1 Einführung

Personen ohne einen höheren allgemeinbildenden Abschluss (z. B. Personen, die mit einem Haupt- oder Realschulabschluss oder Personen, die ohne Abschluss von der allgemeinbildenden Schule abgegangen sind) und die zudem keinen beruflichen Abschluss erworben haben, finden nur schwer Zugang zum Arbeitsmarkt. Der weitere Lebensverlauf dieser Bildungsgruppe (formal Geringqualifizierte) ist vielfach von instabilen Erwerbsverläufen geprägt und mit einem erhöhten Risiko verbunden, erwerbslos zu werden, im Niedrigeinkommenssektor tätig zu sein oder einer prekären Beschäftigung nachzugehen (Brzinsky-Fay und Solga 2016; Konietzka 1999a; Solga 2002, 2009).Footnote 1 Dennoch holt nur ein kleiner Anteil der formal Geringqualifizierten im weiteren Lebensverlauf einen beruflichen Abschluss nach (Konietzka 1999b). Das ist bemerkenswert, denn in modernen Gesellschaften trägt der Bildungserwerb wesentlich zu individueller Statuserreichung und gesellschaftlicher Positionierung bei (Goldthorpe 1996; Breen und Goldthorpe 1997; Kalleberg und Sörensen 1979). Insbesondere im deutschsprachigen Bildungsraum bilden berufliche Abschlüsse eine zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche Platzierung auf dem Arbeitsmarkt und die soziale Positionierung (Shavit und Müller 1998; Müller und Gangl 2003). Der verspätete Erwerb eines beruflichen Abschlusses wäre folglich für formal Geringqualifizierte eine Möglichkeit zur Verbesserung der sozialen Positionierung und Stabilisierung ihrer Erwerbkarrieren.

Mehrheitlich erfolgen Übergänge von der Schule in berufliche Ausbildung nahtlos, ohne längere zeitliche Unterbrechung. Auch im Falle von leistungsschwächeren oder marktbenachteiligten Schulabgängern, die nicht unmittelbar Zugang zu beruflicher oder betrieblicher Ausbildung gefunden haben, sind Angebote der schulischen oder maßnahmegeförderten Berufsvorbereitung darauf angelegt, den zeitnahen Zugang in berufliche Bildung zu fördern (Dietrich 2018). Dieser Befund spiegelt sich in den SOEP-basierten Analysen von Hillmert und Weßling (2014) zum Übergang von Sekundar-I-Absolventen unter Berücksichtigung der Teilnahmen an berufsvorbereitenden Maßnahmen in den ersten vier Jahren nach Beendigung der allgemeinbildenden Schule wider. Hierzu liegt eine Reihe von Studien zu Übergängen aus Angeboten der Berufsvorbereitung in berufliche Ausbildung vor. Diese Studien sind jedoch typischerweise auf das junge Erwachsenenalter, d. h. bis zum Alter von 25 Jahren begrenzt und in der Regel auf konkrete Förderangebote fokussiert (s. Dietrich 2018; Dietrich und Abraham 2018). Von der soziologischen Forschung weitgehend vernachlässigt wurden jedoch der verspätete Erwerb einer beruflichen Erstausbildung jenseits der Altersgrenze von 25 Jahren sowie die Einbettung verspäteter Bildungsentscheidungen in den individuellen Bildungs- und Erwerbsverlauf (beispielsweise Konietzka 1999a; Maaz und Ordemann 2019; Virdia und Schindler 2019).

Auf Basis von Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS SC6:7.0.0) analysieren wir den verspäteten Erwerb beruflicher Abschlüsse formal Geringqualifizierter im jungen Erwachsenenalter. Dabei greifen wir auf Überlegungen der soziologischen Ungleichheitsforschung zurück, die von einem starken Zusammenhang sozialer Herkunft und individuellem Bildungserwerb ausgeht (beispielsweise Breen und Yaish 2006; Becker und Hecken 2009; Schindler und Lörz 2012; Stocké 2007). Auch im Falle gescheiterter Bildungsverläufe gehen wir davon aus, dass die soziale Herkunft wesentlich zu einer verspäteten Aufnahme einer beruflichen Ausbildung beiträgt (Schindler 2015). Als endogenen Faktor (Mayer 2001, S. 447) berücksichtigen wir den individuellen Bildungs- und Erwerbsverlauf formal Geringqualifizierter. Vielfach haben formal Geringqualifizierte bereits erfolglos versucht, allgemeinbildende Abschlüsse nachzuholen oder einen beruflichen Abschluss zu erwerben; mehrheitlich haben sie dazu auch an Angeboten der Berufsvorbereitung teilgenommen (Hillmert und Weßling 2014; Jacob 2004; Jacob und Tieben 2010; Konietzka 1999b; Schneider und Tieben 2011; Solga 2002). Formal Geringqualifizierte weisen häufig Erfahrungen mit niedrigqualifizierter Erwerbsarbeit, prekären Arbeitsverträgen (Brülle 2013; Dustmann et al. 2009; Dütsch und Struck 2014; Gangl 2002; Giesecke et al. 2015) oder Arbeitslosigkeit (Klein 2015; Wolbers 2000) auf, bevor sie (erneut) im jungen Erwachsenenalter eine berufliche Erstausbildung beginnen. Aus einer Lebensverlaufsperspektive (Mayer 2009) gehen wir nachfolgend der Frage nach, inwieweit die individuelle Bildungs- und Erwerbserfahrung verspätete Bildungsentscheidungen motiviert.

Neben der sozialen Herkunft sowie dem Bildungs- und Erwerbsverlauf stellt die individuelle Migrationserfahrung ein weiteres relevantes Lebensverlaufsereignis dar, das die verspätete Aufnahme einer beruflichen Ausbildung motivieren könnte. Die Gruppe der formal Geringqualifizierten rekrutiert sich auch unter Kontrolle der sozialen Herkunft deutlich überproportional aus jungen Menschen mit Migrationshintergrund (beispielsweise Diehl et al. 2009). Gerade junge Menschen, die im schulpflichtigen Alter oder nach Abschluss der Bildung im Herkunftsland nach Deutschland zugewandert sind, benötigen häufig länger, um Zugang zu beruflicher Bildung zu finden. Schulische und/oder sprachliche Voraussetzungen für den Zugang zu beruflicher Ausbildung werden dann vielfach erst im Rahmen berufsvorbereitender Angebote nachgeholt. Auch wird die Arbeitsmarktrelevanz beruflicher Bildung bei der individuellen Bildungsplanung von Migranten zunächst vielfach unterschätzt (Dollmann und Kristen 2010; Esser 2006; Granato und Kalter 2001; Kalter und Granato 2002; Kristen et al. 2011).

Der Beitrag geht somit auf drei Aspekte ein:

  1. 1.

    Inwieweit ist die soziale Herkunft mit der verspäteten Aufnahme einer beruflichen Erstausbildung assoziiert?

  2. 2.

    Inwieweit besteht ein Zusammenhang zwischen dem Bildungs- und Erwerbsverlauf formal Geringqualifizierer und der Wahrscheinlichkeit, verspätet eine berufliche Erstausbildung zu beginnen?

  3. 3.

    Inwieweit ist die verspätete Aufnahme einer beruflichen Erstausbildung insbesondere eine Option für Zuwanderer?

