Die Überwindung der kommunistischen Systeme im östlichen Europa nach 1989 weckte Hoffnungen, dass zumindest eine größere Anzahl der betreffenden Staaten einen Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft schaffen würde. Zugleich war zu erwarten, dass eine Reihe von ihnen aus den unterschiedlichsten Gründen Probleme haben würde, die gleichzeitig zu lösenden Probleme der Transformation des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems zu bewältigen. Der Beitritt von insgesamt elf früher kommunistischen Staaten zur EU zwischen 2004 und 2013 schien die optimistische Prognose zu bestätigen, dass der Systemwandel – zumal mit EU-Hilfe – machbar sei. Empirische Analysen zu den seither erfolgten Resultaten legen allerdings eine deutlich nüchternere Beurteilung der Transformationsergebnisse nahe. Rund ein Vierteljahrhundert nach dem Beitritt von acht ostmitteleuropäischen Ländern soll im Folgenden untersucht werden, welche Ursachen für die unterschiedliche politische Entwicklung der postkommunistischen Staaten, insbesondere im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, verantwortlich gemacht werden können.

1 Unterschiedliche Ausgangssituation in Ostmittel- und Südosteuropa

Ausgangspunkt sind dabei die tabellarisch zusammengefassten Ergebnisse des relativ komplexen Bertelsmann Transformation Indexes (BTI)Footnote 1 für die Jahre 2006 und 2020, und zwar für verschiedene Kriterien der Dimension „Demokratie-Status“. Zugrunde gelegt ist dabei implizit die Zielvorstellung einer „rechtsstaatlichen Demokratie“, die „insbesondere den Schutz der Bürgerrechte sowie die Kontrolle des Regierungs- und Verwaltungshandelns durch Legislative und Judikative (horizontal accountability)“ beinhaltet (Brusis et al. 2012, S. 384).

Der Europäische Rat legte auf seiner Sitzung in Kopenhagen 1993 Kriterien fest, die die Beitrittskandidaten zu erfüllen hatten, wollten sie EU-Mitglieder werden. Im Kontext dieses Beitrags interessiert vor allem das vom Rat formulierte „politische“ Kriterium: institutionelle Stabilität, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten. Die Kandidatenländer mussten jährliche „Fortschrittsberichte“ vorlegen. Die EU überprüfte genau, wie weit in den einzelnen Bereichen („Kapiteln“) ihre Bedingungen erfüllt waren, und drängte auf Verbesserungen z. B. im Bereich der Rechtsstaatlichkeit oder beim Schutz der russischen Minderheit in Estland und Lettland. Nach dem Beitritt der neuen Mitglieder besitzt die EU jedoch nur sehr begrenzte Möglichkeiten, eine Verletzung der Kopenhagener Kriterien zu sanktionieren.

Ein Blick auf diejenigen postkommunistischen Staaten, die 2004 in die EU aufgenommen wurden, zeigt, dass sie alle die im Demokratie-Status des BTI für 2006, für das die ersten derartigen Zahlen vorliegen, den kritischen Wert von 8,0 beim Gesamtstatus überschritten hatten, also als „sich konsolidierende“ Demokratien eingeordnet wurden. Betrachtet man diese Ländergruppe aus einer anderen Perspektive, so zeigt sich, dass ihre Ostgrenze – vom Baltikum bis zur Adria – in etwa mit der historischen Grenze Rom – Byzanz zusammenfällt. Diese Grenze verschwimmt im Wesentlichen nur in Belarus und der Ukraine in den Gebieten, die zum historischen polnisch-litauischen Königreich gehörten. Zum „römisch“ geprägten Länderbereich gehört eigentlich auch Kroatien, das 2004 aber nicht aufgenommen wurde, weil es noch die Altlasten des autoritären Regimes seines früheren Staatschefs Franjo Tuđman abarbeiten und vor allem lernen musste zu akzeptieren, mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag zusammenzuarbeiten. Kroatien wurde erst 2013 Mitglied der EU.

Bulgarien und Rumänien lagen beim Wert „Demokratie-Status“ zwar auch über der „kritischen“ Marke von 8,0. Sie hatten jedoch enorme Defizite bei der Bekämpfung von Korruption aufzuweisen, einem Erbe aus der Zeit des jeweiligen Realsozialismus, sowie beim Aufbau einer unabhängigen Justiz. Für die Aufnahme Rumäniens und Bulgariens als Vollmitglieder in die EU 2007 waren primär geopolitische Erwägungen ausschlaggebend. Angesichts starker russischer Einflussnahme auf dem Balkan sollten beide Länder in das westliche Bündnissystem integriert werden, wobei die Hoffnung mitschwang, dass die EU-Mitgliedschaft zu einer Konsolidierung der Demokratie beitragen könne, ähnlich wie vor 1989 im Falle Griechenlands, Portugals und Spaniens. Bulgarien und Rumänien hatten zu akzeptieren, dass sie auch nach dem Beitritt zunächst für drei Jahre Fortschrittsberichte zu den kritischen Bereichen vorlegen mussten, wie sich zeigte, aber auch danach in regelmäßigen Abständen, was jedoch kaum zu einer grundlegenden Besserung in den Problembereichen beigetragen hat (Ivanova-Manthey 2018). Bei der Durchsetzung des Rechtsstaats wirkt offensichtlich auch sozialistisches Rechtserbe weiter. Es „lebt am ehesten in den ‚weichen Faktoren‘ der Rechtskultur wie Mentalitäten und Rechtseinstellungen sowohl der Rechtsetzer und Rechtsanwender als auch der Rechtsunterworfenen fort“ (Küpper 2019, S. 26).

Blickt man im Kontext der 2004 in die EU aufgenommenen Staaten auf die Grenze Rom – Byzanz, stellt sich fast zwangsläufig die Frage, in welchem Umfang die historische Prägung und damit die politische Kultur Einfluss auf die Fähigkeiten der Kandidatenländer hatte, die Kopenhagener Beitrittskriterien zu erfüllen. Die Gesellschaften dieser Staaten oder zumindest ihre Eliten waren seit Jahrhunderten vertraut mit dem Begriff des römischen Rechts, kannten seit den Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst im Mittelalter die Trennung zwischen Kirche und Staat und damit das Prinzip der Gewaltenteilung. Diese und weitere Faktoren bestimmten auch das Verhältnis zwischen Staatsmacht und Bürger. Dazu zählen der Schutz des Individuums und seine auch gegen den Staat einklagbaren Rechte. Doch auch innerhalb der lateinisch geprägten Staaten gab es in den historischen Erfahrungen erhebliche Unterschiede, je nachdem, ob und in welcher Intensität etwa Reformation und Aufklärung auf die jeweilige Gesellschaft eingewirkt haben.

