattform Alpha Bay durch Tzanetakis ergab: Zwischen September 2015 und August 2016 waren dort 2200 Händler mit 12.000 Drogenangeboten und einem geschätzten Umsatz von 94 Mio. US-$ aktiv. Nur 5 % der Händler*innen hatten einen Umsatz über 200.000 US-$ gemacht (Tzanetakis 2019b, S. 129–130). Einer anderen Untersuchung des Kryptomarkts Agora zufolge beliefen sich 90 % der Transaktionen dort im Untersuchungszeitraum (Februar 2014–April 2015) auf weniger als 300 US-$ (Martin 2019, S. 215). Es handelt sich um ein Phänomen, das bisher de facto auf den globalen Norden limitiert ist; die Akteure sind überwiegend weiß und männlich, zwischen 20 und 40 Jahre alt, gehen einer Erwerbstätigkeit nach oder absolvieren eine Hochschulausbildung und sind technologisch gebildet. Die populärsten Drogen im Darknet sind Cannabis, Ecstasy und Kokain (Tzanetakis und Stöver 2019b, S. 272).

Beratungsstellen müssen sich in der Zukunft auf eine Zunahme der Darknet-Nutzung mit ihren Vor- und Nachteilen einstellen und ihre Mitarbeiter*innen entsprechend schulen (Löhner und Rösler 2019, S. 229–233). Dazu gehöre beispielsweise die Sensibilisierung für eine Honeymoon-Phase bei neuen Nutzer*innen, die angesichts eines üppigen Angebots zu vermehrten Einkäufen neigen. Riskantere Substanzen sind oft nur einen Klick weit entfernt. Es gelte, neue Wege zur Selbstkontrolle und Konsumkontrollstrategien aufzuzeigen. Andererseits macht die Verstetigung des Angebots Hamsterkäufe überflüssig. Man solle zur Nutzung von Diskussions- und Nutzerforen sowie zur Wahrnehmung onlinegestützter Beratungsangebote (wie drugscouts.de, mindzone.de, drugcom.de sowie breaking-meth.de – eine peer-basierte Drogenkommunikation) anregen (Löhner und Rösler 2019).

Das vor einem halben Jahrhundert geschaffene Kontrollsystem hat sich im Sinne der klassischen Herausforderungen allenfalls als begrenzt erfolgreich erwiesen. Angesichts der neuen Herausforderungen durch NPS stößt es mit seinen Listen kontrollierter Substanzen an klare Grenzen. Prävention und Therapie scheinen in dieser Situation zunehmend erfolgversprechender als Verbot und Kontrolle.

6 UNGASS 2016: Reformdebatten und Perspektiven

Seit den 1970er Jahren gibt es Ansätze, aus dem prohibitionistisch-punitiven Korsett der UN-Konventionen auszubrechen – vor allem in Westeuropa. Diese hatten zum Ziel: 1) eine Trennung der Märkte für harte und weiche Drogen (z. B. Coffeeshops in den Niederlanden); 2) harm reduction (ursprünglich im Zusammenhang mit HIV-Infektionen); 3) strafrechtliche Verhältnismäßigkeit (Straffreiheit für die persönliche Dosis, z. B. Deutsche Bundesländer, Strafrechtsreform in Portugal). Eine härtere Version partieller Desertationen stellen die Modelle für den medizinischen Gebrauch von Cannabisprodukten bzw. die Legalisierungsmodelle in inzwischen mehr als der Hälfte der US-Bundesstaaten dar.

Einen offenen Bruch als Nationalstaaten wagten schließlich zwei lateinamerikanische Länder. Bolivien definierte in Artikel 384 seiner neuen Verfassung vom Januar 2009 das Kokablatt als schützenswertes, andines Natur- und Kulturgut. Präsident Evo Morales reiste daraufhin im März 2009 nach Wien zur CND, nicht um, wie viele erwartet hatten, eine Streichung des Kokablattes aus der Liste der kontrollierten Substanzen der Konvention von 1961 zu fordern, sondern nur die Aufhebung zweier Unterparagraphen (Art. 49 § 1 c und Art. 49 § 2 e), die ein Verbot von Anbau und Konsum verlangen. Auch dieses Anliegen wurde schließlich abgelehnt, so dass Bolivien in einem einmaligen Präzedenzfall aus der Konvention aus und gleichzeitig mit Vorbehalt gegen diese beiden Unterparagraphen 2013 wieder eintrat. Im Dezember 2013 verabschiedete das Parlament in Uruguay ein Gesetz zur kontrollierten Produktion und Abgabe von Cannabis. Kanada folgte als zweites Land im Jahr 2018; Mexiko hat eine geplante Reform in dieser Hinsicht im Herbst 2019 verschoben.