2 Verspätete Bildungsentscheidungen – theoretische Überlegungen und empirische Befunde

2.1 Soziale Herkunft und verspätete Bildungsentscheidungen

Blau und Duncan (1967) haben mit ihrer wegweisenden Arbeit den engen Zusammenhang von sozialer Herkunft, Bildungserfolg und beruflicher Positionierung in der Generationenabfolge modelliert und in der soziologischen Ungleichheitsforschung etabliert. Der Zusammenhang wurde sowohl international (Bernardi und Ballarino 2016) als auch für Deutschland empirisch gut belegt (Müller 1972; Schindler 2015). Boudon (1974) hat mit seinem Modell der rationalen Bildungsentscheidung das Blau-Duncan-Modell grundlegend weiterentwickelt. Boudon unterscheidet zwei Mechanismen, durch die soziale Herkunft die generationenübergreifende Reproduktion der sozialen Position über Bildungserfolg fördert. Erstens nimmt die Herkunftsfamilie erheblichen Einfluss auf die individuellen Lernprozesse und die Schulleistung (z. B. durch die familiale Sozialisation). Dieser Mechanismus wird bei Boudon (1974) als primärer Herkunftseffekt bezeichnet. Zweitens lassen sich auch im Falle vergleichbarer Schulleistung zum Zeitpunkt der Entscheidung direkte Effekte der sozialen Herkunft auf die individuelle Bildungsentscheidung beobachten. Dieser Mechanismus wird bei Boudon (1974) als sekundärer Herkunftseffekt bezeichnet. Breen und Goldthorpe (1997) haben den sekundären Effekt stärker formalisiert und insbesondere drei Faktoren hervorgehoben, die bei der Modellierung rationaler Bildungsentscheidungen zu berücksichtigen sind. Erstens werden dem Motiv der Statusreproduktion entsprechend je nach sozialer Position der Herkunftsfamilie Bildungsalternativen unterschiedlich bewertet. Zweitens sind bei der Analyse individueller Bildungsentscheidungen die herkunftsspezifisch bewerteten Erfolgsaussichten von Bildungsalternativen zu berücksichtigen. Drittens müssen bei der Analyse von Bildungsentscheidungen die mit den jeweiligen Bildungsoptionen erforderlichen Ressourcen oder die antizipierte Kostenbelastung je Bildungsoption berücksichtigt werden. Eine Reihe von empirische Studien hat die Annahmen herkunftsspezifischer Bildungsentscheidungen in verschiedenen Varianten getestet und finden Belege für die Modellannahmen (beispielsweise Becker und Hecken 2009; Lörz et al. 2015; Stocké 2007; Schindler und Lörz 2012).

Der individuelle Bildungserwerb in modernen Gesellschaften umfasst in der Regel eine Sukzession von Bildungsentscheidungen. In dieser Sukzession von Entscheidungen können bereits marginale herkunftsbedingte Unterschiede (beispielsweise in Übergangswahrscheinlichkeiten) zu deutlichen herkunftsbedingten Unterschieden in der Partizipation an weiterführenden (oder prestigeträchtigen) Bildungsgängen führen (etwa: Mare 1980; Hillmert 2004; Neugebauer und Schindler 2012). Die zugrunde liegende Annahme eines kumulativen Vorteils findet sich bereits im „status attainment model“ von Blau und Duncan (1967; hierzu auch die kritische Diskussion bei DiPrete und Eirich 2006). Im Falle von kumulativen Effekten der sozialen Herkunft wird angenommen, dass Kinder statushöherer Herkunftsfamilien im Verlauf des individuellen Bildungserwerbs typischerweise an den Weichenstellungen im Bildungsprozess (Geulen 1987) eine höhere Wahrscheinlichkeit aufweisen, den Bildungserwerb fortzusetzen oder sich für die jeweils bildungshöhere Option zu entscheiden (beispielsweise Biewen und Tapalaga 2017; Buchholz und Schier 2015; Buchholz und Pratter 2017; Henz 1997; Schindler 2015). Jacob (2004) findet bei ihrer Analyse von Mehrfachausbildung (insbesondere unterschiedliche Sequenzen von beruflicher und hochschulischer Ausbildung) signifikante Effekte der sozialen Herkunft für eine wiederholte Bildungsentscheidung. Zu entsprechenden Befunden kommen Studien zur Weiterbildungsbeteiligung (Schömann und Becker 1995; Becker und Schömann 2015) oder internationale Studien zu „adult education“ (beispielsweise Elman und O’Rand 2007 für die USA; McMullin und Kilpi-Jakonen 2014 für Großbritannien; Kosyakova 2018 für Russland). Ergänzend verweist O’Rand (2002, S. 20 f.) auf (moderierende) Lebensereignisse wie körperliche oder seelische Beeinträchtigung der Gesundheit, Veränderungen der Familienformation etc., die den individuellen Bildungserwerb oder die Bildungsentscheidung blockieren oder verzögern können. Der Basiseffekt des herkunftsspezifischen Bildungserwerbs wird jedoch nicht grundsätzlich außer Kraft gesetzt.

Vor diesem Hintergrund würden wir auch im Falle von verzögerten Bildungsentscheidungen herkunftsspezifische Effekte erwarten. Ausgehend von der empirisch gestützten Annahme des Motivs der intergenerationalen Statusreproduktion und der daraus abgeleiteten Annahme eines langfristigen oder nachhaltigen Effekts sozialer Herkunft auf bildungsrelevante Entscheidungen im weiteren Lebensverlauf nehmen wir an, dass für formal Geringqualifizierte das Herkunftsmotiv bei verspäteten Bildungsentscheidungen zum Tragen kommt. Dementsprechend formulieren wir die erste Hypothese:

H1

Mit steigendem sozioökonomischem Status der Herkunftsfamilie steigen die individuellen Chancen formal Geringqualifizierter, jenseits der alterstypischen Bildungsphase noch eine berufliche Erstausbildung zu beginnen.


Boudon (1974) und der darauf aufbauenden Literatur (siehe Erikson et al. 2005; Jackson 2013) folgend, unterscheiden wir in einem zweiten Schritt primäre und sekundäre Effekte sozialer Herkunft. Neben Effekten sozialer Herkunft, die über die individuelle Schulleistung zum Tragen kommen (primärer Effekt), nimmt die soziale Herkunft, beispielsweise auch über Kosten-Nutzen-Abwägungen der Eltern, Einfluss auf individuelle Bildungsentscheidungen (sekundärer Effekt). Im internationalen Vergleich variiert die Bedeutung von primärem und sekundärem Effekt erheblich; die unterschiedliche Ausgestaltung der nationalen Bildungssysteme trägt dazu maßgeblich bei (Jackson und Jonsson 2013). Während typischerweise in Deutschland eine Balance von primärem und sekundärem Effekt beobachtet wird, erwarten wir für formal Geringqualifizierte bei insgesamt schwachen Schulleistungen dieser Population einen relativ stärkeren Beitrag des sekundären Effekts sozialer Herkunft auf die Entscheidung eines nachgeholten Bildungsabschlusses. Folglich formulieren wir die zweite Hypothese:

H2

Der sekundäre Effekt der sozialen Herkunft hat einen stärkeren Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, eine berufliche Erstausbildung zu beginnen, als der primäre Effekt.

2.2 Bildungs- und Erwerbsverlauf und verspätete Bildungsentscheidungen

Sowohl Entscheidungen im allgemeinbildenden Schulsystem als auch Übergänge in die berufliche oder Hochschulbildung finden im deutschsprachigen Bildungsraum im Wesentlichen bis zum 25. Lebensjahr statt und verweisen auf alterstypische Normen im Übergangsprozess (Kohli 1985; Mayer 1990). So belegen Brzinsky-Fay und Solga (2016) mit sequenzanalytischen Modellen, dass die Mehrzahl der Abgänger aus allgemeinbildenden Schulen nicht nur einen alterskonformen, sondern auch einen schnellen Übergang in berufliche Bildung oder Hochschulbildung und anschließend in Beschäftigung realisieren kann. Im Gegensatz zu diesen „standardbiografischen“ Bildungs- und Erwerbsverläufen weisen formal Geringqualifizierte vielfach belastende oder unstete Bildungs- und Erwerbsverläufe auf. Trotz fortschreitender Bildungsexpansion handelt es sich bei der Gruppe der formal Geringqualifizierten im Alter von 25 Jahren um eine zahlenmäßig relevante Gruppe (Brzinsky-Fay und Solga 2016; Konietzka 1999a, 2001), die den Zugang zu vollqualifizierender beruflicher Bildung im Jugendalter nicht realisieren konnte. Obwohl formal Geringqualifizierte im Jugendalter z. T. wiederholt an berufsvorbereitenden Angeboten partizipieren, eröffnet sich nur für eine Teilgruppe von benachteiligten Jugendlichen der Zugang zu beruflicher Ausbildung (Solga 2002). Ferner hat es die Gruppe der formal geringqualifizierten jungen Erwachsenen trotz eines umfangreichen Förderinstrumentariums, das junge Menschen in Deutschland bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres intensiver auf dem Weg in Ausbildung und Beschäftigung fördert, nicht geschafft, eine vollqualifizierende Berufsausbildung erfolgreich abzuschließen.