In den östlich der Linie Rom – Byzanz gelegenen Gesellschaften herrschten dagegen hinsichtlich der überkommenen politischen Kultur ganz andere historische Voraussetzungen. Im Bereich der orthodoxen Kirchen, insbesondere dort, wo russischer Einfluss dominierte, herrschte das Prinzip des Cäsaropapismus, das eine Gewaltenteilung unmöglich machte, und auch das Verhältnis zwischen Bürger und Staat war ein völlig anderes.

Aber nicht nur solche Faktoren der (très) longue durée, sondern auch die konkrete Ausprägung der kommunistischen Herrschaft und die Art und Weise ihrer Beendigung können als Erklärungsfaktoren für die unterschiedliche politische Entwicklung in den einzelnen Ländern nach 1989/91 herangezogen werden. So haben Polen und Ungarn 1989/90 den Systemwechsel durch eine Übereinkunft zwischen kompromissbereiten Teilen der (formell illegalen) politischen Opposition und kompromissbereiten Teilen des kommunistischen Establishments am „Runden Tisch“ erzielt. In der ČSSR und der DDR erzwangen Massenproteste einen friedlichen Übergang durch einen Kompromiss zwischen der bisherigen Nomenklatura und den sich herausbildenden neuen Eliten. Dabei stellte der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland einen Sonderfall der Etablierung eines demokratischen Systems in einem bisher kommunistischen Staat dar. „Von oben“ wurde eine Demokratisierung in der Sowjetunion mit der „Perestrojka“ versucht. In Bulgarien verzichteten die kompromittierten politischen Eliten zugunsten ihrer „Enkel“ auf ihre Ämter und konnten damit zunächst ebenso die Kontrolle über die weitere macht- und personalpolitische sowie die wirtschaftliche Entwicklung behalten wie der Nachfolger Ceauşescus in Rumänien, Ion Iliescu, der bis 1996 und erneut von 2000 bis 2004 Präsident des Landes war. Seit 2019 läuft gegen Iliescu (Jahrgang 1930) ein Verfahren, das seine Rolle beim Sturz Ceauşescus klären soll (Revolutionsheld oder für den Tod vieler Menschen verantwortlicher Verbrecher?).

Ein weiterer Punkt fällt beim Blick auf die 2004 in die EU aufgenommenen postkommunistischen Staaten auf. Sie liegen alle in dem Bereich, der häufig als „Ostmitteleuropa“ bezeichnet wird. Der Begriff „Ostmitteleuropa“ ist dabei keineswegs eindeutig. Das bis 2018 bestehende Ostmitteleuropa-Institut (Instytut Europy Środkowo-Wschodniej) der Katholischen Universität Lublin untersuchte in seinen Studien das Gebiet zwischen Russland und Deutschland von den baltischen Staaten bis zur Adria und dem Schwarzen Meer, einschließlich der früher zu Polen-Litauen gehörenden Teile von Belarus und der Ukraine. In Deutschland werden mit „Ostmitteleuropa“ eher die Staaten Polen, Tschechische Republik, Slowakei und Ungarn verbunden, die sich selbst als „Mitteleuropa“ bezeichnen.Footnote 2 Die baltischen Staaten, für die sich bisweilen der Begriff „Nordost-Europa“ findet, sollen im Folgenden ebenfalls Ostmitteleuropa zugerechnet werden.

Große Teile Südosteuropas waren fast 500 Jahre geprägt durch direkten oder indirekten osmanischen Einfluss, der die Region von den Entwicklungen im übrigen Europa abschnitt. Mit dem Zerfall des Osmanischen Reichs und der Habsburger Monarchie am Ende des Ersten Weltkriegs entstanden bzw. konsolidierten sich in einer ethnisch, sprachlich, kulturell und politisch höchst heterogenen Region Staaten mit Grenzen, innerhalb derer es unmöglich war, den Grundsatz eines (ethnisch verstandenen) Selbstbestimmungsrechts der Völker durchzusetzen. Die Folge waren zahlreiche innen- und außenpolitische Konflikte, die durch den Verlauf des Zweiten Weltkriegs in der Region noch verschärft wurden.

Nach 1945 entwickelten Jugoslawien, Albanien, Bulgarien und Rumänien unterschiedliche Sozialismusmodelle. Jugoslawien war formell ein Bundesstaat, doch galt in den kommunistischen Föderationen (auch in der Sowjetunion und der Tschechoslowakei) nicht das Prinzip vertikaler Gewaltenteilung, sondern der Grundsatz des „demokratischen Zentralismus“, nach dem alle Entscheidungen von Bedeutung letztlich vom Politbüro der Partei oder dessen Generalsekretär getroffen wurden. Alle drei kommunistischen Föderationen zerfielen, weil die kleineren Republiken sich von der jeweils ethnisch stärksten dominiert fühlten. Im Falle Jugoslawiens war die Auflösung begleitet von mehrjährigen kriegerischen Auseinandersetzungen, die bis 2001 dauertenFootnote 3 und weit mehr als 100.000 Menschen das Leben kosteten. Viele Konfliktherde in den jetzt unabhängigen Staaten blieben bestehen. So hat Bosnien-Herzegowina aufgrund des Kriegs von 1992–1995 eine tief gespaltene Gesellschaft, in der die ethnonationalen Konzepte von Serben, Kroaten und Bosniaken einander ausschließen, die drei Gruppen aber gleichwohl in einem gemeinsamen Staat leben müssen. In Mazedonien und im Kosovo wird die Souveränität des Staates von zumindest einer großen ethnischen Gruppe bestritten (Dzihic 2014). Kosovo wartet noch immer auf die Anerkennung durch mehrere EU-Staaten und die zumindest indirekte Anerkennung durch Serbien. Diese Länder haben zusätzlich zu den politischen und sozioökonomischen Transformationsleistungen die mit dem Aufbau einer neuen Staatlichkeit verbundenen Aufgaben zu erfüllen. Dass angesichts einer solchen Ausgangslage der Aufbau demokratischer politischer Systeme extrem schwierig ist, liegt auf der Hand. Die einzelnen Indikatoren des Demokratie-Status im BTI 2020 machen dies deutlich, insbesondere in den Bereichen „Rechtsstaatlichkeit“ und „Politische und gesellschaftliche Integration“.

Tab. 1 Bertelsmann Transformations-Index 2006: Demokratie-Index für die postkommunistischen Staaten Ostmittel‑, Südost- und Osteuropas. (Bertelsmann 2020)

Selbst Bulgarien und Rumänien, die seit 2007 EU-Mitglieder sind, weisen im BTI 2020 beim „Demokratie-Status“ schlechtere Werte auf als 2006. Diese beiden Staaten fielen ebenso wie Polen unter die Grenze von 8,00 Punkten und wurden damit zu Staaten mit einer „defekten Demokratie“ herabgestuft. Ungarn blieb gar unter 7,00 Punkten und zählt damit zu den „stark defekten Demokratien“.Footnote 4 Wie konnte es zu einer solchen Entwicklung kommen?

