Herfried Münkler, einer der produktivsten und anregendsten deutschen Politologen, hat eine neue Monografie vorgelegt. Das alleine ist noch keine besondere Meldung, denn Münkler legt sehr häufig, häufiger als die meisten seiner Fachkolleginnen und -kollegen, neue Bücher vor: Sie sind von einer erstaunlichen thematischen Breite, die keiner seiner Kolleginnen und Kollegen vorzuweisen hat, sind einerseits klassischen Autoren der politischen Ideengeschichte gewidmet, von den alten Griechen über Machiavelli und Thomas Hobbes bis zu modernen und zeitgenössischen, greifen zentrale politische Probleme auf wie – ausgehend von Clausewitz – den Krieg, dessen Veränderungen Münkler in seinen Publikationen eingehend beschrieben hat, beschreiben die Mythen der Deutschen und deren Fortwirkung wie auch die Interessen, die deutsche Politik nach innen wie außen vertreten sollte. Es ist die Vielfalt des Politischen, die Münklers analytische Lust weckt und ihn zu immer neuen, oft überraschenden Einsichten führt, deren kontroverse Diskussion zumeist folgenreich ist und nicht zuletzt bis in die Spitzen der politischen Führungseliten Folgen zeitigt.

Mit dem neuen Buch kehrt Münkler in sein ursprüngliches Gebiet der politischen Ideengeschichte wieder zurück. Mit dem Versuch, drei der wichtigsten und einflussreichsten Figuren des 19. Jahrhunderts in eine gegenseitige Beziehung zu setzen, will er den Kosmos jenes Jahrhunderts aufrufen – mit Marx eine weitreichende Gesellschaftsanalyse, die nach einem Hoch während der 1870er- und 1880er-Jahre im Verschwinden begriffen schien und in letzter Zeit eine Wiederbelebung erfuhr; mit Wagner jenen Begründer des Gesamtkunstwerks, dessen (oft unverstandene) Komponenten in vielen Bereichen, der Politik so gut wie der Kunst, nachwirken; mit Nietzsche jenen Autor, der auf seine Weise unerbittlich den Vorrang jenes Menschen betont hat, der seine Individualität und Freiheit erkämpfen und verteidigen muss gegen die sich abzeichnende Tendenzen der Vermassung. Alle drei stehen, so meint Münkler, für „unterschiedliche Blickweisen auf Gesellschaft und Kultur“, und das mache es spannend, sie vergleichend zu betrachten (S. 11). Solche Blickweisen sind allerdings auch durch ähnliche Lebenserfahrungen begründet: Marx wie Wagner hatten Revolutionserfahrung, bei beiden spielte der Antisemitismus eine Rolle, beide plus Nietzsche waren typisch für ihr Jahrhundert – eine Zeit der Industrialisierung und der Durchsetzung der europäischen Weltherrschaft (S. 18). Alle drei sahen den Umbruch der Welt, Wagner und Nietzsche als Niedergang, Marx dagegen als Beginn eines enormen Fortschritts.

Zunächst sucht Münkler herauszufinden, inwiefern die drei Protagonisten voneinander wussten und was sie voneinander wussten. Für Marx konstatiert er eher zugetragene Kenntnisse des Rings und – im Umfeld der ersten Festspiele von 1876 – abfällige Äußerungen über den sogenannten Staatsmusikanten; für Wagner spekuliert er über Möglichkeiten, von Marx gehört zu haben, obgleich es sehr handfeste Indizien dafür gibt, dass Wagner von Marx einiges wusste, mehr als Münkler ihm zugesteht. Dass Nietzsche mit Wagner über Jahre engste, wenngleich schwierige Beziehungen pflegte, ist bekannt. Und doch ist es ein intellektuelles Vergnügen, das informelle Beziehungsgeflecht zwischen diesen drei Großprotagonisten des 19. Jahrhunderts in der präzisen Diktion des Autors mitzuvollziehen und zu sehen, wie sich durch den Vergleich die jeweiligen Profile schärfen.