Die nichtstandardmäßigen Lebensverläufe formal Geringqualifizierter legen nahe, dass es Bildungs- und Arbeitsmarktereignisse gibt, die verspätete Bildungsentscheidungen (oder die Motivation für das Nachholen eines vollqualifizierenden Berufsabschlusses) fördern oder hemmen (Elman und O’Rand 2007; O’Rand 2002). Zunächst soll auf Bildungs- und Arbeitsmarktereignisse eingegangen werden, die sich negativ auf die Wahrscheinlichkeit auswirken, verspätet eine Berufsausbildung zu beginnen, bevor anschließend auf Lebensverlaufsereignisse eingegangen wird, die die Wahrscheinlichkeit positiv beeinflussen.

Ein Lebensverlaufsereignis, das die verzögerte Aufnahme einer beruflichen Ausbildung negativ beeinflusst, ist das Wiederholen einer Jahrgangsstufe während der allgemeinbildenden Schulphase. Empirische Befunde – basierend auf amerikanischen Daten – zeigen den negativen kausalen Effekt des Wiederholens einer Schulklasse in der frühen Bildungsphase auf den Erwerb eines Schulabschlusses, sich an einer Universität einzuschreiben und ein Studium erfolgreich zu absolvieren (Andrew 2014). Eine aktuelle Studie für Deutschland belegt gleichermaßen kurzfristig negative Effekte einer Klassenwiederholung, die sich jedoch längerfristig wieder abschwächen können (Kretschmann et al. 2019). Frühe negative Erfahrungen im Bildungssystem können demzufolge langfristige Folgen haben. Ein weiteres Bildungsereignis von besonderer Relevanz für die Gruppe formal Geringqualifizierter ist der Abbruch einer beruflichen Ausbildung vor dem 25. Lebensjahr. Dass dies von Relevanz ist, zeigte bereits Konietzka (1999a). Er kam zu dem Befund, dass häufige Bildungsanstrengungen formal geringqualifizierter Jugendlicher die Neigung reduzieren, im jungen Erwachsenenalter erneut in berufliche Bildung zu investieren (Konietzka 1999a, S. 819). Formal Geringqualifizierte können im Jugendalter z. T. wiederholt an berufsvorbereitenden Angeboten partizipieren, aber nur für eine Teilgruppe eröffnet sich so der Zugang zu beruflicher Ausbildung (Solga 2002). Mit Blick auf Übergänge in die berufliche Bildung bestätigen Brzinsky-Fay und Solga (2016) diese Befunde, denen zufolge eine zahlenmäßig relevante Gruppe (hierzu: Brzinsky-Fay und Solga 2016, S. 28) den Zugang zu vollqualifizierender beruflicher Bildung nur verspätet oder im Jugendalter nicht realisieren kann.

Basierend auf diesen Ausführungen formulieren wir unsere dritte Hypothese:

H3

Negative Ereignisse in der Bildungskarriere senken die Wahrscheinlichkeit, nach dem 25. Lebensjahr eine berufliche Erstausbildung zu beginnen.


Analog zu den genannten Bildungsereignissen wirken negative Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt. Hillmert und Jacob (2004) identifizieren Arbeitslosigkeitserfahrung als ein Lebensereignis, dem ein deutlich moderierender Effekt (O’Rand 2002) hinsichtlich verspäteter Bildungsentscheidungen zukommt. Ihre Ergebnisse legen nahe, dass mit steigender Dauer der Arbeitslosigkeit die Neigung sinkt, verspätet eine berufliche Ausbildung zu beginnen. Dabei kann sich ein misslungener Start in Ausbildung und Beschäftigung oder die Erfahrung von Erwerbslosigkeit negativ auf die individuelle Bildungsmotivation auswirken. Solga (2002) skizziert in diesem Zusammenhang ein Modell der Selbststigmatisierung, demzufolge negative Schul- oder Arbeitsmarkterfahrungen zu einer Reduktion individueller Bildungsnachfrage führen. Darüber hinaus muss bedacht werden, dass der Großteil der beruflichen Ausbildung durch Betriebe organisiert wird. Folglich wird die individuelle Arbeitslosigkeitserfahrung aus betrieblicher Sicht als negatives Signal (Spence 1974; Weiss 1995) gewertet, was den verspäteten Zugang zu beruflicher Ausbildung erschwert. Basierend auf diesen Überlegungen formulieren wir unsere vierte Hypothese:

H4

Lange Arbeitslosigkeitsdauern senken die Wahrscheinlichkeit, verspätet eine berufliche Erstausbildung zu beginnen.


Demgegenüber können formal Geringqualifizierte u. U. auch auf positive Erfahrungen aus dem Bildungs- und Erwerbsverlauf zurückgreifen, die verspätete Entscheidungen motivieren. Greift man auf die Überlegungen zum kumulierten Vorteil zurück, kann angenommen werden, dass sich der nachträgliche Erwerb von allgemeinbildenden Schulabschlüssen positiv auf die verspätete Aufnahme einer beruflichen Ausbildung auswirkt (Biewen und Tapalaga 2017). Basierend auf dieser Überlegung formulieren wir unsere fünfte Hypothese:

H5

Erfolgreich nachgeholte allgemeinbildende Abschlüsse motivieren eine verspätete Aufnahme einer beruflichen Erstausbildung.


Nicht nur der individuellen Arbeitslosigkeitserfahrung kann ein moderierender Effekt zukommen. Erfolge am Arbeitsmarkt (in Form von Erwerbserfahrung und Betriebszugehörigkeit) können ebenfalls dazu beitragen, dass formal Geringqualifizierte verspätet eine berufliche Ausbildung aufnehmen. Im Falle mangelnder Schulleistungen könnten Betriebe bei der Besetzung von Ausbildungsplätzen die Erwerbserfahrung oder Betriebszugehörigkeit formal Geringqualifizierer als relevante Signale verwenden, um Risiken bei der Investition in Ausbildung zu reduzieren (Dietrich und Gerner 2007). Andererseits könnten Erwerbserfahrung oder Betriebszugehörigkeit formal Geringqualifizierte selbst dazu motivieren, sich verstärkt um eine berufliche Ausbildung zu bemühen. Basierend auf diesen Überlegungen formulieren wir unsere sechste Hypothese:

H6

Mit zunehmender Erwerbserfahrung oder mit zunehmender Betriebszugehörigkeitsdauer steigt die Wahrscheinlichkeit, verspätet eine berufliche Erstausbildung aufzunehmen.