Die Unzufriedenheit über die mangelhaften Ergebnisse und die hohen Kollateralschäden des Drogenkriegs in Lateinamerika führten im Jahr 2009 zur Gründung einer Latin American Commission on Drug Policy durch die Expräsidenten Ernesto Zedillo (Mexiko), César Gaviria (Kolumbien) und Fernando Enrique Cardoso (Brasilien), die bereits zwei Jahre später zu einer Global Commission mutierte und die Unterstützung von Persönlichkeiten wie dem ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan und dem früheren US-Präsidenten Jimmy Carter genoss. Zu ihren Kernforderungen gehörte ein Ende der Stigmatisierung von Drogennutzern; die Macht der Organisierten Kriminalität zu untergraben; Gesundheit und Sicherheit der Bürger zu schützen; Schadensbegrenzung auch gegenüber den bäuerlichen Produzenten auf der Angebotsseite; intelligente Präventionsprogramme; Reduzierung der Gewalt und Fokussierung repressiver Politiken auf gewalttätige, kriminelle Organisationen. „Korruption und Gewalt, die mit dem Drogenhandel verbunden sind, stellen eine ernste Gefahr für die Demokratie in unserer Region dar“, schrieb der frühere Dependenztheoretiker und brasilianische Präsident Fernando Enrique Cardoso in einem Zeitungsbeitrag. Die damit verbundenen Probleme seien schwerwiegender als jene, die durch die Drogen selbst hervorgerufen werden (zit. n. Lessmann 2017, S. 30–31).

Die Initiative für eine Sondergeneralversammlung der UN (Special Session of the United Nations General Assembly, UNGASS) zum Thema Drogen ging von einer gemeinsamen Erklärung Kolumbiens, Mexikos und Guatemalas vom Oktober 2012 aus. Während der Vorbereitung dazu wurde deutlich, wie sehr der vielbeschworene Wiener Konsens in der Drogenpolitik brüchig geworden war. Das begann schon mit der Skepsis gegenüber den in Wien ansässigen UN-Unterorganisationen (CND, INCB, UNODC), die im Ruf standen, eher konservative Positionen zu vertreten, und manifestierte sich in Debatten über die Reichweite der UNGASS-Konferenz. Sollte sie die globale Strategie der Drogenkontrolle und möglicherweise auch ihr Fundament, die drei UN-Drogenkonventionen, in Frage stellen? Oder sollte es nur darum gehen, das bestehende Instrumentarium konsequenter anzuwenden (Lessmann 2017, S. 29–41)? Ersteres beabsichtigten die Initiator*innen von UNGASS, doch trat Lateinamerika keineswegs als geschlossener Block in Erscheinung. Sehr geschlossen und mit einem klaren gesundheitspolitischen und menschenrechtlichen Fokus (insbesondere der Ablehnung der Todesstrafe bei Drogendelikten) traten dagegen die Länder der Europäischen Union auf. Insofern trafen sie sich mit den lateinamerikanischen Reformern, teilten aber deren Priorität im Hinblick auf die Bekämpfung drogenbezogener Gewalt, Organisierter Kriminalität und Korruption so nicht und betonten, die „starke und unzweifelhafte Verpflichtung auf die UN-Konvention aufrecht zu erhalten“, in deren Rahmen es genügend Raum und Flexibilität gebe, um eine große Bandbreite unterschiedlicher Ansätze unterzubringen (zit. n. Lessmann 2017, S. 35). Das deckte sich mit der Position Washingtons, der es vor allem um die Beibehaltung der Konventionen ging – bei allgemein geringerer Sichtbarkeit als gewohnt (vielleicht wegen der Widersprüche zwischen den Politiken einzelner Bundesstaaten zu jener Washingtons).