Tab. 2 Bertelsmann Transformation Index 2020: Demokratie-Index für die postkommunistischen Staaten Ostmittel‑, Südost- und Osteuropas. (Bertelsmann 2020)

2 Erklärungsversuche für die nachlassende Attraktivität der von der EU propagierten demokratischen Werte

Katherine Graney geht in ihrer umfangreichen Studie zur politischen Entwicklung im postsowjetischen Europa seit 1989, die allerdings primär die früheren Sowjetrepubliken im Auge hat, von einer Art west-östlichem Kulturgefälle auch im politischen Wertesystem aus, das sie als „Eurocentric-Orientalist Cultural Gradient“ bezeichnet (Graney 2019, S. 4 ff.). Sie teilt die Zeit von 1989 bis heute hinsichtlich der Einstellung der früher kommunistischen Gesellschaften zur „Europäisierung“, d. h. der Akzeptanz der von der EU propagierten Werte, in drei Phasen ein.

  1. 1.

    1989 bis 1999 „Europhorie“: Die europäischen Institutionen waren überzeugt, Europa als einer Wertegemeinschaft verpflichtet zu sein, und postkommunistische Staaten versuchten, im Sinne der dort propagierten Codices ihre politische, wirtschaftliche und militärische Sicherheit zu maximieren.

  2. 2.

    1999 bis 2008 „Europhilie“: In dieser Zeit wurde eine ganze Reihe postkommunistischer Staaten Mitglied der EU (und der NATO). Die erfolgreiche „Europäisierung“ einiger postkommunistischer Staaten erhöhte die Attraktivität dieses Modells für weitere Bewerber.

  3. 3.

    2009 bis heute „Europhobie“: Ab etwa 2009, nicht zuletzt durch die Folgen der 2008 ausgelösten Finanzkrise, wurden der Nutzen und die Machbarkeit des europäischen Nachkriegsprojekts zunehmend in Frage gestellt. Dies belegten Erfolge von Populisten auch in alten EU-Mitgliedstaaten. Unter den neuen EU-Mitgliedern stellen die dominierenden Parteien in Ungarn und Polen ebenso wie wichtige Akteure in fast allen EU-Staaten die liberalen, multilateralen, wertebasierten europäischen Institutionen in Frage (Graney 2019, S. 14 ff.).

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev und der US-amerikanische Rechtsphilosoph Stephen Holmes haben eine Antwort auf die Frage nach den Gründen für die nachlassende Attraktivität des westlichen Modells in einigen postkommunistischen Staaten in dem Band „Das Licht, das erlosch“ (Krastev und Holmes 2019) versucht. Wichtige Überlegungen veröffentlichten sie vorab in einem Beitrag im „Journal of Democracy“ (Krastev und Holmes 2018). Danach ist der Ursprung der „illiberalen Revolution“ in Mittel- und Osteuropa in sozialpsychologischen und kulturellen Ursachen zu suchen. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts habe es als Maßstab für „Normalität“ nur das liberale politische Modell des Westens gegeben, das die bisher kommunistischen Gesellschaften nun hätten anstreben wollen.Footnote 5 Dabei hätten sie akzeptieren müssen, dass der Westen ihren Erfolg oder Misserfolg beurteile. Dies komme gefühlt einem Verlust an Souveränität gleich. Es habe sich gezeigt, dass der Versuch der Mittel- und Osteuropäer, den Umgang von Nachkriegsdeutschland mit seiner jüngsten Geschichte nachzuahmen, auf unüberwindbare Probleme stoße.

Es habe sich die Frage gestellt, wie man das, was man im eigenen Land als „normal“ betrachte, mit dem in Einklang bringen könne, was im Westen als „normal“ gelte. Eine solche „Normalität“ herzustellen sei jedoch ein sehr langwieriger Prozess. Weit rascher als man ein Land ändern könne, könne ein Individuum das Land wechseln. Krastev und Holmes verweisen darauf, dass viele Staaten in Ostmittel- und Südosteuropa nach 1989 eine extrem hohe Abwanderung vor allem junger, oft liberal gesonnener Menschen in Richtung Westeuropa hätten verzeichnen müssen. Dies habe vielfach ohnehin bestehende demografische Probleme noch verschärft und zur Stärkung „nationaler“, rechtsgerichteter Einstellungen beigetragen. Während die Staaten der östlichen Hälfte Europas als ethnisch relativ homogen wahrgenommen würden, werde der Westen als zunehmend heterogen und multiethnisch wahrgenommen, was auf die „gedankenlose“ und „selbstmörderische“ Politik einer leichtgemachten Immigration zurückgeführt werde.

Im Ergebnis habe der Westen seine kulturelle Vorbildfunktion verloren. Populisten in Warschau und Budapest hätten die Flüchtlingskrise von 2015 als Chance gesehen, dem östlichen Europa ein neues Markenzeichen zu geben, das der Bewahrung authentischer Kultur im Gegensatz zum zunehmend multikulturellen Westeuropa. Wenn man die Reputation des Westens als Region besonderer Chancen und den westlichen Liberalismus als Standard für eine fortgeschrittene Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung infrage stelle, könne die Emigration aus den eigenen Ländern begrenzt werden. Westeuropas offenes Immigrationssystem werde weniger deswegen verurteilt, weil es Afrikaner und Menschen aus dem Mittleren Osten eingeladen habe, sondern weil es sich als unwiderstehlicher Magnet für Mittel- und Osteuropäer selbst erwiesen habe.

Die Argumentation von Krastev und Holmes, der Westen habe zumindest für etliche Eliten der postkommunistischen Staaten seine Vorbildfunktion eingebüßt, wird u. a. durch eine Reihe von Äußerungen von Viktor Orbán bestätigt. Darin diagnostiziert er den Verfall der europäischen Zivilisation. Statt bei seinen christlichen Wurzeln zu bleiben, baue Europa eine „offene Gesellschaft“. Traditionelle Werte wie die Familie würden preisgegeben. Nation, nationale Identität und Nationalstolz würden als negative und obsolete Begriffe betrachtet. Er sehe jedoch die Ablösung der „1968er“ durch die „1990er“ voraus, eine antikommunistische Generation mit christlichen Überzeugungen und Engagement für die Nation. Die Pointe am Schluss einer Rede auf einer Sommerakademie 2018 zeigt, dass sich für ihn die Rolle des Vorbilds und derer, die ihm nachzueifern hätten, umgekehrt hat: „Thirty years ago we thought that Europe was our future. Today we believe that we are Europe’s future“ (Prime Minister Orbán’s Speech 2018).