2.3 Migration und verspätete Bildungsentscheidungen

Auch unter Kontrolle der sozialen Herkunft kommt dem Migrationshintergrund ein eigenständiger ungleichheitsgenerierender Effekt zu, der sowohl bei der individuellen Verortung im Bildungssystem (Diefenbach 2009) als auch auf dem deutschen Arbeitsmarkt (Granato 2003) zu beobachten ist. In der Literatur werden insbesondere die Sprachkompetenz (Borjas 1987; Esser 2006), die Ausstattung mit kulturellem (Kristen 2008; Nohl et al. 2010) und sozialem Kapital (Roth 2014) oder die Ausgestaltung sozialer Netzwerke (Kalter und Kogan 2014) betont. Ebenso kommen das Herkunftsland oder die -region, das Alter beim Zuzug (Lemmermann und Riphahn 2018), die Zugehörigkeit zur ersten oder zur zweiten Migrationsgeneration (Kalter 2006), die soziokulturelle oder sprachliche Distanz (Chiswick und Miller 2012) oder die Anerkennung der im Ausland erworbenen Abschlüsse zum Tragen (Damelang et al. 2019). Diese Faktoren werden einerseits als mögliche Ursachen für gruppenspezifische Bildungsaspirationen oder -entscheidungen, andererseits für Differenzen in den Renditen (Statuszugang oder Einkommen) von Bildungsentscheidungen gesehen (Baert et al. 2015; Basilio et al. 2017; Beck und Jäpel 2019; Kalter und Granato 2018).

Diese Merkmale erweisen sich auch beim Zugang auf den Ausbildungsmarkt als bedeutsam (beispielsweise Diehl et al. 2009; Kalter 2006; Seibert und Solga 2005). Obwohl Migranten vielfach hohe Bildungsaspirationen aufweisen, können sie diese seltener realisieren (Dollmann und Kristen 2010). Zudem befinden sich jugendliche Migranten überproportional häufig in ausbildungsvorbereitenden Angeboten (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, S. 100). Die Ausbildungsverläufe von Migranten weisen im Vergleich zu deutschen Auszubildenden mit höherer Wahrscheinlichkeit einen unsteten Verlauf auf und die Lösungsquote von Ausbildungsverträgen ist bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund höher. Insgesamt identifiziert die Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2014) eine qualitativ und quantitativ schlechtere Integration ausländischer Jugendlicher in die berufliche Ausbildung. Neben schwächer ausgeprägten soziokulturellen Kompetenzen und Fähigkeiten sind ferner diskriminierungsrelevante Aspekte zu berücksichtigen, die bereits in der Schulkarriere (Kalter und Granato 2018) ansetzen und z. B. in schlechteren Zugangschancen zu insbesondere attraktiven Ausbildungsberufen (Baert et al. 2015; Riphahn und Bauer 2007) zum Ausdruck kommen.

Anknüpfend an Elman und O’Rand (2007), die Lebensverlaufsereignisse als zentrale Faktoren für das Nachholen von Bildungsabschlüssen betonen, erachten wir bei Personen mit Migrationshintergrund insbesondere den Zeitpunkt des individuellen Zuzugs nach Deutschland und damit verbunden die Möglichkeit des Bildungs- oder Ausbildungserwerbs in Deutschland als wesentlich für verspätete Bildungsinvestitionen. Migranten, die im schulpflichtigen Alter oder erst nach Abschluss der allgemeinen Bildungsphase im Herkunftsland nach Deutschland zugewandert sind, könnten demzufolge eine höhere Neigung aufweisen, erst im jungen Erwachsenenalter Bildungsentscheidungen nachzuholen. Mögliche Gründe für verspätete Investitionen in Bildung können in fehlenden schulischen und/oder sprachlichen Voraussetzungen gesehen werden, die erst nachgeholt werden müssen, oder etwa im fehlenden Wissen um die Arbeitsmarktrelevanz beruflicher Bildung und Abschlüsse in Deutschland (Dollmann und Kristen 2010; Esser 2006; Granato und Kalter 2001; Kalter und Granato 2002; Kristen et al. 2011). Empirisch zeigt sich, dass das Zuzugsalter nach Deutschland den Übergang von der Schule in die berufliche Bildung beeinflusst (Beicht und Ulrich 2008; Hupka-Brunner et al. 2011; Lemmermann und Riphahn 2018). Entsprechend formulieren wir eine siebte Hypothese:

H7

Formal Geringqualifizierte, die während der Pflichtschulzeit im Alter von 6 bis 16 Jahren oder nach dem Pflichtschulalter ab 16 Jahre nach Deutschland zugewandert sind, weisen eine höhere Wahrscheinlichkeit auf, verspätet eine berufliche Erstausbildung aufzunehmen.

3 Datengrundlage, Variablen und Modelle

3.1 Datengrundlage

Für die empirischen Analysen der Aufnahme einer beruflichen Erstausbildung formal Geringqualifizierter verwenden wir die Daten der Erwachsenenkohorte des Nationalen Bildungspanels (NEPS) (Blossfeld et al. 2011). Nachdem wir erste Analysen auch mit dem Sozio-Oekonomischen Panel (SOEP) durchgeführt haben, haben wir uns für die Daten der Startkohorte 6 (hier Version 7.0.0) entschieden. Die NEPS-Daten weisen im Vergleich zu den SOEP-Daten umfassendere Informationen zum individuellen Bildungs- und Erwerbsverlauf der Befragten auf. Ferner vermeidet der retrospektive Erhebungsmodus bei NEPS das Problem der Linkszensierung.

Da die Analysen verspätete Entscheidungen formal Geringqualifizierter für eine berufliche Erstausbildung adressieren, haben wir nur Personen in den Analysedatensatz aufgenommen, die bis zum Alter von 25 Jahren maximal einen Realschulabschluss erworben haben, die bis zu diesem Alter keinen beruflichen Abschluss erworben haben und die im 25. Lebensjahr auch an keiner bereits laufenden beruflichen Ausbildung teilnehmen. Das Alter von 25 Jahren bildet in Deutschland typischerweise eine relevante institutionelle Schwelle, denn bis zu diesem Alter werden junge Menschen insbesondere durch die Bundesagentur für Arbeit in besonderer Weise gefördert (z. B. in berufsvorbereitenden oder vollqualifizierenden Bildungsmaßnahmen), um eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt zu unterstützen.

Wir beobachten diese Population mit den NEPS-Daten aus inhaltlichen sowie aus datentechnischen Gründen nur bis zum 34. Lebensjahr. Eine berufliche Erstqualifizierung wird nach dem 34. Lebensjahr nur noch sehr selten aufgenommen. Um den individuellen Bildungs- und Erwerbsverlauf bis zum 34. Lebensjahr vollständig beobachten zu können, haben wir Informationen von Befragten ausgeschlossen, die nicht bis zum 35. Lebensjahr beobachtet werden können (Problem der Rechtszensierung). Weiterhin haben wir uns auf Personen begrenzt, die ihre (Aus‑)Bildung in Westdeutschland durchlaufen habenFootnote 2 oder als Migranten nach Westdeutschland zugezogen sind. Dabei mussten Migranten bis zum 25. Lebensjahr nach Deutschland zugezogen sein, um verspätete Bildungsentscheidungen in Deutschland beobachten zu können. Nach Anwendung dieser Sampleeinschränkungen können wir 831 formal Geringqualifizierte aus den NEPS-Daten für multivariate Analysen verwenden.

3.2 Variablen

Die abhängige Variable unserer Analyse ist ein binärer Indikator, der die Ausprägung eins annimmt, wenn im Alter von 25 bis 34 Jahren eine berufliche Ausbildung aufgenommen wird. Da lediglich 10,1 % der formal Geringqualifizierten überhaupt im Alter von 25 bis 34 Jahren eine berufliche Erstausbildung (von diesen haben sich 70,2 % für eine betriebliche und 29,8 % für eine schulische Ausbildung entschieden) aufnehmen, unterscheiden wir analytisch nicht zwischen betrieblichen und schulischen Ausbildungsformen.