Nach diesem einführenden Kapitel, dem sich die Darstellung der kontroversen Einstellungen von Marx, Wagner und Nietzsche zur Wiederbelebung der antiken Tragödie anschließt, – Darlegungen, die in der Präsentation der ästhetischen Positionen zugleich die gesellschaftlich-politische Orientierung aufspürt, – geht Münkler dann dazu über, seine drei herausragenden Repräsentanten in Bezug auf bestimmte Knotenpunkte zu vergleichen: Umgang mit Krankheit und Schulden, Haltung zur Revolution, Reichsgründung 1871 und die Haltung zu den Deutschen, Religion und Religionskritik, Mythos und Logos in der Arbeit, Gesellschaftsanalysen, Haltung zu den Juden und schließlich das abschließende Kapitel über das Verhältnis von Gesellschaft, Kunst und Werteordnung. Es sind jene thematischen Topoi, die sich als verbindende herausstellen, weil Marx eben nicht nur Gesellschaftstheoretiker und Ökonom, sondern auch an Kunst und Kultur interessiert war und sich beispielsweise fragte, weshalb die Kunstwerke der alten Griechen uns noch immer berühren, obwohl doch die materiellen Umstände ihrer Produktion andere als die der eigenen Zeit waren und sie dem modernen Bewusstsein eigentlich fremd sein mussten. Und Wagner wollte nicht nur der Oper seiner Zeit ein neues, anspruchsvolles Musikdrama entgegenstellen, sondern zugleich auch die gesellschaftlichen Bedingungen seiner damit verbundenen ästhetischen Utopie klären. In Nietzsches Philosophie war die Frage, ob und wie der Hereinbruch der modernen Massengesellschaft aufgehalten werden könne zugunsten einer elitären Ausrichtung aller wichtigen Bereiche der Moderne, deren integraler Bestandteil. Es sind ähnliche, gelegentlich dieselben Themen, die alle drei beschäftigen, und nur weil das so ist, macht ein Vergleich überhaupt Sinn.

Einer jener Knotenpunkte, die zum Vergleich einladen, ist die Haltung zu den gescheiterten Revolutionen von 1848/49 und zu Deutschland im Allgemeinen (S. 139–173). Für Marx war die Revolution von 1848/49 eine bloße Episode, kein politischer Einschnitt, der Krieg gegen Frankreich jene erforderliche „Prügel“, die jene brauchten (S. 145) und zugleich die historische Bestätigung für die Vorreiterrolle der deutschen Arbeiterschaft. Wagner sah im Sieg das kulturelle Geschichtsbewusstsein der Deutschen gegen den französischen Alltagsgeist ausgespielt und erwartete die Wiederherstellung der alten Machtstellung des Deutschen Reiches. Während Nietzsche die historische Selbstüberhöhung der Deutschen ablehnte.

Wo von Deutschland die Rede war, war auch Preußen präsent. Die Vorbehalte von Marx gegen diesen Hort der Reaktion werden ausführlich referiert, Engels Analyse der sogenannten natürlichen Grenzen Deutschlands – in Sprache und Kultur – in ihren Konsequenzen für ein großdeutsches Reich als auch von Marx geteilt dargelegt. Solche Vorbehalte teilte auch Wagner, der sich allerdings nach der Einheit um Unterstützung der Festspiele vergeblich an Bismarck wandte. Und erst recht sah Nietzsche in Bismarck das Ende der deutschen Philosophie und Literatur gekommen (S. 174). Doch die Positionen verschoben sich. Marx sah strategische Vorteile mit Preußen verbunden, Wagner versuchte eine kurze Annäherung, revidierte aber zugleich in seiner Schrift „Was ist deutsch?“ (1878) den politischen Anspruch und hob ganz auf die ästhetische Auslegung der Welt ab. Münkler sieht in der Abwehr des – aus Frankreich importierten – Politischen in Wagner den „Ziehvater eines intellektualistischen Antidemokratismus, der im Deutschland des 20. Jahrhunderts eine verhängnisvolle Rolle gespielt hat“ (S. 184), eine Feststellung, der sich auch widersprechen lässt; denn Wagners Haltung war – worauf der Autor nicht eingeht – Reflex auf den 1848 gescheiterten, demokratisch gewollten Einheitsprozess und damit ein Rückzug auf eine nach Meinecke kulturnationale Minimalposition. Dem kommt Nietzsche nahe, wenn er nach anfänglicher Bejahung der deutschen Einheit sehr bald die Deutschen auffordert, sich als gute Europäer zu verstehen. Man sieht im Vergleich: mal sind die Positionen näher beieinander, mal weniger. Was an den Darlegungen Münklers besticht, ist weniger der Vergleich als die in Details hinein verfolgten Argumentationsstränge, die zeigen, wie die Feinstruktur des Denkens aussieht und woran dieses anschließen kann.

