Wenn Zeit das Leitthema dieses Heftes ist, so zeigt sich dieses in unterschiedlichen Facetten. Zum einen ist es ein Spiegel dieser außergewöhnlichen COVID-Zeit. Eine Zeit, die von einem Ausnahmezustand beherrscht wird, der uns unglaubliche Beschleunigungsschübe beschert, wenn die Mutationsgeschwindigkeit des Virus allemal die Entwicklungsgeschwindigkeit der Gegenmaßnahmen und der lebens- und arbeitsweltlichen Arrangements überholt. Ein Ausnahmezustand, der gleichzeitig Stillstand erzeugt, wenn die Lockdowns das öffentliche, schulische, berufliche und private Leben einstellen.

Eine Zeit, in der die Welt sich in einem allumfassenden Experiment mit ungewissem Ausgang befindet, wo Menschen gleichzeitig Forschende, Versuchspersonen und Entscheidende sind. Quasi eine gruppendynamische Verdichtung in großer Zahl.

Die Pandemie und die damit verbundenen Lockdowns sind die beherrschenden Themen des arbeitsweltlichen, beruflichen und privaten Alltags und bilden die Grundlage, den roten Faden der Beiträge in diesem Heft. Vor dem Hintergrund der aktuellen Krisendynamiken zeigen sich maßgebliche Veränderungen in Systemstrukturen, die bis dato als gegeben angenommen wurden. Damit verbunden ziehen sich notwendigerweise Veränderungsprozesse durch alle Strukturen menschlich geschaffenen Daseins. Aus der Veränderungsnotwendigkeit, ja dem Zwang heraus stellt sich die Frage nach Steuerung, Management und Beratung. Wie können Situationen gehandhabt werden? Welche Möglichkeiten gibt es? Wir haben es somit vermehrt mit Unsicherheitssituationen zu tun, in welchen gehandelt werden kann, ja teilweise sogar muss.

Die Digitalisierung erreicht ein neues Niveau von Möglichkeiten und Abhängigkeiten. Mittlerweile ist die Arbeitsfähigkeit von Organisationen abhängig von Hardware- und Softwarelösungen. Das papierlose Büro oder, in der gegenwärtigen Zeit, das papierlose Home-Office ist Realität geworden. Durch die neuen technischen Möglichkeiten (vgl. Bickmeyer 2021) werden Teile unseres Lebens in den digitalen Raum verlagert, ja mehr noch, manche Menschen scheinen fast virtuell zu leben.

Auch das öffentliche Leben bleibt nicht unberührt. Durch COVID erlebt die Gesellschaft einen der größten Digitalisierungsschübe überhaupt. Damit verbunden verändern sich Abläufe in Verwaltungsbetrieben und Staatsapparaten. Das Bildungswesen wird vor revolutionär anmutende Herausforderungen gestellt; damit verbunden ein gefordertes, mitunter auch gezwungenes, Umdenken bei Eltern, Schülern, Schulen und Bildungseinrichtungen.

Aufgrund der durch die COVID Situation evozierten Auswirkungen verändern sich ganze Wirtschaftssysteme in unterschiedlichen Ländern. Weiters bestimmt der gegenwärtige Umgang mitunter den Takt der Wirtschaft und damit die Funktions- und Arbeitsweisen von Organisationen.

Das Thema Zeit wird im vorliegenden Heft in den einzelnen Beiträgen in ganz unterschiedlicher Weise berührt. Die veränderten Zeitdynamiken treten in verschiedenen Kontexten, wie T‑Gruppen, Beratungssituationen, Coachings, unterschiedlichen Organisationstypen und Personalentwicklungen auf. Die Beiträge liefern Einblicke in Erkenntnisse dieser neuen Umfeldrahmenbedingungen in Zeiten von COVID. Dabei werden mitunter erste gesammelte und ausgewertete Erfahrungen beschrieben.