Einer der führenden Intellektuellen der polnischen Regierungspartei PiS (Prawo i Sprawiedliwość – Recht und Gerechtigkeit), Prof. Ryszard Legutko, Mitglied des Europa-Parlaments, argumentierte in einem 2017 auch auf Deutsch erschienenen Buch mit dem provozierenden Titel Der Dämon der Demokratie: Totalitäre Strömungen in liberalen Gesellschaften, so wie einst die Kommunisten eine Obsession für Klassenfragen gehabt hätten, hätten dies heute die Liberalen für Fragen gesellschaftlicher Werte. Sie strebten nach der Auflösung von Familie, Kirche und Nation und drängten der EU eine linksliberale Agenda wie Feminismus, LGBT-Rechte oder Multikulturalismus auf. Dem müsse man sich widersetzen. Die Folgen der sogenannten Flüchtlingskrise seien vorhersehbar, nämlich eine radikale Transformation der bestehenden sozialen Identitäten. Der Zustrom von Migranten biete Gelegenheit, den Nationalstaaten noch mehr Rechte zu entziehen und das europäische Zentrum – „eine Kombination aus der europäischen Bürokratie und den großen politischen Akteuren“ – zu stärken. Ferner locke die europäischen Eliten offensichtlich ein neues Gesellschaftsmodell, der Multikulturalismus (Legutko 2017).Footnote 6

3 Ein Signal: Die Verfassungsänderung in Ungarn und der „Umbau der Justiz“ in Polen

Bei den Parlamentswahlen in Ungarn 2010 wurde die linksliberale Regierung nach verheerenden Fehlleistungen in der vorangegangenen Wahlperiode abgewählt. Neuer Regierungschef wurde Viktor Orbán (Jahrgang 1963), der bereits von 1998 bis 2002 Ministerpräsident gewesen war. Nachdem er an der Spitze seiner Partei Fidész (Bund Junger Demokraten) 1992 bis 2000 einer der Vizechefs der Liberalen Internationale gewesen war, wechselte er 2002 mit dem Fidész zur Europäischen Volkspartei und wurde einer von deren Vizevorsitzenden. In den Wahlen von 2010 gewann der Fidész zusammen mit dem weit kleineren Koalitionspartner KDNP (Christlich-Demokratische Volkspartei) mit im ersten Wahlgang 52,7 % der Stimmen eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Orbán ließ eine neue Verfassung ausarbeiten, die zum einen eine extrem national-konservative Staatsideologie festschrieb. Diese prägt nicht nur weite Teile der Präambel, sondern zieht sich durch die ganze Verfassung. Liberal-individualistische Werte treten zurück hinter kollektivistischen. Individuelle Freiheit kann sich nach der Präambel nur im Zusammenwirken mit Anderen entfalten.

Zum andern wurden Rechte des Verfassungsgerichts beschnitten und sogenannte „Schwerpunkt“- oder „Kardinalgesetze“ eingeführt, die nur mit einer Zweidrittelmehrheit geändert werden können. Diese erinnern entfernt an die französischen „lois organiques“, sind aber weit zahlreicher und betreffen viele Materien, die üblicherweise durch einfache Gesetzgebung geregelt werden. Auf diese Weise führte der Fidész für sich günstige Regelungen z. B. beim Wahlgesetz (Wahlkreiseinteilung) zur Nationalversammlung ein, die aufgrund der erforderlichen Zweidrittelmehrheit auf absehbare Zeit nicht werden geändert werden können. Die „Venedig-Kommission“ des Europarats äußerte zu dieser Verfassung schwere Bedenken (Europäische Kommission 2011).

Noch gravierender waren zusätzliche Verfassungsänderungen 2013, die horizontale Mechanismen zur Kontrolle der Exekutive weiter abbauten und insbesondere eine drastische Reduzierung der Kompetenzen des Verfassungsgerichts und der Autonomie der Justiz einführten. In der Praxis wurden ferner die Freiheit unabhängiger Medien beschnitten und der Aktionsraum von Organisationen der Zivilgesellschaft eingeschränkt. Bis Frühjahr 2018 wurden insgesamt sechs Verfassungsänderungen vorgenommen. Meist hatte zunächst das Verfassungsgericht einen Gesetzestext kritisiert. Dessen Inhalt wurde danach in der Verfassung festgeschrieben und der inkriminierte Text konnte als „verfassungsgemäß“ verabschiedet werden (Bos 2018, S. 19).

Nach dem erneuten Wahlsieg mit Zweidrittelmehrheit im Parlament 2014 musste Orbán zwar zeitweilig einen Popularitätsverlust hinnehmen, was den Fidész bei Nachwahlen in einzelnen Wahlkreisen vorübergehend seine parlamentarische Zweidrittelmehrheit kostete (Lendvai 2016, S. 150 f.). Gleichwohl schränkte Orbán die Möglichkeiten kritischer Medienberichterstattungen weiter drastisch ein. Er mobilisiert die Gesellschaft mit dem Hinweis auf die ständige Bedrohung der Nation, etwa durch „Brüssel“ oder den aus Ungarn stammenden Multimilliardär George Soros, der nach 1989 den Aufbau von Demokratie in Ostmitteleuropa nachhaltig gefördert hat (wovon auch Orbán mit einem Stipendium in Oxford profitierte). „Nationale Konsultationen“ sollen Orbán zusätzliche Legitimation durch die Beantwortung von oft Suggestivfragen geben, so im Mai 2015 zu „Einwanderung und Terrorismus“. Orbán kritisiert zwar ständig Kritik aus Brüssel an seiner mit dem politischen Wertesystem der EU großenteils unvereinbaren Politik, verwendet die EU-Mittel aber nicht nur zum Aufbau der ungarischen Wirtschaft, sondern auch zur gezielten Unterstützung ihm loyaler Politiker und auch Verwandter.Footnote 7 Die Einordnung seines Regimes in der ungarischen Politikwissenschaft reicht von einer „elektoralen Autokratie“ (Attila Ágh) über ein „hybrides Regime“ (András Bozóki und Dániel Hegedűs) und eine „plebiszitäre Führerdemokratie“ (András Körösényi) bis zum „postkommunistischen Mafia-Staat“ (Bálint Magyar).Footnote 8

Mit dem Umbau des politischen Systems in Ungarn war ein Muster vorgegeben, nach dem die in den Wahlen von 2015 in Polen siegreiche nationalkonservative Partei PiS nach ihrem Sieg in den Wahlen vom November 2015 vorging, um die Kontrolle über möglichst alle staatlichen Institutionen zu gewinnen. In den polnischen Medien wurde dieses Ziel z. T. auf die Formel gebracht: „Budapest in Warschau“. Parteichef Jarosław Kaczyński hatte bereits 2006/07 als Ministerpräsident einer Koalition seiner Partei mit einem populistischen und einem national-klerikalen Partner geklagt, als der Verfassungsgerichtshof mehrere von der PiS initiierte Gesetze ganz oder teilweise als verfassungswidrig aufhob, das Verfassungsgericht sei eine „dritte Kammer, die immer mit der Opposition stimmt“. Entsprechend war einer der ersten Schritte der neuen PiS-Regierung Ende 2015, sich den Verfassungsgerichtshof de facto unterzuordnen, was den Beginn eines bis heute andauernden Kampfes um die endgültige Beseitigung der horizontalen Gewaltenteilung und die Unterordnung der Judikative unter die Exekutive in Polen bedeutete.Footnote 9 Das geradezu obsessive Bemühen der PiS-Führung, „alles unter Kontrolle“ zu haben, wurde am 16.11.2015 sichtbar, als zu sehr später Stunde die PiS-Kandidatin Beata Szydło vom Sejm zur neuen Premierministerin gewählt wurde. Noch nach Mitternacht wurden vier der fünf Geheimdienstchefs ausgewechselt.