Bei der Operationalisierung der sozialen Herkunft greifen wir auf die berufliche Bildung der Eltern zurück. In Deutschland bildet der berufliche Abschluss der Eltern ein konstitutives Element der individuellen Statusdefinition, der zudem hoch mit der Arbeitsmarktpositionierung korreliert ist (Konietzka 1999b; Müller und Gangl 2003; Shavit und Müller 1998). Im Gegensatz zur Arbeitsmarktpositionierung erlaubt die berufliche Ausbildung den direkten Vergleich von Eltern- und Kindergeneration und liefert somit einen Indikator für die absolute Statusreproduktion in der Generationenabfolge (Breen und Goldthorpe 1997; Goldthorpe 1996; Kalleberg und Sörensen 1979; van de Werfhorst 2009). Der höchste berufliche Abschluss der Eltern wird kategorial abgebildet. Wir unterscheiden drei Abschlussniveaus: kein beruflicher Abschluss, schulischer oder beruflicher Abschluss und Hochschulabschluss. Empirisch bestätigt sich der bekannte starke Zusammenhang von Bildung der Eltern- und der Kindergeneration. In 28,4 % der Fälle verfügen die Eltern von formal Geringqualifizierten ebenfalls über keinen beruflichen Abschluss, in 63,1 % der Fälle weisen die Eltern einen beruflichen Abschluss auf, und lediglich in 3,7 % der Fälle verfügt zumindest ein Elternteil über einen Abschluss einer Fachhochschule oder Universität.

Primäre Effekte der sozialen Herkunft werden in der Literatur typischerweise (Becker und Lauterbach 2016; Erikson et al. 2005; Jackson 2013) durch die Schulleistung zum Zeitpunkt der interessierenden Entscheidung operationalisiert. Aufgrund des mehrgliedrigen Bildungssystems in Deutschland ist neben den Schulnoten auch das bislang erreichte Schulabschlussniveau zu berücksichtigen. 13,2 % der formal Geringqualifizierten in unserem Analysesample verfügen über keinen Schulabschluss, 47,2 % haben einen Hauptschulabschluss und 39,6 % einen Realschulabschluss als höchsten allgemeinbildenden Abschluss erworben.Footnote 3 In unserem Analysesample weist die Variable Abschlussnote einen hohen Anteil an fehlenden Werten auf (ca. 60 %); dies lässt eine Imputation fehlender Notenangaben als wenig sinnvoll erscheinen. Demzufolge haben wir die Abschlussnoten nicht als lineare, sondern als kategoriale Variable in unserem Modell aufgenommen haben. Wurden von den formal Geringqualifizierten Abschlussnoten berichtet, wurden diese Leistungsperzentilen zugewiesen; eine zusätzliche Kategorie „fehlender Wert“ repräsentiert Personen, die keine Noten berichtet haben.

In dieser Analyse wird davon ausgegangen, dass der Bildungsverlauf formal Geringqualifizierter die Aufnahme einer beruflichen Ausbildung beeinflusst. Gescheiterte Bildungsversuche sind ein wesentliches Element der Bildungsverläufe formal Geringqualifizierter (Solga 2002). Das „Scheitern“ im Bildungssystem wird durch zwei Dummy-Variablen modelliert. Die Variable „Wiederholer“ identifiziert Personen, die mindestens eine Schulklasse wiederholt haben. 29,4 % der formal Geringqualifizierten in unserem Sample haben mindestens eine Klassenstufe wiederholt. Die Variable „Ausbildungsabbrecher“ identifiziert Personen mit gescheiterten Versuchen, einen beruflichen Ausbildungsabschluss zu erwerben. 18,3 % der formal Geringqualifizierten in unserem Analysesample haben bis zum 25. Lebensjahr eine oder mehrere berufliche Ausbildungen begonnen, ohne sie erfolgreich abschließen zu können. Neben Erfahrungen des „Scheiterns“ identifizieren wir Bildungserfolge formal Geringqualifizierter. Die Variable „nachgeholter Schulabschluss“ identifiziert den nachträglichen Erwerb allgemeinbildender Abschlüsse nach Verlassen der Regelschule. Lediglich 1,4 % der Befragten aus unserem Sample formal Geringqualifizierter haben bis zum 25. Lebensjahr einen allgemeinbildenden Schulabschluss nachgeholt.

Neben dem Bildungsverlauf wird der individuelle Erwerbsverlauf als möglicher Faktor erfasst, der die Entscheidung für eine verspätete Erstausbildung formal Geringqualifizierter motivieren könnte. Hierzu identifizieren wir die individuelle Arbeitslosigkeitserfahrung formal Geringqualifizierter, die kumulierte Dauer von Erwerbserfahrung sowie die längste Dauer einer Betriebszugehörigkeitsepisode bis zum Eintritt eines Ereignisses oder der Zensierung. Rund 50 % der Befragten berichten keine und 20 % nur sehr kurze Dauern von Arbeitslosigkeit. Demgegenüber berichten 10 % der Befragten kumulierte Phasen der Arbeitslosigkeit mit einer Dauer von länger als 5 Jahren. Aufgrund dieser schiefen Verteilung verzichten wir auf eine Betrachtung der durchschnittlichen Dauer und verwenden einen binären Indikator, der Personen mit einer Arbeitslosigkeitserfahrung über 5 Jahre (hier übersteigt die Arbeitslosigkeitsdauer den Mittelwert um eine Standardabweichung) identifiziert. Die Erwerbserfahrung wird in Jahren erfasst. Durchschnittlich weisen formal Geringqualifizierte unseres Analysesamples ca. 12 Jahre Erwerbserfahrung auf. Die Betriebszugehörigkeit wird ebenfalls als metrische Variable in Jahren gemessen. Dabei werden wiederholte Erwerbsepisoden beim gleichen Arbeitgeber nicht kumuliert. Hier beträgt die durchschnittliche Verweildauer 5,2 Jahre.

Bei der Operationalisierung des Migrationshintergrundes greifen wir auf das Zuzugsalter nach Deutschland zurück. Wir unterscheiden nicht zwischen Menschen ohne Migrationshintergrund und Personen, die bis zum 6. Lebensjahr (also typischerweise vor Eintritt in die Grundschulphase) nach Deutschland zugezogen sind (Lemmermann und Riphahn 2018). Davon grenzen wir Personen ab, die während oder nach der Pflichtschulphase nach Deutschland zugezogen sind. Wie oben beschrieben, gehen wir davon aus, dass ein Zuzug ab dem Pflichtschulalter oder nach der allgemeinen Schulpflicht die verspätete Aufnahme einer Berufsausbildung beeinflusst. In unserem Sample sind 84,8 % der Befragten in Deutschland geboren oder vor Beginn der Pflichtschulzeit nach Deutschland zugezogen. 6,2 % der Befragten kamen im Alter von 6 bis 16 Jahren und 9,0 % ab dem Alter von 16 Jahren nach Deutschland.

In den nachfolgenden Analyseschritten werden gruppierte Geburtsjahrgänge, das Geschlecht und ein Indikator für Kinder im Haushalt als Kontrollvariablen aufgenommen. Eine Übersicht über die Verteilung der Variablen findet sich in Tab. 1 und 2 im Online-Anhang.Footnote 4

3.3 Modelle

Mit dieser Studie testen wir den Einfluss von sozialer Herkunft und positiv oder negativ konnotierten Ereignissen im Bildungs- und Erwerbsverlauf auf die Aufnahme einer beruflichen Erstausbildung ab dem 25. Lebensjahr. Dazu schätzen wir eine Reihe von logistischen Regressionsmodellen. In den Ergebnistabellen berichten wir die durchschnittlichen marginalen EffekteFootnote 5 (Mood 2010).