Dass eine Krise durchaus auch ihre positiven Seiten hat, zeigen die Praxisbeiträge aus dem Bereich der Gruppendynamik. Die Durchführung von virtuellen T‑Gruppen im Onlineformat hat sogar der klassischen traditionsbehafteten T‑Gruppe einen innovativen Schub beschert. Die über Jahrzehnte unangetasteten Designs mussten an das Onlineformat angepasst und verändert werden. Die Auswirkungen waren durchaus überraschend. Einige dieser Innovationen werden vermutlich auch in den zukünftigen Präsenzveranstaltungen ihren Niederschlag finden. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Praxisbericht von Matthias Csar mit dem Titel „Gruppendynamische Beobachtungen: Unterschiede in virtuellen Gruppen“, der die Verschiebung von Lernfeldern durch das digitale Format anhand der T‑Gruppenarbeit beschreibt. Karin Lackner & Ruth Erika Lerchster berichten in ihrem Beitrag mit dem Titel „Virtuelle Gruppendynamik: Die Online-Trainingsgruppe – ein inspirierendes Experiment oder ein Prozess ohne Sinne?“ von T‑Gruppen Online Veranstaltungen im akademischen Feld. Hier werden die reflektierten Erfahrungen aus der Perspektive der Organisation, der Trainer:innen und der Teilnehmenden beschrieben. Martin Schrötter & Wolfgang Obereder präsentieren und reflektieren in ihrem Beitrag mit dem Titel „Praxisbericht: Wie können Gruppendynamik-Trainings im Virtuellen gelingen?“ ein modifiziertes Design für zukünftige Online T‑Gruppen Veranstaltungen.

Auch in der Rubrik „Aktuelles“ wird auf die unmittelbare Auswirkung der COVID Krise Bezug genommen. Ein Interview mit dem Titel „Wie die virtuelle Welt uns zu narzisstischen Multitaskern gemacht hat“, geführt von Karin Lackner mit dem Personalentwicklungsleiter Ulrich Heitzlhofer des Rideshare Unternehmens Lyft in San Francisco, kommt aufgrund der praktischen Erfahrungen in diesem Unternehmensbereich zu ähnlichen Erkenntnissen. Die Veränderung von Zeitstrukturen zweitätiger Workshops in Präsenz hin zu wöchentlichen zweistündigen Online Veranstaltungen mit interimistischen Aufgaben führte zu einer Verdichtung des Engagements und zu einer Verbesserung der Leistungen. In diesem Interview werden auch Überlegungen zu einer post-pandemischen Personalentwicklung angestellt.

In der Anfangszeit der Pandemie wurden Jugendliche aus dem Blick verloren. Lea Heyer liefert in ihrem Beitrag mit dem Titel „Zeiterleben Jugendlicher in der Pandemie: Anforderungen an Gruppendynamik für post-pandemische Zeiten“ Ergebnisse aus einer empirischen Mixed-Method-Studie der Bertelsmann-Stiftung Einblicke in die Zeitwahrnehmung Jugendlicher in Zeiten der COVID Krise. Im Zuge dessen werden postpandemische Anforderungen an die Gruppendynamik abgeleitet.

Stephan Bedenk, Beate Fietze und Sebastian Kunert beschreiben in ihrem an die Beratungspraxis angelehnten Beitrag mit dem Titel „Chronos & Consultatio – Der Faktor Zeit in der Organisationsberatung“ unterschiedliche Zeitphänomene in Beratungsprozessen. Dabei wird die Bedeutung verschiedener Zeitaspekte auf der individuellen Ebene, der Ebene von Gruppen und Teams sowie der Organisation differenziert.

Eine quantitativ empirische Untersuchung mit dem Titel „Arbeits(zeit)souveränität in Projekten – Eine empirische Analyse zum selbstbestimmten Umgang mit Arbeit“, durchgeführt und beschrieben von Jörg von Garrel, die zwar ursprünglich unabhängig vor der COVID Krise durchgeführt wurde, kommt zu dem Ergebnis, dass die Pandemie Situation den Grad der Arbeitssouveränität beeinflusst. Mitarbeitende arbeiten aktuell orts- und zeitunabhängiger sowie selbstbestimmter als vor der Pandemie.