Eines der großen intellektuellen Kapitel des 19. Jahrhunderts ist jene Bibelkritik, die die historischen Grundlagen der Evangelien überprüft und zu dem Schluss kommt, dass die Glaubenssätze der christlichen Kirchen der Revision bedürfen. Die These von Marx, wonach die Kritik der Religion die Voraussetzung aller weiteren Kritik ist, fasst zusammen, was den drei Heroen gemeinsam ist: Für Marx war die Religionskritik eine Etappe seiner Gesellschaftskritik, für Wagner war es zunächst die Ablehnung des Christentums, später dann nur der Kampf gegen dessen Institutionen, die Kirchen, für Nietzsche schließlich der Ausgangspunkt zu einer radikalen Kritik des Christentums. Die Konsequenzen waren unterschiedlich: Marx blieb bei seiner Ablehnung aller Religion, Wagner empfand die kirchlichen Verfälschungen als gesellschaftliche Defizite und entwickelt, so Münkler, das Gesamtkunstwerk als ästhetischen Religionsersatz, mit dem „ein zutiefst religiöser Gedanke“ (S. 213) verbunden einen neuen Menschen schaffen sollte, während Nietzsche kurz den Tod Gottes verkündet. Nietzsches Kampf um ein Leben ohne Gott wird ausführlich dargestellt, aber interessanter ist Münklers Interpretation des Wagnerschen Rings als einer Darstellung einer religiösen Welt (S. 225–274). Die kann im Einzelnen hier nicht nachvollzogen werden; sie bringt überraschende Aspekte und Perspektiven, versteht die rückerinnernden Erzählungen als religiöse Überformungen des Geschehens, sieht das Verhältnis Wotan – Alberich religiös konnotiert, versteht die Wissenswette als einen Strang, bei „der Genese religiöser Ordnungen“ im Ring (S. 233). Das alles ist, schlicht gesagt, eigenwillig, liegt quer zum allgemeinen Verständnis der Tetralogie, hat aber anregende Aspekte: So etwa die These, das Scheitern von Wotans Ordnungsvorstellungen sei Wagners Absage an religiöse Ordnungen, was dann auf den Parsifal verweise (S. 238), eine Verbindung dieser Werke, die auf den Spuren Wagners bleibt.

Mit Wagners bakunistischem Weltenbrand am Ende des Rings habe Marx nichts anfangen können, weil er nicht der Meinung gewesen sei, erst aus der totalen Zerstörung erwachse etwas vollkommen Neues. Und doch komme in der Warenanalyse des Kapitals das religiöse Moment wieder: Die in der Ware enthaltende entfremdete Arbeit trete dem Betrachter als „sinnlich übersinnliches Ding“ (S. 355) entgegen und zwinge dazu, eine religiöse Analogie darin zu sehen. Da gibt es plötzlich eine Annäherung zwischen dem revolutionären Theoretiker und dem ganz auf die Kunst setzenden, aber immer mit der Revolution sympathisierenden Komponisten. Ausführlich behandelt Münkler dann den Parsifal als Wagners Konzept der Erlösung (S. 253–289). Der „reine Tor“, lernfähig und seine Bestimmung erkennend, wird zum Erlöser, wobei Münkler meint, er folge – entgegen anderen Interpretationen – religiösen Vorgaben, was heißt, dass Wagner die Rolle der Religion in Gesellschaften für wichtig gehalten habe, wie auch sein Rückgriff auf Mythen zeige. Während Marx die Erlösung von Gesellschaften durch die Entwicklung von Produktivkräften erhoffte und Nietzsche die Religion verwarf, weil sie für ihn nur Züchtigungs- und Erziehungsinstrument war.