Allmählich begannen die 2004 noch recht deutlichen Unterschiede in der Qualität der Demokratie zwischen den Staaten Ostmittel- und Südosteuropas zu verschwimmen. Eine Ausnahme bilden dabei bis heute die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, die erst 1991 nach mehr als 50 Jahren Fremdherrschaft ihre Unabhängigkeit wiedererlangt hatten. Für sie bedeutete der Beitritt zur EU (ebenso wie zur NATO) 2004 eine wichtige institutionelle Anbindung an den Westen und damit größere Sicherheit vor Russland. Ihre Demokratien haben, wie Tab. 2 belegt, eine bemerkenswerte Stabilität erreicht, und auch auf wirtschaftlichem Gebiet haben diese drei Staaten große Anstrengungen unternommen, um auch in die Euro-Zone aufgenommen zu werden (Beitritt von Estland 2011, Lettland 2014, Litauen 2015) und damit dem Kreis der EU-Staaten mit der engsten wirtschaftlichen Integration anzugehören. Aber selbst im sonst so vorbildlichen Estland ist die populistische und EU-kritische EKRE (Estnische Konservative Volkspartei) seit 2019 drittstärkste Partei und Mitglied der Regierungskoalition.

4 Populistische Argumentationsmuster in Ostmittel- und Südosteuropa

Die Argumente, mit denen Populisten im östlichen Europa Stimmen zu gewinnen suchen, ähneln zumindest teilweise denen im Westen. Sie stellen sich und ihre Partei als die „wahren Vertreter“ der Interessen des Volkes dar, während der Staat unter der Kontrolle von „Eliten“ sei, die ihn für ihre persönlichen Ziele ausbeuteten und ihre Macht zum Teil aus der Zeit des Kommunismus hätten bewahren können. Die Mehrheit der Bevölkerung sei dagegen von den Gewinnen der wirtschaftlichen Systemtransformation ausgeschlossen worden. Eine solche Argumentation, verbunden mit dem (dann auch eingehaltenen) Versprechen einer großen sozialen Umverteilung zugunsten der bisher Vernachlässigten, erklärt etwa die Wahlerfolge der PiS in Polen. Zumindest Teile ihrer Wählerschaft werden von abstrakten Begriffen wie „Rechtsstaat“ oder „Verfassungsgericht“ nicht tangiert. Was für sie zählt, ist das regelmäßige – teils beachtliche – monatliche Kindergeld, das Familien ab dem zweiten Kind, bei besonderer Bedürftigkeit bereits ab dem ersten Kind erhalten. Hier müssen sich freilich die Vertreter wirtschaftsliberaler Transformationsstrategien fragen, warum sie nicht selbst stärkere Komponenten sozialer Umverteilung in ihre Politik eingebaut haben.

In einigen Staaten wie der Tschechischen Republik verlief der Prozess der ökonomischen Transformation so intransparent, dass das Führungspersonal politischer Parteien die Kontrolle über den Privatisierungsprozess in der Wirtschaft und damit de facto die Verfügungsgewalt auch über die Besetzung von Führungspositionen in Unternehmen gewann. So entstanden informelle Netzwerke und für die Öffentlichkeit oft nur schwer kontrollierbare Klientelbeziehungen zwischen Politik und Wirtschaft (Klíma 2020).

Ein häufig anzutreffendes Muster, das eigene politische Lager zu mobilisieren und Wählerstimmen zu gewinnen, ist die Aufgabe von Fairness und eine Polarisierung in den politischen Auseinandersetzungen. Die systematische Charakterisierung der politischen Gegner nicht als Konkurrenten, sondern als „Feinde“ hat Folgen auf mehreren Ebenen. Langfristig leidet das gesellschaftliche Vertrauen nicht nur in die Gegner des eigenen politischen Lagers, sondern in die Politik insgesamt. Nicht nur das Beispiel Polen zeigt, dass auf der parlamentarischen Ebene die Achtung vor ungeschriebenen Gesetzen der Zusammenarbeit zwischen Regierungsmehrheit und Opposition aufgegeben wird, die Geschäftsordnung des Parlaments missachtet und etwa die Tagesordnung der Sitzungen für die Opposition völlig überraschend verändert wird. Oder weil eine Gesetzesvorlage durchgepeitscht werden muss, werden den Mitgliedern des zuständigen Ausschusses 30 Sekunden Redezeit eingeräumt. Dabei geht nicht nur Vertrauen verloren. Wird die Opposition kontinuierlich als „Feind“ gebrandmarkt, bleibt ihr auf längere Sicht nichts übrig, als mit gleicher Münze zurückzuzahlen (Sadurski 2019, S. 8). Die langfristigen negativen Wirkungen auf die politische Kultur des betreffenden Landes sind absehbar.

In etlichen Staaten bildet die bis heute umstrittene Auseinandersetzung um Konflikte aus der Vergangenheit, die bis in die Zwischenkriegszeit zurückreichen können, eine Quelle heftiger Kontroversen. Dies betrifft innergesellschaftliche Konflikte, aber auch Probleme mit Nachbarstaaten. Beispiele hierfür sind etwa ethnisch-nationale Auseinandersetzungen zwischen Polen und Ukrainern oder im ehemaligen Jugoslawien zwischen Serben und anderen Nationalitäten. Durch Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach wurden die Spannungen zwischen den verfeindeten ethnischen Gruppen noch verschärft, durften aber zu kommunistischer Zeit nicht thematisiert werden. Diese nicht aufgearbeitete Vergangenheit war in der mündlichen Überlieferung der betroffenen Gruppen jedoch sehr wohl präsent. Hier lag einer der Gründe dafür, dass zu Beginn der 1990er-Jahre genügend Emotionen für den Krieg im zerfallenden Jugoslawien mobilisiert werden konnten. In mehreren Ländern, die nach 1945 kommunistisch wurden – etwa in den baltischen Staaten – fällt es dagegen vielen schwer sich einzugestehen, dass etliche ihrer Landsleute, die Opfer der kommunistischen Besatzung wurden, zuvor Mittäter beim Holocaust waren, was bis heute heftige Emotionen hervorrufen kann.Footnote 10

Die kontroverse Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg birgt in vielen Fällen der postkommunistischen Region bis heute hoch emotionalen Konfliktstoff. Im Falle der Nachfolgestaaten Jugoslawiens ist das angesichts der Kriege und des damit verbundenen Leids nach dem Zerfall des bisherigen „Bundesstaates“ noch mehr verständlich und trägt sicher nicht zur Konsolidierung der heutigen Staaten als Demokratien bei.