Die Vorbereitung der UNGASS-Konferenz zeichnete sich daneben durch eine Öffnung des UN-Systems aus. War das Thema Drogen bisher den in Wien ansässigen, einschlägigen UN-Organisationen sowie der WHO vorbehalten, so traten nun insbesondere das Joint United Nations Programme on HIV/AIDS und der UN-Hochkommissar für Menschenrechte mit teilweise sehr kritischen Beiträgen in Erscheinung. Zudem wurden wie nie zuvor Organisationen der Zivilgesellschaft gehört. Auch hier standen gesundheitspolitische und menschenrechtliche Prioritäten im Vordergrund. Im Rahmen dieser Reformkonjunktur traten nun auch das UNODC und das INCB mit einer veränderten Tonlage hervor, was sich beispielsweise in der Verwendung des jahrelang von Washington mit Veto belegtem Ausdruck harm reduction oder in der Empfehlung der Bereitstellung von Naloxon zur Vermeidung der Folgen von Heroin- oder Opioid-Überdosen niederschlug. Völlig neu war in diesem Zusammenhang die wiederholte und explizite Distanzierung vom Drogenkrieg und seiner Sprache.Footnote 8

Drogenpolitik ist auf nationaler Ebene selten ein Karrieresprungbrett. Personalfluktuationen sind häufig. Das Thema wird zudem von unterschiedlichen Ministerien behandelt: mal ist es Gesundheit, mal Inneres, mal Justiz. Oft sprechen die Delegierten nicht dieselbe Sprache. Demgegenüber haben die Mitarbeiter*innen der UN-Bürokratien mitunter eine jahrzehntelange Sachkompetenz und Erfahrung erworben, die sich im Zuge der Reformkonjunktur zunehmend Gehör verschafft. Es besteht Hoffnung, dass der Funke verstärkt auf die letztlich maßgeblichen Delegierten der Mitgliedsländer überspringt.

Die Ergebnisse der UNGASS Abschlusserklärung (UNODC 2016b) wurden zunächst eher mit Skepsis und Enttäuschung aufgenommen. Von den Kernforderungen der lateinamerikanischen Reformer*innen wurden nur wenige berücksichtigt, beispielsweise die Forderung nach verbessertem Zugang zu Schmerzmitteln auch in ärmeren Ländern; zu fast 80 % sind sie in Nordamerika und Europa verfügbar. Initiativen zur Unterbrechung des Ressourcenflusses an kriminelle Organisationen blieben aus. Perspektiven im Hinblick auf eine Entkriminalisierung oder Legalisierung kontrollierter Substanzen wurden nicht eröffnet, auch nicht bezüglich jahrhundertealter Traditionen wie dem Gebrauch von Kokablättern, Peyote oder Marihuana in indigenen Kulturen. Und schon gar nicht bezüglich der sogenannten harten Drogen. Die Konventionen wurden nicht in Frage gestellt. Hinweise auf Schwächen im System unterblieben. Andererseits wird aber die Flexibilität der Konventionen gegenüber unterschiedlichen Politikansätzen hervorgehoben. Das impliziert die nachträgliche Anerkennung der erwähnten stillschweigenden Desertationen und – wenn man so will – die Einladung zu weiteren, mit der Gefahr, dass das Regelwerk, das auf diese Weise erhalten werden soll, zunehmend obsolet wird.

Freilich gibt es nicht das Drogenproblem, sondern eine Vielzahl von Situationen und Problemen im Zusammenhang mit Drogenkonsum, so dass die Abkehr von einem One Size Fits All-Ansatz durchaus sinnvoll erscheint. Mit einer gesundheitspolitischen Priorität (Prävention und Therapie) trifft man den neuralgischen Punkt und setzt auf der Konsumseite dort an, wo die eigentlichen Probleme liegen. Man hilft den Betroffenen und trägt damit indirekt dazu bei, den illegalen Markt auszudünnen. Hardcore-Konsumenten und Suchtkranke stellen nämlich eine verlässliche und relativ preisunelastische Dauernachfrage dar. So verbrauchen beispielsweise in den USA ein Viertel der Kokainkonsument*innen zwei Drittel des geschätzten Angebots (UNODC 2016a, S. 41–42).

Der Ansatz werde „more balanced“ – als ob nicht jeder approach in den letzten drei Jahrzehnten mit dem Prädikat ausgewogen beworben worden wäre. Auf der Angebotsseite im globalen Süden läuft die noch immer maßgebliche US-Politik auf Autopilot und man darf más de lo mismoFootnote 9 erwarten, wie die geplante Rückkehr zur Politik der Besprühung von Kokafeldern mit Glyphosat aus der Luft in Kolumbien zeigt. Reformen sind dort weiterhin eher als individuelle Desertationen zu erwarten.

