„Um aus der Krise herauszutreten, brauchen wir mehr Europa“

(Viviane Reding)

Es ist mir Ehre und professionelles Behagen, der ERA zu ihrem zwanzigjährigen Bestehen zu gratulieren.

Wie in den letzten Jahren ist die schwere wirtschaftliche Krise immer noch ein dominierendes internationales Thema. Auf das vereinigte Europa haben die wirtschaftliche, die Verschuldungs- und Finanzkrise eine nachteilige Wirkung. Sie treffen Europa in einer Zeit dauerhafter und sich sprunghaft intensivierender Integration.

Die wirtschaftliche Integration wurde mit dem Maastrichter Vertrag vertieft. Die Währungseinheit und der Schengen-Raum eröffneten neue Dimensionen, mit denen die von den Vätern der Europäischen Union erträumte Integration nicht nur erreichbar, sondern immer greifbarer wurde. In dieser Hinsicht hat die Krise die Stabilität der einheitlichen europäischen Währung und damit die Struktur der EU erschüttert und die politische Integration im Ganzen auf die Probe gestellt. Die Kritik konzentrierte sich nicht nur auf einzelne Aspekte des Maastrichter Vertrags, bezweifelt wurde auch die Grundlage der künftigen Politischen Union.

Auch die Ereignisse in Nordafrika haben die europäische Integration vor zusätzliche Herausforderungen gestellt. Obwohl zutiefst demokratisch nach ihrem Charakter, verursachte die „Arabellion“ eine Flüchtlingswelle und diese stellte das Funktionieren des Schengen-Raumes auf eine Probe. Man hörte allerlei Vorschläge für neue Kompetenzen, für die Umrüstung der Innenverhältnisse im Schengen-Raum und manche extremen Thesen über die Existenz dieses Vertrags.

Diese Situation bringt mich zu der Überlegung, ob die Konstruktion der Währungsunion ein Hindernis für die Erreichung politischer Integration ist oder ob sie uns, da wir den Aufbau der Europäischen Politischen Union noch nicht geschafft haben, schwächer, instabiler und von den weltwirtschaftlichen Prozessen abhängiger macht.

Allein ich habe keine Zweifel an den Selbstheilungskräften Europas. Ich bin mir sicher, dass Europa um so stärker wird, je mehr es eine stärkere Beziehung zwischen den Bürgern und der Union selbst aufzubauen versteht. Eine einheitliche Gesetzgebung in gewissen Rechtsgebieten, die Gründung von Aufsichtsinstitutionen, die Etablierung einer Europäischen Staatsanwaltschaft und eines Gerichts, an die man sich wenden kann, wenn die Interessen Europas und unsere europäischen Rechte verletzt sind; ein absehbarer Rechtsschutz für die Opfer von Kriminalität – all das sind politische Anstrengungen, welche das Leben der europäischen Bürger verbessern, sie unter die gleichen Bedingungen stellen und ermöglichen sollen, dass sie ihren Beitrag für die Integration Europas leisten können.

Die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und wir alle sollen diesen Prozess vorantreiben. Ich bin begeistert von der Themenstellung dieses Jubiläumskongresses: Unionsbürgerschaft, gemeinsame Strafgesetzgebung im Bereich der grenzüberschreitenden Kriminalität und Korruption mit einer neuen Vision für den Schutz der finanziellen Interessen der Union in Richtung Europäische Staatsanwaltschaft. Ich bin stolz, dass ich als Staatsanwältin 2008 trotz allen Schwierigkeiten und mit der selbstlosen Unterstützung deutscher Kollegen und des damaligen OLAF-Vorstands die Spezialabteilung für die Bekämpfung der Betrügerei zum Nachteil der EU-Fonds begründet und geleitet habe.

Kriminelle Gruppierungen mit einem Ursprung in Europa, aber außerhalb der EU bauen ihre internationalen kriminellen Kontakte aus und greifen auch über Wirtschaftsdelikte gezielt die sozialen Strukturen der europäischen Gesellschaft an. Eine Mehrzahl von Forschern ist der Meinung, dass diese Gruppen in der Lage sind, ohne Schwierigkeiten effizient zu operieren. Es ist beunruhigend, dass die Organisierte Kriminalität sich als Teil der Wirtschaft und als „politisches“ Prinzip zu etablieren beginnt. Wir brauchen eine Bedrohungsanalyse.

Die strukturellen Umwälzungen, die für einen offenen Binnenmarkt typischen Kontrolldefizite, die Vielzahl und Komplexität gesetzgeberischer Aktivitäten sowie die Anfälligkeit von Teilen der wirtschaftlichen, politischen und administrativen Eliten für Korruption in etlichen, wenn auch nicht in allen Staaten werden von der Organisierten Kriminalität planvoll ausgenutzt. Schon jetzt ist es nicht zu übersehen, dass die Finanzierungsbedürfnisse politischer Parteien, die Machtinteressen von Politikern und die Gewinnorientierung von Unternehmen in unheilvoller Weise zusammengewachsen sind. Insbesondere die Korruption hat sich zum verführerischsten und gefährlichsten Leitmotiv der Moderne entwickelt.

Heute, in den für Europa und die Welt so schwierigen Zeiten der Finanz-, Verschuldens- und Wirtschaftskrise, führt der Weg zu einem stärkeren Europa über die Entwicklung und die Umsetzung einer europäischen Politik, die in der Lage ist, die finanzielle Sicherheit und Stabilität Europas durch Haushalts- und Finanzdisziplin sowie generell durch Ordnung und Verantwortungsbewusstsein zu gewährleisten.

Mehr denn je müssen wir uns im Klaren sein, welche Politik die europäischen Institutionen führen sollen, wessen Aufgabe der Schutz der finanziellen Interessen der EU ist; was die heutigen und die langfristigen Ziele sind, welche Motivation ein jeder der europäischen Akteure hat, wie diese ausgewählt werden und welchen Beitrag sie für die Etablierung der demokratischen Werte leisten. Der Zusammenbruch ganzer sozialer Systeme weltweit und in Europa ist durch Korruption bedingt, wie auch durch den Abschluss skrupelloser politischer Kompromisse, welche die Prinzipien des Rechtsstaats nachhaltig in Frage stellen. Der Vorrang des Gesetzes und dessen Beachtung sind die Werte, von denen der Erfolg der Reform auf jedem Gebiet des öffentlichen Lebens abhängt, wie auch der Erfolg der Entwicklung einer starken Bürgergesellschaft, welche zufrieden ihr Leben steuern kann.

Schlüsselbegriffe im so gekennzeichneten Bild sind:

  • Werte,

  • Institutionen,

  • feste Behördenstrukturen,

  • Regeln,

  • Vertrauen.

Die Geschichte liegt wieder einmal in unseren Händen. Wir brauchen eine tiefere politische Integration, und in ihrem Kern liegt die Rechtsintegration. Wird die Rechtsintegration öffentlich als Ziel zum Ausdruck gebracht, so wird das von den Bürgern mit Sympathie entgegengenommen.

Die genaue Richtung ist: Mehr Europa! Die Rechtsintegration ist der Kern dieses Ziels. Arbeiten wir daran auch auf der Grundlage des fachmännisch vorbereiteten Programms dieses Kongresses!

Nochmals meine Gratulation zum Jubiläum der ERA! Wir sind stolz darauf, dass die Europäische Rechtsakademie eine starke europäische politische und professionelle Elite zusammengebracht hat, im Namen der angestrebten Zukunft der EU.

Mehr Europa, mit vielen Europäern auf der europäischen Bühne – das ist meine Botschaft an Sie und an die EU am heutigen Tag.