Aber auch in ostmitteleuropäischen EU-Staaten wie Polen führt die staatlich propagierte „Geschichtspolitik“ zu außen- wie innenpolitischen Kontroversen. Ausgerechnet kurz vor dem Auschwitz-Gedenktag 2018 wurde ein polnisches Gesetz verabschiedet, das Geldstrafen oder bis zu drei Jahren Haft allen Personen androhte, die faktenwidrig dem polnischen Staat oder der polnischen Nation die Verantwortung oder Mitverantwortung für Taten im Zusammenhang mit dem Holocaust zuschreiben, die durch das Dritte Reich begangen wurden. Weniger der Protest aus Israel als Druck aus den USA veranlasste die Regierung nach einigen Wochen, nachdem die Entscheidung auf politischer Ebene gefällt war, auf dem inzwischen üblichen, mit der Geschäftsordnung des Parlaments kaum zu vereinbarenden „Blitzweg“ die am heftigsten kritisierten Punkte aus dem Gesetz zu entfernen.

Innenpolitisch ist die Deutungshoheit vor allem über die jüngste Geschichte, zumindest seit dem Zweiten Weltkrieg, oft hoch kontrovers. Dies betrifft etwa die Frage nach der Kollaboration mit dem NS-Staat oder bewaffnetem Widerstand gegen ihn. Im Falle Jugoslawiens kann dies sogar zu Kontroversen zwischen dessen Nachfolgestaaten führen. Auch internationale Aufmerksamkeit hat der Konflikt in Polen um die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg gefunden. Das vom damaligen Stadtpräsidenten Warschaus und späteren Staatspräsidenten Lech Kaczyński initiierte und 2004 zum 60. Jahrestag eingeweihte Museum des Warschauer Aufstands gilt als Beispiel dafür, wie mit modernen museumstechnischen Mitteln Geschichte aus dem „nationalen“, „patriotisches“ Bewusstsein weckenden Blickwinkel vermittelt werden soll. Das als „Gegenpol“ konzipierte „Museum des Zweiten Weltkriegs“ in Danzig stellte den Krieg weltweit aus der Sicht der von ihm betroffenen Bevölkerung dar. Für die Geschichtspolitik der PiS war eine solche Perspektive zu wenig „patriotisch“. Das Museum wurde in mehreren Punkten und damit in eine andere als die ursprünglich intendierte Richtung verändert.Footnote 11

Eine Formel, die in vielen ostmitteleuropäischen Staaten von Populisten bemüht wird – in den südosteuropäischen Staaten (außer Rumänien und Bulgarien) können sie es noch nicht, da diese noch keine EU-Mitglieder sind –, lautet: früher dominierte uns Moskau, heute Brüssel. Diesen vor allem in Budapest und Warschau populären Slogan griff Jarosław Kaczyński kürzlich im Zusammenhang mit der von der EU geäußerten Drohung auf, eventuell Gelder wegen der Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in Polen zu kürzen. Er verwies auf die erfolgreiche Bewahrung von Freiräumen der polnischen Gesellschaft gegenüber der Sowjetunion. Selbst in der Volksrepublik sei es möglich gewesen, eine private Landwirtschaft zu bewahren, und die Katholische Kirche habe trotz aller Verfolgungen wirken können. Heute dagegen würden Beamte und Politiker der EU, die nie von Polen gewählt worden seien, verlangen, „dass wir unsere ganze Kultur verifizieren, alles verwerfen, was für uns von grundlegender Bedeutung ist, nur weil es ihnen so gefällt“. Es gebe nicht die Spur einer vertraglichen Begründung dafür und es stehe im Widerspruch zur Erklärung der kulturellen Souveränität, die der Sejm vor dem Beitritt zur EU abgegeben habe. „Wir werden unsere Identität, unsere Freiheit, Souveränität um jeden Preis verteidigen. Wir lassen uns nicht mit Geldern terrorisieren. Wenn die Drohungen und Erpressungen aufrechterhalten werden, werden wir hart das Lebensinteresse Polens verteidigen. Veto. Non possumusFootnote 12 … Wir stehen auf der guten Seite der Geschichte“ (Prezes PiS stanowczo 2020).

5 Welche innergesellschaftlichen Akteure könnten zur Stabilisierung der Demokratie beitragen?

Ambivalent ist die Rolle der Kirchen im Prozess von Demokratisierung und Europäisierung. In den meisten postkommunistischen Staaten sind kirchlich gebundene Personen durch die Folgen von Kirchenverfolgung im Kommunismus und durch davon unabhängige Säkularisierungsprozesse in einer deutlichen Minderheit. Unbestritten ist der große Anteil der Katholischen Kirche am Erfolg der polnischen Oppositionsbewegung der 1980er-Jahre. Mit unüberhörbarer Skepsis fragte jedoch schon zu Beginn der 1990er-Jahre der amerikanische Soziologe José Casanova, ob die Kirche nach dem Sieg der Solidarność die Freiheit der Zivilgesellschaft in einer demokratischen Gesellschaft mit dem Recht auf Selbstorganisation auf der Grundlage einer Heterogenität von Normen, Werten und Lebensmodellen anerkennen werde, oder ob sie das Prinzip einer homogenen, polnischen und katholischen nationalen Gemeinschaft propagieren werde.Footnote 13

Die Antwort auf diese Frage fällt rund 30 Jahre nach dem Systemwechsel eindeutig aus. Gewiss gibt es weiter schon in der Zeit der Volksrepublik existierende Zeitschriften wie den Tygodnik Powszechny oder Więź. Ihre Redaktionen haben hervorragende Arbeit geleistet, wenn es etwa um die Aufarbeitung der Zusammenarbeit von katholischen Geistlichen mit dem Geheimdienst der Volksrepublik ging und den Umgang damit in der heutigen Kirche. Sie analysieren die aktuelle politische Wirklichkeit sowohl nach den Kriterien der katholischen Soziallehre als auch nach den Werten der heutigen polnischen Verfassung. Sie bilden jedoch auch innerhalb der Kirche eine Minderheit.Footnote 14 Die Mehrheit von Episkopat wie Klerus unterstützt national-klerikale Parolen; ihr Sprachrohr ist „Radio Maryja“. Auch wenn die gesellschaftliche Position der Kirche in Polen noch weit stärker ist als in anderen Ländern der Region, ist doch ein deutlicher Säkularisierungsprozess vor allem unter der jungen Generation unverkennbar.Footnote 15 Dazu beigetragen hat in der jüngsten Zeit die vor allem von privaten Medien und über Internet verbreitete Aufdeckung von jahrzehntelanger Vertuschung pädophiler Delikte von Geistlichen, die von zum Teil hochrangigen Mitgliedern des Episkopats gedeckt wurde.