YouTuber sind in spezieller Weise durch Arbeitssouveränität herausgefordert. Ihre in der Selbstständigkeit verortete Freiheit wird durch die Abhängigkeit von einem durch Algorithmen gesteuerten System getrübt. Dieser Widerspruch wird in dem Beitrag von Milena Albiez mit dem Titel „Der Algorithmus, meine Arbeit und Ich – Einfluss von Algorithmen auf Content Creator:innen der Video Plattform YouTube“ theoretisch argumentiert und anhand einer qualitativ empirischen Studie beschrieben. Dabei wird besonders auf die Mechanismen des algorithmischen Steuerungsmodells fokussiert.

Welche Organisationsmodelle sind geeignet Startups, die sich mit Nachhaltigkeitsthemen auseinandersetzen, erfolgreich zu managen? Entlang dieser Fragestellung entwerfen Jörn Erbguth, Marianne Schörling, Nathalie Birt, Susann Bongers und Pamina Sulzberger in ihrem Beitrag mit dem Titel „Co-creating innovation for sustainability“ ein Organisations- und Strukturmodell basierend auf verschiedenen agilen Formaten und systemischen Denkfolien. In einer qualitativ empirischen Studie wird dieses Modell auf seine Wirksamkeit in der Welt nachhaltiger Organisationen überprüft.

Verwaltungsorganisationen erleben stärker als zuvor die Differenz von Wirklichkeitsansprüchen und dem digitalen Reifegrad einer Organisation. Thomas Meuche fokussiert in seinem Beitrag mit dem Titel „Einflussfaktoren auf den digitalen Reifegrad der öffentliche Verwaltung“ anhand theoretischer Überlegungen die digitalen Möglichkeiten in Verwaltungsorganisationen und die sich daraus ergebenden Herausforderungen. Vieles, was online möglich wäre und durch die COVID Krise notwendig geworden ist, so eine der Schlussfolgerungen des Autors, kann aufgrund der organisationalen und rechtlichen Bedingungen schwer in die operative Praxis integriert werden.

In einer quantitativen Studie widmen sich Evelyn Kästner und Katja Rudolph Unternehmen in innovationsfernen Branchen und gehen der Frage nach wie innovative Verhaltensweisen bei Mitarbeitenden gefördert werden können. Als Ergebnisse des Beitrags mit dem Titel „Die jungen Wilden brauchen Führung: Treiber von Innovativität und Zufriedenheit im Arbeitsumfeld innovationsferner Branchen“ werden konkrete Anhaltspunkte für die Implementierung bzw. Berücksichtigung innovativen Verhaltens im betrieblichen Alltag genannt, die geeignet sind Innovation und Mitarbeitendenbindung zu fördern.

Der Artikel von Thomas Bachmann mit dem Titel „The Relationship of Contact Behavior, Functional Position, and Team Effectiveness“ erscheint als offener Beitrag in dieser Ausgabe.

Fast alle Beiträge des vorliegenden Heftes sind durch die COVID Krise geprägt; wobei die jeweiligen Auswirkungen dieser Krise in unterschiedlichster Weise in die Beiträge einfließen. Es entsteht der Eindruck, dass trotz der beschriebenen Veränderungen und Errungenschaften ein Verlusterlebnis bei Online Veranstaltungen und Home Office Arbeitsplätzen wahrgenommen wird. Was vor allem vermisst wird, ist das Fehlen des Körperlichen, die nicht vorhandenen Resonanzphänomene (vgl. Rosa zitiert in Unfried 2021), das nicht zufällige Ineinander-Hinein-Laufen, der mangelnde direkte Kontakt unter den Menschen, – diese Erlebnisse und Erfahrungen konnten bis dato durch keine Online-Intervention ersetzt werden.