Die Modelle 1a–c prüfen den Einfluss der sozialen Herkunft – hier identifiziert über die elterliche Berufsbildung – auf die Entscheidung der Befragten, ab dem 25. Lebensjahr noch eine berufliche Erstausbildung aufzunehmen. Dabei folgen wir in einer sehr reduzierten Form der Unterscheidung von primärem und sekundärem Effekt sozialer Herkunft (Boudon 1974). Modell 1a identifiziert den Bruttoeffekt sozialer Herkunft der Befragten. Die Kohortenzugehörigkeit wird als konfundierende Variable eingeführt, um für Effekte der Bildungsexpansion zu kontrollieren. In Modell 1b wird zusätzlich das Schulabschlussniveau als Indikator der individuellen Schulleistung eingeführt. Insbesondere in Ländern mit getrackten Bildungsverläufen, wie der mehrgliedrigen Struktur in Deutschland, liefert das Abschlussniveau einen belastbaren Indikator für Schulleistung. In Modell 1c wird ergänzend die Abschlussnote berücksichtigt. In den nachfolgenden Modellen wird jedoch wesentlich auf das Schulabschlussniveau abgestellt, da die Daten der NEPS-Startkohorte 6 für die hier betrachtete Population ein hohes Maß an fehlenden Werten aufweist.

Alle weiteren Modelle berücksichtigen zudem beobachtbare Merkmale, die sowohl die Lebensverlaufsereignisse als auch die Bildungsentscheidungen beeinflussen (konfundierende Variablen) (Elwert und Winship 2014; Morgan und Winship 2008). Da Bildungs- und Erwerbsverläufe sowie der Zuzug nach Deutschland von unterschiedlichen Variablen beeinflusst werden, die simultan auch die Bildungsentscheidungen beeinflussen, variiert das Set an beobachtbaren konfundierenden Variablen zwischen den Modellen. Das grundlegende Problem der unbeobachteten Heterogenität wird durch diese Modellierungsstrategie nicht gelöst. Dennoch versuchen wir durch unsere Modellierung, die zugrunde liegende Kausalstruktur so gut wie möglich zu berücksichtigen. Da die untersuchten Lebensverlaufsereignisse geschlechts- sowie familienspezifisch ausgeprägt sind (Drobnič et al. 1999; Hannan et al. 1990), müssen alle Modelle das Geschlecht der Befragten sowie Variablen zum Familienhintergrund berücksichtigen. Zudem wird in den Modellen, in denen Bildungs- und Erwerbsverlaufsvariablen getestet werden, für das Zuzugsalter der Befragten kontrolliert, um migrationsspezifische Bildungs- sowie Erwerbsverläufe zu berücksichtigen (Kogan 2007).

Die Modelle 2a–c adressieren den Einfluss „negativer“ Lebensverlaufsereignisse auf die Aufnahme einer verspäteten Erstausbildung. Diese Modelle erweitern das Modell zur sozialen Herkunft und greifen sowohl negative Erfahrungen im Bildungsverlauf als auch im Arbeitsmarkt auf. Im Bildungsverlauf berücksichtigen wir die Wiederholung einer Schulklasse und den Abbruch einer Ausbildung. Als negative Erfahrung im Erwerbsleben berücksichtigen wir die Erfahrung von Langzeitarbeitslosigkeit.Footnote 6

Um den Einfluss der Schulklassenwiederholung auf verspätete Bildungsentscheidungen zu untersuchen, wird im Modell 2a eine Dummy-Variable für die Schulklassenwiederholung als erklärende Variable eingeführt und für beobachtbare, konfundierende Variablen (Kohortenzugehörigkeit, Geschlecht, leibliche Kinder und Zuzugsalter) kontrolliert. Wir kontrollieren hier nicht für den Schulabschluss, da wir davon ausgehen, dass das Konditionieren auf den Schulabschluss den kausalen Pfad zwischen der Schulklassenwiederholung und der verspäteten Entscheidung blockiert (Morgan und Winship 2008). Wir gehen also davon aus, dass schlechte Schulleistungen ursächlich für das Erreichen eines Schulabschlusses sind. In weiteren Modellen (2b und 2c) führen wir zum einen die Dummy-Variable für Ausbildungsabbruch und zum anderen die Dummy-Variable für Langzeitarbeitslosigkeit ein. In diesen Modellen muss der Schulabschluss kontrolliert werden, um den sogenannten „common confounder bias“ zu vermeiden (Elwert und Winship 2014). Wir gehen davon aus, dass der Schulabschluss sowohl den Ausbildungsabbruch oder die Arbeitslosigkeitserfahrung als auch die verspätete Bildungsentscheidung beeinflusst.

Die Modelle 2d–f prüfen, inwieweit „positive“ Ereignisse im Bildungs- und Erwerbsverlauf auf eine verspätete Aufnahme einer beruflichen Erstausbildung Einfluss nehmen. Als positive Ereignisse werten wir das Nachholen allgemeinbildender Schulabschlüsse, die Dauer der kumulierten Erwerbserfahrung sowie die Dauer der Zugehörigkeit zu einem Betrieb.

Unsere Population formal Geringqualifizierter weist mehrheitlich schwierige Schulverläufe auf. Modell 2d testet, inwieweit ein nachgeholter Schulabschluss positiv auf eine verspätete Ausbildungsentscheidung einwirken kann. Das Schulabschlussniveau, das zum Ende der allgemeinbildenden Schulzeit erreicht wurde, kann dabei nicht als Kontrollvariable verwendet werden, da das erklärende Ereignis nicht für alle Ausprägungen beobachtet werden kann. Als weitere positive Ereignisse im Lebensverlauf werden die Erwerbserfahrung (Modell 2e) sowie die Betriebszugehörigkeitsdauer (Model 2f) herangezogen. Hier gehen wir von der Annahme aus, dass auch im Falle wenig erfolgreicher Bildungsverläufe formal Geringqualifizierte positive Erwerbserfahrungen erzielen, die zu erneuten Bildungsanstrengungen motivieren können. Wir gehen davon aus, dass das allgemeinbildende Abschlussniveau Einfluss auf den Erwerbsverlauf nimmt und berücksichtigen dieses Merkmal in den Modellen 2e und 2f als Kontrollvariable.

Das Modell 3 erweitert das Modell zur sozialen Herkunft und führt den Migrationshintergrund als erklärende Variable ein. Den Migrationshintergrund modellieren wir wesentlich über das Zuzugsalter nach Deutschland. Personen ohne Migrationshintergrund werden als Referenz herangezogen. Als weitere Variablen werden das Schulabschlussniveau, das Geschlecht, eigene Kinder und die Kohortenzugehörigkeit in das Modell aufgenommen.

4 Determinanten verspäteter Bildungsentscheidungen

Bezugnehmend auf handlungstheoretische Überlegungen in der Tradition rationaler Bildungsentscheidungen und lebensverlaufstheoretischer Überlegungen wird angenommen, dass auch bei formal Geringqualifizierten mit steigendem sozioökonomischen Status der Herkunftsfamilie die individuellen Chancen zunehmen, jenseits der alterstypischen Lebensphase eine berufliche Ausbildung zu beginnen (Hypothese H1). Die Ergebnisse berichtet Tab. 1 (Modell 1a).Footnote 7 Demnach weisen formal Geringqualifizierte aus akademischen Elternhäusern die höchste Wahrscheinlichkeit auf, nach dem 25. Lebensjahr noch eine Berufsausbildung zu beginnen. Auch Eltern mit einem beruflichen Abschluss erhöhen gegenüber Eltern ohne beruflichen Abschluss die Wahrscheinlichkeit signifikant, verspätet eine berufliche Ausbildung zu beginnen. Diese Befunde bestätigen Hypothese H1 und verdeutlichen die Bedeutung der sozialen Herkunft für Bildungsentscheidungen im Erwachsenenalter. Dies kann auch als Beleg für den kumulativen Vorteil von Personen aus bildungsnahen Elternhäusern im Lebensverlauf interpretiert werden. Modelle 1b und 1c führen stufenweise das individuelle Schulabschlussniveau und die subjektiv bewertete Schulleistung ein. Dem primären Effekt sozialer Herkunft, vermittelt über individuelle Schulleistung, kommt nur ein begrenzter Beitrag zu, der wesentlich über das Schulabschlussniveau getrieben wird. Der individuellen Schulleistung kommt keine signifikante Bedeutung zu; dazu könnten aber auch Messprobleme beitragen (s. Abschn. „Datengrundlage“). Der Herkunftseffekt wird durch die Aufnahme der individuellen Schulleistung in das Modell nur wenig abgeschwächt. Wir bewerten demzufolge die Befunde als Unterstützung unserer Annahme (H2), dass bei formal Geringqualifizierten dem sekundären Effekt der sozialen Herkunft höhere Bedeutung beizumessen ist.