In anderen „römisch“ geprägten Staaten des sowjetischen Machtbereichs war die religiöse Bindung der Gesellschaft zum Teil deutlich geringer. Dies war sowohl durch Erfahrungen aus der Zeit vor der sowjetischen Herrschaft bedingt als auch durch die Unterdrückung der Katholischen Kirche während der kommunistischen Zeit. Auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik wirkte dabei u. a. die Zwangsrekatholisierung unter den Habsburgern nach 1620 nach. Aber auch in eher protestantisch dominierten Ländern wie den baltischen Staaten Estland und Lettland zeigten sich neben dem Atheisierungsdruck unter der kommunistischen Herrschaft auch die Auswirkungen „normaler“ Säkularisierungsprozesse.

Ganz anders stellte sich die Situation in den Staaten dar, in denen traditionell orthodoxe Kirchen vorherrschten. In vielen Fällen war eine Kooperation dieser Kirchen mit den kommunistischen Regierungen zu beobachten gewesen. Nach dem Ende des Kommunismus entwickelte sich die orthodoxe Kirche in diesen Staaten in unterschiedliche Richtungen und war zum Teil auch von den Folgen des Zerfalls von Jugoslawien betroffen. In Montenegro etwa sind von rund 650.000 Einwohnern nach dem Zensus von 2003 rund 32 % ethnische Serben. Etwa 70 % der Bevölkerung gehören der serbisch-orthodoxen Kirche an, in die die bis dahin autokephale montenegrinische Kirche 1920 nach der Gründung Jugoslawiens eingegliedert worden war. Seit der erneuten Unabhängigkeit Montenegros 2006 bemüht sich dessen Regierung um die Wiederherstellung des autokephalen Status der montenegrinischen Kirche, was von der serbisch-orthodoxen Kirche kategorisch abgelehnt wird (Korzeniewska-Wisznewska 2016, S. 227 ff.). Als Ende 2019 das Parlament in Podgorica ein Kirchengesetz verabschiedete, nach dem im Lande tätige Kirchen offenlegen müssen, wie sie vor 1920 zum Eigentum an Gebäuden und Immobilien gelangt sind, kam es zu heftigen Protesten seitens der serbisch-orthodoxen Kirche, aber auch durch Demonstranten in Montenegro. Unter solchen Rahmenbedingungen tragen die orthodoxen Kirchen der Region vielleicht zur Stärkung der fragilen neuen Staatlichkeit bei, kaum aber zur Festigung einer auf Demokratie orientierten Zivilgesellschaft.

Gerade eine starke Zivilgesellschaft wäre beim Aufbau demokratischer Gesellschaften erforderlich. Andrew Arato hat mit seinem Essay zur Solidarność und ihrem zeitweiligen Erfolg gegen den kommunistischen Staat in Polen den Begriff der Zivilgesellschaft (Arato 1981) wieder in die internationale Diskussion eingeführt. Nach Arato hatte die sich gegen die kommunistische Staatsmacht ausbildende polnische Zivilgesellschaft mit der Zulassung der Solidarność einen Sieg gegen den kommunistischen Staat errungen.

Mit dieser Aussage verband sich ein zweifaches Missverständnis. Zum einen erwies sich die polnische Zivilgesellschaft als weit schwächer, als Arato unterstellte. So kam bei den polnischen Präsidentschaftswahlen 1990 der mit der Solidarność eng verbundene Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki nur auf den dritten Platz. Den Weg in die Stichwahl gegen Lech Wałęsa schaffte dagegen ein völlig unbekannter Kandidat, der mit populistischen Parolen erfolgreich war.

Zum andern beinhaltet der heutige Begriff der Zivilgesellschaft, dass diese den Staat einerseits auf verschiedenen Ebenen kontrolliert, andererseits aber durch die Anerkennung der Werte, auf der er beruht, wesentlich stützt. Je stärker eine solche Zivilgesellschaft, desto stärker das betreffende Gemeinwesen. Genau hier zeigen sich die Defizite des realsozialistischen Erbes in vielen Gesellschaften Ostmittel- und Südosteuropas. Im Realsozialismus konnten sich von der Partei unabhängige Strukturen kaum entfalten, was oft auch durch den historischen Hintergrund der jeweiligen Gesellschaft zu erklären war.

Zivilgesellschaftliches Engagement hat sich in den in diesen Beitrag einbezogenen Regionen unterschiedlich entfaltet. Bei den Balten war es Ende der 1980er-Jahre relativ hoch, was mit zur Anerkennung der Unabhängigkeit durch die UdSSR 1991 beigetragen hat und auch den relativ hohen Status rechtsstaatlicher Kriterien im BTI erklären mag. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind in Ostmitteleuropa mittlerweile sehr aktiv und verstärken, je nach dem aktuellen Konfliktpunkt, sehr wohl die gesellschaftlichen Diskussionen und sind bei entsprechenden Demonstrationen über die Massenmedien, soziale Netzwerke etc. auch im Ausland sichtbar. In den Gesellschaften Südosteuropas, zumal in den ethnisch gespaltenen, sind solche Ansätze bisher geringer, beginnen sich aber in Ländern wie Rumänien oder Bulgarien kräftig zu entwickeln.

6 Externe Akteure

Zu den wichtigsten externen Akteuren, die den Prozess in Richtung einer demokratischen Konsolidierung des politischen Systems in den postkommunistischen europäischen Staaten fördern konnten, zählten die Europäische Union und die NATO. Beide verbanden in den 1990er-Jahren mit einer Aufnahme in ihre Organisation rechtsstaatliche Kriterien, deren Erfüllung für die Aufnahme der bisherigen kommunistischen Staaten obligatorisch war. Hierzu zählten bei der Aufnahme in die NATO etwa die Unterordnung des Militärs unter zivile Aufsicht, was nicht bei allen Beitrittskandidaten leicht durchsetzbar war. Die Slowakei erhielt unter dem autoritären Premierminister Mečiar keine Einladung zum Beitritt und wurde trotz des Regierungswechsels von 1998 im Gegensatz zu Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn nicht 1999 in die NATO aufgenommen, sondern erst in der nächsten Beitrittsrunde 2004 mit Bulgarien, Rumänien, den baltischen Staaten und Slowenien.