Abschließend sei noch auf das Kapitel über den Antisemitismus verwiesen (S. 437–492), ein bis heute immer wieder heiß diskutiertes Problem. Münkler geht zunächst den antisemitischen Spuren im Werk von Marx nach, der selbst Jude war, wenngleich ein konvertierter. Dessen bekannte Schrift Zur Judenfrage (1843) wird relativiert, weil sie vor seiner Beschäftigung mit der Ökonomie entstanden sei, die ihn dazu geführt habe, vom Staat zu fordern, alle Unterschiede der Geburt, des Standes, der Bildung und Beschäftigung aufzuheben. Die gesellschaftliche Gleichstellung der Juden sei für ihn folglich nur die Voraussetzung für die Gleichstellung aller Menschen in einer zukünftigen Gesellschaft gewesen. Im Unterschied zu Wagner sah Marx die Juden nicht in einer Sonderrolle, sondern ihre Funktion durch ihre Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt. Was ihn allerdings nicht davon abhielt, etwa im Verkehr mit Ferdinand Lasalle in übliche antisemitische Klischees zu verfallen.

Dagegen hebt sich der Wagnersche Antisemitismus massiv ab. Wagner habe – so Münkler – sich zu einer jüdischen Verschwörungstheorie gesteigert, die sich auch durch Realerfahrungen nicht hätte erschüttern lassen. „Auswerfung“ (S. 453) der Juden sei sein Postulat gewesen und selbst die sogenannten Regenerationsschriften seien vom Antisemitismus tief durchdrängt. Dem wäre einiges zu entgegnen, von dem Hinweis auf den Schluss der Judentums-Schrift, der für Deutsche und Juden gleichermaßen eine revolutionäre Bewusstseinsänderung fordert und dann lapidar erklärt, danach sei man „einig und ununterschieden“, bis hin zur Absage an Gobineaus Rassentheorie, die Cosimas Tagebücher überliefert, mit dem Diktum, die Rassen hätten ausgespielt. Solche gegenläufigen Äußerungen werden nicht bedacht, würden manches relativieren, was an Thesen formuliert wird.

Es würde einer eigenen umfänglichen Abhandlung bedürfen, sich mit Münklers Werk im Einzelnen auseinanderzusetzen und die weltanschaulichen Themenkomplexe, die allen gemeinsam sind wie Analyse der Grundstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft, Revolutionsvorstellung, Haltung zur künftigen, angestrebten gesellschaftlich-staatlichen Ordnung genauer und angemessen zu behandeln. Das lässt sich in einer kurzen Besprechung nicht machen. Aber die schon hier ausgewählten Aspekte zeigen eindringlich, dass die Lektüre dieses Buches sich unbedingt lohnt. Münkler schreibt in einem sehr luziden verständlichen Stil, fächert die Probleme nachvollziehbar auf und argumentiert mit einer Fülle von Thesen und Einsichten, die auch dem Fachkundigen noch Neues präsentieren, über das nachzudenken sich lohnt. Es ist ein bedeutendes Buch geworden, das Münkler hier vorlegt, mit dem der Referent in manchen Einzelheiten vor allem der Wagner-Interpretation nicht übereinstimmt, das aber umso wichtiger ist, weil es gelegentlich die Perspektiven der Auslegung einnimmt, die wider die allgemeine Übereinstimmung gehen. Und was ließe sich Besseres über ein Buch sagen, als dass es in mancher Hinsicht gegen den Stachel löckt und gerade darum wichtig ist.