Die Magie der Zahl ist in Deutschland derzeit in. Ein Beispiel hierfür ist u. a. der Band des Publizisten Wolfgang BrennerFootnote 1, der sich mit den Zeitenwenden von 1918, 1923, 1938 und 1989 auseinandersetzt, die jeweils am 09. November ihren Ausgang nahmen. Vor allem im letzten Jahr – 2019 – boomte die Beschäftigung mit der Zeitenwende von 1919 als markanter Einschnitt und letztlich Vorbote einer historischen Epoche tiefgreifender gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und nicht zuletzt politischer Veränderung, angefangen beim Zeitalter des Faschismus über die Wirtschaftskrise und den New Deal bis hin zur Dekolonialisierung und dem Beginn des amerikanischen Zeitalters.

Die Monographie des Historikers Frank Bösch geht nicht so weit zurück, sondern versucht unsere Aufmerksamkeit auf 1979 als ein einschneidendes Datum zu lenken, das – so Bösch – geeignet ist, unseren herkömmlichen zeitgeschichtlichen Blick mit der Periodisierung 1945–1989/90 bzw. vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Ende der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) in Frage zu stellen. Also 1979: Als Zeitzeugin hatte ich bisher mit diesem Datum vor allem die Veröffentlichung von The Wall verbunden, einem Konzeptalbum der Band Pink Floyd. Aber ein Blick auf die viel benutzte Open Access-Enzyklopädie belehrte mich schnell eines Besseren: Es war sehr viel los in diesem Jahr und in der Tat viele der 1979er-Ereignisse hatten weitreichende Folgen und bestimmen unsere Gegenwart nach wie vor und in einem erheblichen Ausmaß.

Mit Bedacht hat Frank Bösch Ereignisse aus dem Jahr 1979 ausgewählt, die den Lauf der Zeit nachhaltig verändern sollten, und zwar im Hinblick auf Ökonomie, Ökologie, Religion, Gesellschaft und Internationale Beziehungen. Es geht um die Abkehr vom Keynesianismus und den Übergang zum Neoliberalismus in der Wirtschaft, die Infragestellung der Fortschrittsgläubigkeit und das Aufkommen der ökologischen Frage, die Renaissance des Religiösen als gesellschaftliche und politisch-gestalterische Kraft sowie vor allem um das Ende der bipolaren Ordnung der internationalen Beziehungen mit den beiden Machtpolen und unterschiedlichen Wirtschafts- sowie Gesellschaftssystemen USA und UdSSR. Für jede der genannten Entwicklungen erfolgte nach Frank Bösch 1979 so etwas wie eine Initialzündung: Erstmals mündete ein politischer Umsturz in die Etablierung eines Gottesstaates unter dem religiösen Führer Ruhollah Khomeini im Iran; ein Regierungswechsel brachte erstmals eine dezidiert neoliberal orientierte britische Premierministerin – Margaret Thatcher – an die Macht; der AKW-Unfall im US-amerikanischen Harrisburg machte erstmals die mit der Atomenergie verbundenen Gefahren für eine breite Öffentlichkeit erfahrbar; der wirtschaftspolitische Kurswechsel Chinas unter dem neuen Führer der kommunistischen Partei Deng Xiaoping markierte den Beginn des Endes der bipolaren Welt von nur zwei Wirtschafts‑, Gesellschafts- und politischen Systemen.

Der Autor räumt gleich zu Beginn im Einleitungskapitel ein, dass die Idee, sich auf das Jahr 1979 zu fokussieren, nicht genuin von ihm stammt, sondern bereits andere Autor*innen – international wie in Deutschland – 1979 als Schicksalsjahr und Indikator für grundlegenden Wandel identifiziert hatten, darunter der Geograph David HarveyFootnote 2 und der Historiker Jeremy BlackFootnote 3sowie der Politikwissenschaftler und publizistische Kommentator Claus Leggewie in einem Beitrag von 2009 für die Süddeutsche Zeitung.Footnote 4 Die Auswahl der Ereignisse wird vom Verfasser damit begründet, dass diese „schon von den Zeitgenossen als Zäsuren wahrgenommen wurden“ (S. 17).

Gestützt hat der Autor seine Ausführungen jeweils auf die klassischen Quellen der Geschichtswissenschaft – Archivmaterialien –, aber auch jene der Publizistik sowie Aufzeichnungen von z. B. Botschaftsbeschäftigten wurden zu Rate gezogen. Im Ergebnis sind zehn sehr interessante Kapitel zu den genannten Themen im Umfang von jeweils rund dreißig Seiten entstanden. Es ist eine Lektüre, die mit Gewinn zu lesen ist, ganz gleich ob in der Freizeit, am Abend nach den Tagesthemen oder auch als Hintergrundinfo und Vorbereitung einer Lehrveranstaltung. Der Band weist Bezüge zur angelsächsisch geprägten Geschichtsschreibung und zeitgeschichtlichen Analyse auf und steht nicht in der Tradition des deutschen Historismus mit seinem ausgeprägtem Fußnotenfetischismus.

Dabei ist dem Autor Frank Bösch der Bezug zu Deutschland sehr wichtig. Er unterstreicht zwar die globale Perspektive der einzelnen Kapitel, doch er möchte gleichzeitig mit Fokus auf Deutschland zeigen, „dass lokale Handlungen durch weit entfernte Ereignisse beeinflusst werden“ (S. 12). Allerdings ist ihm dieser Bezug nur bedingt gelungen. Auch schätzt er die Rolle und Funktion Deutschlands auf internationalem Parkett Ende der 1970er Jahre relativ hoch ein. Weil die Deutschen so ein hohes Ansehen in der Welt damals hatten, konnten sie – so die doch recht steile These des Autors – „oft entscheidenden Einfluss auf den Verlauf von Ereignissen nehmen“ (S. 401). Als weiterer Kritikpunkt ist anzumerken, dass der Autor häufig changiert zwischen einer struktur- und einer akteursspezifischen Perspektive. Danach erkannten die Führungspersönlichkeiten 1979 einerseits „windows of opportunities“ und nahmen „die Geschichte selbst in die Hand“ (S. 398). Andererseits wird geurteilt: „Politisch waren sie alle konservativ“ (S. 398), ohne dass ausgeführt wird, was damit gemeint ist.

Eine letzte Anmerkung: Trotz Hinweisen auf grundlegende gesellschaftliche Veränderungen dominiert die Erzähl- und Interpretationsfolie, die wohl immer noch typisch ist für die Geschichtswissenschaft. Demzufolge sind es die charismatischen Persönlichkeiten, die letztlich die Welt bewegen. Der Zivilgesellschaft, die sich Ende der 1970er Jahre in Osteuropa (Dissident*innen), in Deutschland (neue soziale Bewegungen), international (Nichtregierungsorganisationen) oder in Lateinamerika (Regimegegner*innen) konstituierte, wird in diesem Band keine eigenständige Akteursqualität zugebilligt. Schließlich kommen die Linken bei Frank Bösch meist nicht so gut weg und werden kritisch distanziert gesehen, während christdemokratisches Engagement in ein günstigerers Licht gerückt wird (S. 194–196). Doch insgesamt und trotz dieser etwas kritischen Schlussbemerkungen ist der Band von Frank Bösch als Lektüre sehr zu empfehlen.