Tab. 1 Ergebnisse logistischer Regressionen. (Quelle: NEPS SC6:7.0.0; eigene Berechnungen)

In einem weiteren Schritt wird mittels partialer Modelle überprüft, inwieweit „negative“ und „positive“ Ereignisse im Bildungs- oder im Erwerbsverlauf einen eigenständigen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit ausüben, ab dem 25. Lebensjahr eine berufliche Ausbildung aufzunehmen (Tab. 2 und 3). Die Befunde „negativer“ Ereignisse berichtet Tab. 2; „positive“ Ereignisse finden sich in Tab. 3.

Dass das Wiederholen einer Schulklasse die Wahrscheinlichkeit, verspätet eine berufliche Ausbildung aufzunehmen, um 4 % senkt (Modell 2a), zeigt Tab. 2. Die Koeffizienten der Herkunftsvariablen bleiben weitgehend unverändert. Lediglich der Koeffizient für „Akademikereltern“ geht leicht zurück.Footnote 8 Modell 2b verdeutlicht, dass der Abbruch einer beruflichen Ausbildung vor dem Alter von 25 Jahren keinen statistisch signifikanten Einfluss auf die verspätete Bildungsentscheidung formal Geringqualifizierter nimmt. Das positive Vorzeichen deutet jedoch daraufhin, dass Personen, die bereits eine Ausbildung abgebrochen haben, tendenziell bereit sind, weiterhin in Bildung zu investieren. Die Befunde aus Tab. 2 stützen Hypothese H3, die davon ausgeht, dass sich „negative“ Bildungsereignisse hemmend auf die Neigung auswirken, verspätet in berufliche Bildung zu investieren, nur teilweise.

Tab. 2 Ergebnisse logistischer Regressionen. (Quelle: NEPS SC6:7.0.0; eigene Berechnungen)

Zudem bestätigt Modell 2c in Tab. 2 Hypothese H4: Langzeitarbeitslosigkeit wirkt sich negativ auf die Aufnahme einer verspäteten beruflichen Ausbildung aus. Durchschnittlich weisen formal Geringqualifizierte mit überdurchschnittlich langer Arbeitslosigkeitsdauer eine 6 % niedrigere Neigung auf, verspätet eine berufliche Ausbildung zu beginnen. Die Koeffizienten der Herkunftsvariablen im Vergleich zu Modell 1 bleiben erneut weitgehend unverändert. Lediglich der Koeffizient der „Akademikereltern“ schwächt sich ab, insbesondere, wenn wir den Arbeitslosigkeitsindikator in Modell 2c einführen. Dies legt nahe, dass Personen aus „Akademikerhaushalten“ vermutlich lange Arbeitslosigkeitsphasen vermeiden können oder andere herkunftsspezifische Signale/Ressourcen aufweisen (beispielsweise Auftreten, Sprach- und Schreibkompetenzen etc.), die negative Effekte kurzer Arbeitslosigkeitsphasen kompensieren können.Footnote 9

Effekte möglicher positiver Bildungs- oder Arbeitsmarkterfahrungen formal Geringqualifizierter berichtet Tab. 3. In Bezug auf den Bildungsverlauf wurde in Abschn. „Bildungs- und Erwerbsverlauf und verspätete Bildungsentscheidungen“ angenommen, dass das Nachholen eines allgemeinbildenden Schulabschlusses das Nachholen eines beruflichen Abschlusses motiviert (H5). Den Ergebnissen in Modell 2d folgend, kann kein statistisch signifikanter Einfluss nachgewiesen werden. Die Effektstärke des Koeffizienten für das Nachholen von allgemeinen Schulabschlüssen verweist jedoch darauf, dass zusätzliche Bildungsanstrengungen potenziell die Neigung für verspätete Bildungsinvestitionen erhöhen. Da lediglich 1,4 % des Analysesamples einen Schulabschluss nachgeholt haben, verwundert es nicht, dass der durchschnittliche marginale Effekt statistisch nicht signifikant wird.

Tab. 3 Ergebnisse logistischer Regressionen. (Quelle: NEPS SC6:7.0.0; eigene Berechnungen)

In einem nächsten Schritt wird mittels getrennter Modelle überprüft, ob positive Ereignisse im Erwerbsverlauf (Erwerbserfahrung und Betriebszugehörigkeit) einen eigenständigen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit ausüben, verspätet eine berufliche Ausbildung zu beginnen. Modell 2e zeigt, dass mit steigender Erwerbserfahrung die individuelle Neigung formal Geringqualifizierter abnimmt, verspätet in berufliche Bildung zu investieren. Einen vergleichbaren Befund finden wir für die Dauer der Betriebszugehörigkeit. Steigt diese um ein Jahr, sinkt die Wahrscheinlichkeit, verspätet eine berufliche Ausbildung zu beginnen, um ca. 1,1 Prozentpunkte. Die Hypothese zum Erwerbsverlauf (Hypothese H6) wird somit auf Grundlage der empirischen Befunde abgelehnt. Die Befunde verdeutlichen dagegen, dass formal Geringqualifizierte, die sich am Arbeitsmarkt etabliert haben, eher dazu neigen, auf eine formale Nachqualifizierung zu verzichten.

Abschließend wird überprüft, ob der Zuzug nach Deutschland einen eigenständigen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit ausübt, nach dem 25. Lebensjahr noch eine berufliche Erstausbildung zu beginnen. Modell 3 in Tab. 4 zeigt, dass Personen, die nach dem schulpflichtigen Alter zugezogen sind, eine höhere Wahrscheinlichkeit aufweisen, verspätet eine berufliche Erstausbildung anzufangen. Personen, die während der Pflichtschulzeit zugezogen sind, unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Neigung, verspätet in eine berufliche Erstausbildung zu investieren, kaum von Personen, die in Deutschland geboren oder vor der Pflichtschulzeit zugezogen sind. Hypothese H7 wird somit nur partiell bestätigt. Bei der Interpretation der Befunde ist zu beachten, dass die geringen Fallzahlen die Schätzungen zum Zuzug hinsichtlich ihrer statistischen Signifikanz wenig belastbar machen. Wie aus Tab. 4 ebenfalls ersichtlich wird, bleiben die Koeffizienten der Herkunftsvariablen im Vergleich zu Modell 1 unverändert. Der bestehende „Herkunftseffekt“ ist somit nicht durch die bildungsspezifische Zusammensetzung der Eltern von Migrantengruppen erklärbar.