Gegenwärtig scheinen die Aufnahmekriterien zur NATO eher von geopolitischen Erwägungen geprägt zu sein. Montenegro etwa wurde 2017 als Mitglied akzeptiert, obwohl allgemein bekannt war, dass Premierminister Đukanović das Land wie ein Familienunternehmen führte und offensichtlich mit der italienischen Mafia zusammenarbeitete (Patrucić 2018, S. 21 f.).Footnote 16 Voraussetzung für Aufnahme ist die erfolgreiche Teilnahme am Membership Action Plan (MAP). Nach der Beilegung des Streits mit dem NATO-Mitglied Griechenland um den Namen des Landes war der Weg frei für die Aufnahme Nordmazedoniens im März 2020. Nach der Aufnahme Albaniens 2009 ist damit fast jeder Küstenstaat der Adria NATO-Mitglied. Seit 2010 nimmt Bosnien-Herzegowina am MAP teil.

Seit der Europäische Rat 2003 in Thessaloniki festgestellt hat, dass alle Staaten des Westbalkans eine Beitrittsperspektive zur EU besitzen, vor der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen jedoch bestimmte Kriterien erfüllt sein müssen, haben Nordmazedonien (2005), Albanien (2010), Montenegro (2010) und Serbien (2013) den Status von Beitrittskandidaten erhalten. Bosnien und Herzegowina ist seit 2014 „potenzieller Beitrittskandidat“. Keiner dieser Staaten hat jedoch auf absehbare Zeit eine realistische Chance in die EU aufgenommen zu werden.

Denn ein Hauptproblem der Union neben der Bewältigung aktueller Probleme wie der Bekämpfung der Corona-Pandemie lautet: Wie können Staaten, die den Anforderungen eines Rechtsstaats nicht mehr gerecht werden, zur Einhaltung der entsprechenden Standards veranlasst werden? Dass diese Standards in einigen Staaten gesunken sind, in Polen und vor allem Ungarn sogar drastisch, belegt ein Vergleich der Tab. 1 und 2 zu den BTI-Bewertungen 2006 und 2020. Das Instrumentarium, das der EU zur Verfügung steht, um die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten, hat sich als zu schwerfällig und wenig praktikabel erwiesen. Der Einsatz des Anfang November 2020 neu eingeführten Rechtsstaatsmechanismus könnte hier eine Abhilfe schaffen. Dass Ungarn und Polen angesichts dieses neuen Instruments zunächst ihr Veto gegen den Mittelfristigen Finanzrahmen 2021–2027 in Höhe von mehr als einer Milliarde Euro und das von der EU-Kommission aufgelegte Aufbauprogramm zur Überwindung der durch die Corona-Pandemie verursachten wirtschaftlichen Schäden in Hohe von 750 Mrd. einlegten, wird voraussichtlich nur eine Zwischenstufe sein. Das Veto kann bei einer harten Haltung der EU der polnischen, aber auch der ungarischen Regierung ggfs. erhebliche innenpolitische Schwierigkeiten bereiten. Bei einem eventuellen „weichen“ Kompromiss, der nach aller Erfahrung eher zu erwarten ist, dürfte es für Ungarn und Polen kaum Anreize geben, sich künftig stärker an rechtsstaatliche Vorgaben zu halten.

Wer könnte sonst als externer Akteur Einfluss auf die Einhaltung der geltenden Regeln nehmen? An erster Stelle wären hier die europäischen Parteienfamilien zu nennen, zu deren Mitgliedern zum Teil Parteien neuer Mitgliedsstaaten mit einem zweifelhaften Demokratieverständnis gehören. An erster Stelle steht hier die Europäische Volkspartei, deren Mitglied der Fidész seit 2002 ist. Nachdem Ermahnungen nicht zu einem veränderten Demokratieverständnis führten, wurde der Fidész erst vor den Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 in seiner Fraktionszugehörigkeit suspendiert, aber bis heute nicht ausgeschlossen. Die EVP ist jedoch nicht der einzige europäische Parteienzusammenschluss, der sich solche Vorhaltungen machen muss. Auch die Fraktion der „Progressiven Allianz der Sozialdemokraten“ hat die rumänische PSD, deren Führungspersonal massiver Korruption beschuldigt und deswegen zum Teil gerichtlich verurteilt wurde, über Jahre in den eigenen Reihen geduldet. Ihre Mitgliedschaft in der Fraktion wurde ebenfalls erst vor den Europawahlen 2019 suspendiert. Auch die Fraktion der Liberalen (ALDE) hat mit der Partei ANO des tschechischen Ministerpräsidenten Andrej Babiš, einem populistischen Oligarchen, einen „merkwürdigen Bettgenossen“ (Hlousek und Kopeček 2020). Im Falle der Parteienzusammenschlüsse im Europäischen Parlament überwiegt offensichtlich die Überlegung, durch große Fraktionsstärke Anspruch auf möglichst viele Positionen im Präsidium und den Ausschüssen des EP reklamieren zu können.

Häufig wenig sichtbare externe Akteure, die vor allem den Aufbau der Zivilgesellschaft fördern, sind ausländische Organisationen wie etwa die deutschen politischen Stiftungen. Es ist kein Zufall, dass Orbán gerade ein Paradeprojekt solcher langfristigen ausländischen Unterstützung für die Entwicklung der Demokratie wie die renommierte Central European University in Budapest, die im Wesentlichen durch Gelder aus dem Umfeld von George Soros gefördert wird, ein Dorn im Auge ist. Sie ist inzwischen vor allem in Wien tätig. Die Wirkung solcher externen Demokratieförderung ist auf Nachhaltigkeit angelegt. Rückschläge bei der demokratischen Entwicklung des politischen Systems wie in Ungarn kann es geben. Gleichwohl wachsen an demokratischen Werten orientierte junge Eliten nach.

Die Richtung, in der autoritäre Politiker in Ostmittel- und Südosteuropa versuchen ihre Macht zu stärken, ist eindeutig: Abbau horizontaler Kontrollen im politischen Institutionensystem; möglichst weitgehende Beschränkung der Autonomie der Zivilgesellschaft, insbesondere der Medien; ständige politische Polarisierung der Gesellschaft; Belohnung loyaler Gefolgsleute mit Pfründen, die dem Staat zur Verfügung stehen,Footnote 17 u. a. Das Muster der Herrschaftsausübung ähnelt damit dem populistischer Regime in anderen Weltregionen (vgl. z. B. Pappas 2019).

Die Entwicklung in der untersuchten Region geht jedoch nicht zwangsläufig in Richtung eines weiteren Abbaus des rechtsstaatlichen Regelwerks. Eine Umkehr dieses Trends könnte nicht nur durch eine Verschärfung externer Einflussnahme, etwa durch die EU, erfolgen. Hoffnung macht auch, dass die Zivilgesellschaft stärker sichtbar wird, etwa bei großen Protestdemonstrationen 2018/19 in der Tschechischen Republik, der Slowakei, RumänienFootnote 18 oder Bulgarien. Wichtig ist, dass es dieser Zivilgesellschaft gelingt sich dauerhaft zu organisieren.