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Auswirkungen der Abweichungskompetenz der Länder

Methodische Überlegungen und erste Resultate am Beispiel des Naturschutzrechts

The effects of the new right to deviate from federal law

Methodological considerations and first findings from natural conservation law

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Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Die mit der Föderalismusreform I 2006 erstmals eingeführte Abweichungsgesetzgebung der Länder wirft Fragen danach auf, wie diese genutzt wird, welche Effekte die neue Kompetenz hat und ob Wettbewerb zwischen den Ländern gefördert wird. Zur Naturschutzpolitik gab es die vehementesten Diskussionen um die möglichen Folgen dieser Neuerung. Zugleich wurden dort die meisten Abweichungsgesetze beschlossen. Daher fragt dieser Beitrag am Beispiel der Naturschutzpolitik nach den Effekten der Abweichungskompetenz. Dabei liegt der Schwerpunkt auf Datenquellen und automatisierten Analyseverfahren, mit denen Gesetzestexte analysiert werden können, um diese Frage tragfähig zu beantworten. Erste quantitative Resultate anhand der hier vorgestellten Verfahren zeigen zum einen, dass die Länder durchaus Abweichungsgesetze beschließen, dass es hier einen Schwerpunkt im ersten Jahr gab und einige Länder besonders häufig abweichen. Zudem sind einige Themengebieten des Bundesnaturschutzgesetzes besonders betroffen. Eine erste exemplarische qualitative Analyse der Abweichungen zeigt, dass die Länder die Kompetenz nutzen, um vorheriges Landesrecht wiederherzustellen. Darüber hinaus verfolgen sie jedoch auf diesem Wege auch politische Gestaltungsprojekte, etwa in Folge eines Regierungswechsels.

Abstract

The reform of German federalism that was adopted in 2006 introduced a new category of legislative competence that allows for the Länder to individually deviate from federal law. This so-called “Abweichungskompetenz” raises a number of questions, such as how this impacts on policies and if it leads to increasing competition between the Länder. The most heated controversies on the potentials and pitfalls of this new kind of competence can be found in the field of nature conservation, while this field displays the highest numbers of adopted rules according to this new setting. Therefore this paper explores the effects of this new category of competence drawing on the example of nature conservation policy. In doing so, we focus on questions of data sources and automated procedures for a comprehensive analysis, yet the procedures that are presented also allow for giving first results. In terms of quantitative analysis we can state that the Länder do adopt such laws, mostly in the first year in which the opportunity was given. There are Länder that deviate from the federal nature conservation act more often than others, and there are fields of regulation that attract particularly frequent deviations. A first exemplary qualitative analysis ascertains that Länder indeed use the new right in order to re-establish formerly valid Länder law. Yet, they also pursue political projects, for example after a change of government.

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Abb. 1
Abb. 2
Abb. 3

Notes

  1. Überdies wurde mit Art. 84 Abs. 1 GG ein Abweichungsrecht der Länder für die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren, sofern die Länder Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen, eingeführt (vgl. Schneider 2013, S. 574 ff.).

  2. Als Übergangsregelung sieht Art. 125b Abs. 1 Satz 3 GG ein Moratorium vor. Für die Naturschutzpolitik galt der 1. März 2010 als „Stunde Null“, als das neue Bundesnaturschutzgesetz in Kraft trat, von dem die Länder fortan abweichen durften (Hendrischke 2014). Zweck dieses Moratoriums war u. a., das Umweltgesetzbuch (UGB) erarbeiten zu können, bevor die Länder mit der Abweichung beginnen (Kloepfer 2012, S. 413). Allerdings scheiterte das UGB, der naturschutzrechtliche Teil wurde jedoch weitgehend als Bundesnaturschutzgesetz beschlossen.

  3. Von der Abweichung ausgenommen sind für das Jagdwesen das Recht der Jagdscheine, für den Naturschutz die allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes, der Artenschutz und der Meeresnaturschutz sowie für den Wasserhaushalt die stoff- und anlagenbezogenen Regelungen. Dies war das Angebot der Länder, um Sorgen des Bundes, die Abweichungsgesetzgebung könne im Natur- und Gewässerschutz zu einem Deregulierungswettbewerb führen, zu begegnen (Scharpf 2009, S. 101).

  4. Damit wird deutlich, dass sich die Logik der Abweichungsgesetzgebung im Zeitverlauf ändern könnte.

  5. Der Begriff der substantiellen Abweichungen wird hier eingeführt als Kategorie für solche Abweichungen, die nicht lediglich zuvor bestehendes Landesrecht „restituieren“. Schneider bezeichnet diese als „echte“ Abweichung (2013, S. 598).

  6. Grundsätzlich sollte es in der Naturschutzpolitik möglich sein, anhand rechtlicher Regelungen auf eine Steigerung oder Senkung des Schutzniveaus – gegenüber einer Regelung des BNatSchG – zu schließen (vgl. Petschulat 2015, S. 388). Dabei muss die Problematik der häufig mangelnden Umsetzung des Naturschutzrechts zunächst ausgeklammert werden, ebenso wie der Umstand, dass umfassende Fragen eines optimalen Naturschutzes über die Frage des Niveaus einzelner Abweichungsgesetze hinausgehen.