Tab. 4 Ergebnisse logistischer Regressionen. (Quelle: NEPS SC6:7.0.0; eigene Berechnungen)

5 Diskussion

Dieser Beitrag untersucht drei zentrale Fragen: erstens, inwieweit die soziale Herkunft die verspätete Aufnahme einer beruflichen Erstausbildung von formal Geringqualifizierten im Alter zwischen 25 und 34 Jahren beeinflusst. Aus theoretischer Perspektive wird dabei auf das Modell der sozialen Reproduktion (Blau und Duncan 1967) und dessen Erweiterung von Boudon (1974) und Breen und Goldthorpe (1997) abgestellt. Aktuelle empirische Befunde belegen den Einfluss der sozialen Herkunft auch auf (Weiter‑)Bildungsentscheidungen im Erwachsenenalter (beispielsweise Biewen und Tapalaga 2017; Becker und Schömann 2015; Buchholz und Schier 2015; Buchholz und Pratter 2017; Henz 1997; Schindler 2015; Schömann und Becker 1995); verspätete Bildungsentscheidungen Geringqualifizierter wurden jedoch nicht explizit betrachtet. Zweitens berücksichtigen wir den Einfluss zentraler Ereignisse im individuellen Bildungs- und Erwerbsverlauf von formal Geringqualifizierten auf die Wahrscheinlichkeit, verspätet eine berufliche Erstausbildung zu beginnen. So konnten etwa Elman und O’Rand (2007) und O’Rand (2002) zeigen, dass lebensverlaufsrelevante Ereignisse verspätete Entscheidungen wesentlich fördern oder hemmen können. Drittens untersucht der Beitrag, inwieweit die verspätete Aufnahme einer beruflichen Erstausbildung insbesondere für Zuwanderer eine Option darstellt, sich noch im Erwachsenenalter den Vorgaben des Arbeitsmarktes in Deutschland anzupassen. Es wird davon ausgegangen, dass das Lebensverlaufsereignis des Zuzugs nach Deutschland ein zentraler Faktor für das Nachholen einer beruflichen Erstausbildung darstellt. Unter Verwendung der NEPS-Daten der Startkohorte 6 (Version 7.0.0) liefert unser Beitrag folgende Erkenntnisse:

Unsere Befunde bestätigen auch im Falle formal Geringqualifizierter einen relevanten Effekt der sozialen Herkunft auf Bildungsentscheidungen im Erwachsenenalter. Formal Geringqualifizierte aus Elternhäusern, in denen mindestens ein Elternteil einen Hochschulabschluss erworben hat, weisen die höchste Wahrscheinlichkeit auf, verspätet eine berufliche Erstausbildung aufzunehmen. Die Ergebnisse zeigen weiterhin, dass der primäre Effekt der sozialen Herkunft (identifiziert über die individuelle Schulleistung (Schulabschlüsse und Schulnoten) zum Zeitpunkt der möglichen Entscheidung deutlich schwächer ausgeprägt ist als der sekundäre Effekt der sozialen Herkunft).

Weiterhin zeigen die Modellbefunde, dass sich „negative“ Lebensverlaufsereignisse (Schulklasse wiederholen, Ausbildungsabbruch und Langzeitarbeitslosigkeit) hemmend auf die verspätete Aufnahme einer beruflichen Erstausbildung auswirken. Dieser Befund legt einen negativen kumulativen Effekt früher negativer Schulereignisse nahe (Andrew 2014; Walberg und Tsai 1983). Demgegenüber fördern nachgeholte allgemeinbildende Schulabschlüsse die verspätete Aufnahme einer beruflichen Erstausbildung. Jedoch hat nur ein sehr kleiner Anteil unseres Analysesamples (1,4 %) überhaupt allgemeinbildende Abschlüsse nachgeholt, was dazu führt, dass sich der Koeffizient zum Nachholen einer Schulklasse in unserem multivariaten Modell nicht signifikant von 0 unterscheidet. Demgegenüber neigen formal Geringqualifizierte, die sich am Arbeitsmarkt etabliert haben (d. h. lange kumulierte Erwerbserfahrung- oder Betriebszugehörigkeitsdauer) eher dazu, auf eine formale Nachqualifizierung zu verzichten.

Die Befunde zum Zuzugsalter legen nahe, dass lediglich Personen, die nach dem schulpflichtigen Alter zugezogen sind (d. h. im Alter von 16 bis 25 Jahren), eine höhere Wahrscheinlichkeit aufweisen, verspätet eine berufliche Erstausbildung aufzunehmen. Es ist anzunehmen, dass dieser Personenkreis den Wert beruflicher Zertifikate am deutschen Arbeitsmarkt erst spät erkennt und deshalb (erneut) in berufliche Ausbildung investiert. Ferner könnten Probleme in Anerkennungsverfahren von ausländischen Abschlüssen diesen Migrantenkreis motivieren, einen beruflichen Abschluss in Deutschland nachzuholen. Vor dem Hintergrund steigender Anteile von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, die überproportional häufig in der Gruppe der Geringqualifizierten zu finden sind, verweisen die Analysen auf Arbeitsmarktpotenziale (Allmendinger und Dietrich 2003), die bislang noch zu selten erschlossen werden.

Daraus ergibt sich eine Reihe von bildungs- sowie arbeitsmarktpolitischen Implikationen. Auch um eine soziale Verfestigung formal Geringqualifizierter und deren sozialer Stigmatisierung zu vermeiden, sind unter Beachtung der sozialen Selektivität gruppenspezifische Fördermaßnahmen zu entwickeln. Es ist der sozialstrukturelle Hintergrund der Herkunftsfamilien zu beachten und die Herkunftsfamilie aktiv in den Förderprozess einzubeziehen. Auch die Programme der Berufsvorbereitung scheinen bislang, die sozial Schwächsten am wenigsten zu erreichen oder diesen nicht erfolgreich zu beruflichen Abschlüssen zu verhelfen. Der nicht zuletzt im Zuge der demografischen Veränderungen in Deutschland aktuell wieder steigende Anteil junger Geringqualifizierer (BMBF 2018, S. 15) unterstreicht bildungspolitischen Handlungsbedarf.

Diese Studie weist, wie viele andere Untersuchungen, die auf Befragungsdaten beruhen, einige Einschränkungen auf, die nicht unerwähnt bleiben dürfen. Beispielsweise kann die in dieser Studie gewählte Modellierung die Selektion von formal Geringqualifizierten auf Basis von unbeobachteten Persönlichkeitseigenschaften in eine berufliche Erstausbildung nicht berücksichtigen. Als weitere deutliche Restriktion der Modellierung ist hervorzuheben, dass bei Verwendung der NEPS-Daten nicht auf betriebsseitige Stimuli kontrolliert werden kann, die Geringqualifizierte für einen nachgeholten Abschluss motivieren könnten. Zudem kann die in dieser Studie gewählte ereignisbezogene Modellierung im Gegensatz zu einer zeitdynamischen Analysestrategie Marktprozessen nicht Rechnung tragen, die typischerweise Bildungsentscheidungen zugrunde liegen. Grundsätzlich werden Übergänge in berufliche Ausbildung beispielsweise vom Niveau der Arbeitslosigkeit oder der Größe schulischer Abgangskohorten beeinflusst (Jacob und Kleinert 2013). Es ist somit davon auszugehen, dass der Zugang junger geringqualifizierter Erwachsener zu beruflicher Bildung ebenfalls von Marktprozessen abhängt und sie bereits aufgrund des höheren Alters unabhängig von der schulischen Vorbildung im Vergleich zu „regulären“ Bewerbern eine systematisch schlechtere Ausgangsposition einnehmen (Imdorf 2012). Das sollte weitere politische Fördermaßnahmen motivieren.

Dennoch liefert diese Studie wichtige Erkenntnisse, da sie zeigen kann, dass im Falle verspäteter Bildungsentscheidungen formal Geringqualifizierter v. a. der sekundäre Effekt der sozialen Herkunft im Sinne Boudons (1974) auf verspätete Bildungsentscheidungen zum Tragen kommt, während dem primären Effekt sozialer Herkunft, vermittelt über die individuelle Schulleistung, ein wesentlich schwächerer Beitrag zukommt. Dieser Befund überrascht mit Blick auf die spezifischen Bildungskarrieren nicht, macht aber dennoch deutlich, dass die für Deutschland typischerweise beobachtete Balance von primärem und sekundärem Effekt (Jackson und Jonsson 2013) als Durchschnittswert zu interpretieren ist und Befunde für Subgruppen substanziell davon abweichen können. Weiterhin bestätigt sich die Annahme des langen Arms der sozialen Herkunft (Dietrich und Kleinert 2006), auf den bereits Blau und Duncan (1967) für die USA oder Müller (1972) für Deutschland aus einer pfadanalytischen Perspektive hingewiesen haben.