Nie zuvor hat es andererseits einen derart breiten Diskussionsprozess um die internationale Drogenpolitik gegeben und nie zuvor waren neben den Repräsentant*innen der UN-Mitgliedstaaten auch Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und anderer UN-Unterorganisationen in diesem Maße an der Debatte beteiligt. Mit der Kontextualisierung der internationalen Drogenpolitik im Rahmen der Sustainable Development Goals (SDGs)/ Agenda 2030 sollte die Kontinuität dieser Öffnung gewährleistet sein. Ausdruck dessen ist eine sogenannte common position der mit der Materie befassten UN-Unterorganisationen vom März 2019, in der die Tendenz weg von der alten Priorität von Verbot und Strafe hin zu effektiven Gesundheitsdienstleistungen unterstrichen wird. Drogenpolitik ist auch hier eingebettet in die SDGs. Im Rahmen dieser neuen Konjunktur steigen die Chancen, Unterstützung für einschlägige Programme und Budgets – auch für Forschungen – zu bekommen, auch wenn jenseits der Rhetorik konkrete Ergebnisse noch spärlich sind.Footnote 10

Zu optimistischen Ausblicken in dieser Hinsicht gab das in Kapitel 1 erwähnte Interview vom 15. Januar 2020 im Vienna International Centre mit dem Chef der Abteilung für Prävention und Gesundheit des UNODC, Gilberto Gerra, Anlass. Mit einer wissenschaftlicheren Perspektive und einem stärkeren Engagement der WHO habe sich der Blick auf Drogen gewandelt. In stärkerem Maße seien nunmehr Gesundheitspolitiker*innen zu „counterparts“ des UNODC geworden, während es in früheren Jahren eher Innen- und Justizministerien waren. Auch stehe man nicht mehr so stark wie vormals unter „totaler Kontrolle durch eines der Mitgliedsländer“ (eigene Übersetzung). Parallel zu dieser Öffnung habe es auch wichtige Fortschritte in der Wissenschaft gegeben, sagt der Neuroendokrinologe und Suchtforscher. Das UNGASS-Schlussdokument definiere Abhängigkeit nunmehr als „multifactorial disorder“, was freilich noch immer schwer gegen totalitäre Ansätze oder (post-) totalitäre Regime durchzusetzen gewesen sei. „From coercion to cohesion“ – vom Zwang zum Zusammenhalt – laute heute das Motto eines neuen Politikansatzes, der von immer mehr Mitgliedstaaten akzeptiert werde. So habe beispielsweise China mit dem UNODC 760 Rehabilitationszentren eingerichtet – ein Land, das wegen der Zwangseinweisung von Drogenkonsumenten in Internierungs- und Arbeitslager in der Kritik stand und steht. Die Chinesen habe er mit der Rückfallquote überzeugen können, die beim herkömmlichen System der Zwangstherapie bzw. -arbeit bei 89 % liege. Auch Vietnam und Kambodscha würden sich heute öffnen. Das Problem sei aber ein Ungleichgewicht zwischen den gewandelten Diskursen und Einsichten und den Budgets, die nach wie vor zu gering seien. So gebe es beispielsweise in Indonesien und Kenia heute die Bereitschaft, Gefängnisstrafen durch Behandlung zu ersetzen, doch es fehlten dazu die nötigen Einrichtungen. Übrigens setze sich Kanada gerade dafür ein, dass das UNODC eine Studie über die negativen Auswirkungen einer Stigmatisierung von Drogenkonsumenten durchführt.

Im Rome Consensus 2.0 – Towards Humane and Effective Drug Policies vom November 2019 fordern NGOs: „We know what can be done to prevent and treat problems associated with drug use, but this is a crisis of political will, funding and capacity.“ Schon in der Vergangenheit habe es „numerous commitments and declarations“ gegeben, was fehle, sei die Implementierung (The Rome Consensus for Humanitarian Drug Policy 2019). Inwieweit es letztlich gelingt, die internationale Drogenpolitik auf eine rationale, wissenschaftlich fundierte Grundlage zu stellen, sie humanitär auszurichten und sie machtpolitischer Beweggründe zu entkleiden, wird letztlich auch vom Engagement und der Stärke der Zivilgesellschaften abhängen.