  7. Wir klammern hier aus, welche Auswirkungen es hat, dass das Bundesnaturschutzgesetz als Vergleichsgröße (s. oben) ein „moving target“ ist, also selber seit seinem Inkrafttreten von 2010 mehrfach – teils auch in Reaktion auf die Gesetzgebung der Länder – geändert wurde.

  8. Händischen Auswertungen liegen den bislang vorliegenden Daten zugrunde. Die ZIRUM-Studie zählte bis Ende Oktober 2013 240 Abweichungen (2014, S. 268–288), Hendrischke ermittelte bis August 2014 144 Abweichungen (2014, S. 23); Schneider (s. oben) kam bereits zum Stand Ende 2012 auf 161 Abweichungen. Es werden also je nach Erhebungsmethode unterschiedliche Ergebnisse produziert, die dementsprechend nicht miteinander vergleichbar sind.

  9. Eine eingehendere Diskussion der verfügbaren Datenbanken und der Gründe für unsere Auswahl kann hier aus Platzgründen nicht stattfinden.

  10. Buzer.de ist aus dem Engagement einer Privatperson entstanden und ermöglicht einen kostenfreien, aktuellen und vollständigen Einblick in geltendes und früheres Bundesrecht Teil I seit 2006. Neben geltenden Vorschriften werden zusätzlich die früheren Fassungen archiviert. Außerdem können Textänderungen durch Synopsen bzw. Hervorhebungen kenntlich gemacht werden. Dabei handelt es sich um Volltextabruf- und Durchsuchungsmöglichkeiten.

  11. Elasticsearch ermöglicht z. B. dokumentenorientiertes Arbeiten. Für die spätere Suche werden zu indizierenden Daten als JSON-Dokumente an ElasticSearch übergeben und gespeichert. Für die hier verfolgte Analyse ist die Indexierung von Dokumenten bzw. Paragraphen entscheidend. In einer Excel-Tabelle wurden hinsichtlich der Abweichungsgesetzgebung auf Basis des BNatSchG Kategorien erstellt und mit Daten gefüllt. Über Elasticsearch wird aus der Excel-Datei eine Suche per Index ermöglicht; siehe Gormley und Tong (2015).

  12. Kibana ist ein grafisches Frontend, das speziell zur Darstellung von Daten aus Elasticsearch entwickelt wurde, d. h. es ermöglicht die Suche sowie Visualisierung der in Elasticsearch-Indizes enthaltenen Daten; siehe unter: https://www.elastic.co/products/kibana, zuletzt eingesehen am 03.09.2017.

  13. Die frei zugängliche Datenbank buzer.de bietet z. B. keinerlei inhaltliche Abbildung der Details der Abweichungsgesetze auf Länderebene an. Bei der Bundesrechtsdatenbank (www.gesetze-im-internet.de) werden nahezu alle Abweichungen auf Länderebene bezogen auf die Bundesnorm BNatSchG dokumentiert. Allerdings wird bei einem Klick auf die entsprechende Fundstelle auf Länderebene nur der aktuelle Stand der inhaltlichen Änderungen angegeben. Dadurch können etwa inhaltliche Änderungen über die Zeit (Gesetzgebungshistorie) nicht erfasst werden. Um den Stand der Landesnaturschutze vor 2010 zu erhalten, müssen also zusätzlich die kostenpflichtigen Datenbanken http://www.beck-online.de und http://www.umwelt-online.de herangezogen und zunächst händisch ausgewertet werden. Da die Auswertung händisch erfolgte und in eine Excel-Tabelle übertragen wurde, bestehen für die Nutzung von beck-online keine rechtlichen Einschränkungen.

  14. Ohne der Frage der Ursachen hier vorgreifen zu wollen, deutet sich an, dass es Fälle gibt, in denen solche Kurswechsel infolge von Regierungswechseln erfolgen. In Schleswig-Holstein wurde das Gesetz von 2010 unter der zweiten Regierung Carstensen (CDU/FDP), das Gesetz von 2016 unter der Koalition von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und SSW beschlossen.

  15. Ob dies einen schwächeren oder stärkeren Naturschutz bedeutet, kann man aber nicht ohne Weiteres sagen, da bei den (alternativen) strikten ordnungsrechtlichen Instrumenten immer auch deren allfälliges Vollzugsdefizit mit einkalkuliert werden muss.

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Danksagung

Die AutorInnen danken Thomas Krämer (xitio, Eschweiler) für die fachkundige Unterstützung bei der Datenanalyse, Dennis Kurrek für seinen Einsatz in der Datenaufbereitung, den TeilnehmerInnen der Tagung der DVPW-Sektion Policyanalyse und Verwaltungswissenschaft im September 2017, den beiden anonymen GutachterInnen sowie Detlef Sack für hilfreiche Hinweise zu einer ersten Fassung dieses Beitrags.

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Töller, A.E., Roßegger, U. Auswirkungen der Abweichungskompetenz der Länder. Z Vgl Polit Wiss 12, 663–682 (2018). https://doi.org/10.1007/s12286-018-0400-2

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