Einleitung

Das menschliche Leben ist zeitlich geformt. Es erstreckt sich in der Zeit, es ist endlich und es ist, wie alles Leben, von Prozessen des Wachsens, Gedeihens und Verfallens geprägt. Unser Selbstbild hängt zudem davon ab, an welcher Stelle des biographischen Verlaufs wir uns befinden und wie wir auf unsere Vergangenheit zurückblicken und welche Zukunft wir erwarten.

Zeit ist ebenso ein wichtiger Faktor dafür, wie gut ein menschliches Leben ist – was auch immer man unter einem „guten Leben“ genau versteht. Was für ein zweijähriges Kind gut und hilfreich ist, kann für eine 15-Jährige unpassend sein. Und wie wir selbst oder andere unser Leben beurteilen, hängt auch davon ab, wie es sich zeitlich entwickelt, welchen „Bogen“ es in der Zeit schlägt, ob Lebensphasen altersgemäß sind usw.

Es wäre erstaunlich, wenn die Zeitlichkeit des guten Lebens nicht auch für die Medizin eine erhebliche Rolle spielen würde – und die Medizin für die Zeitlichkeit des guten Lebens. Einige Phänomene sind in der medizinischen und medizinethischen Diskussion bereits in den Blick geraten (vgl. zum Überblick Schweda und Wiesemann 2016; Schweda 2021). Besonders naheliegend ist der Zusammenhang zwischen Medizin, Zeit und gutem Leben dann, wenn sich die eigene Lebenszeit dem Ende nähert, im Falle tödlicher Krankheiten also oder im hohen Alter (vgl. Rentsch 2014; Schweda 2014; Rovers et al. 2019; Guldager et al. 2021; Weber-Guskar 2021). Entsprechendes gilt für Bestrebungen der Anti-Aging-Medizin, die menschliche Lebensspanne extrem zu erweitern oder gar den Tod abzuschaffen (vgl. Baars 2012; Bozzaro 2014b; Wareham 2016). Ein anderes Beispiel sind Methoden der technisch assistierten Reproduktion, mit denen sich die zeitlichen Grenzen der weiblichen Reproduktionsfähigkeit durch medizinisch-technische Maßnahmen verschieben lassen (vgl. Schweda und Rimon-Zarfaty 2018; King et al. in diesem Heft). Auch der Zusammenhang zwischen Zeit und bestimmten psychiatrischen Erkrankungen wurde bereits mehrfach untersucht (vgl. Ratcliffe 2012; Fuchs 2013, 2020; Juckel et al. 2022).

Doch bei alledem handelt es sich um bestimmte Lebensphasen, bestimmte Lebensumstände und bestimmte medizinische Bereiche. Der Zusammenhang zwischen Medizin, Zeit und gutem Leben ist damit zwar interessant und wichtig, aber er besteht vorerst nur aus einer Reihe von Spezialproblemen. Würde sich das Verhältnis zwischen Medizin und der Zeitgestalt des guten Lebens darin erschöpfen, müsste man sagen: Für die Medizin ist die Zeitgestalt des guten Lebens im Allgemeinen von keiner großen Bedeutung. Und diese Zeitgestalt bestände vor allem in dem Lebenslauf mit seinen Stationen Geburt, Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Alter, Sterben, Tod. Doch so sehr diese biographischen Etappen das Bild unseres Gesamtlebens prägen, sind sie im Alltag längst nicht immer relevant, auch nicht im medizinischen Alltag. Das gilt jedenfalls für die Jahrzehnte des Erwachsenenlebens, die in unserer Gesellschaft den größten Teil eines durchschnittlich langen Lebens ausmachen. Ob wir mit 20 oder 40 oder 60 Jahren wegen einer Mittelohrentzündung zur HNO-Ärztin gehen, ist unerheblich.

Damit stellt sich die Frage: Gibt es einen Zeitbezug des guten Lebens, der für alle Lebensphasen, für alle medizinischen Bereiche und für alle gesundheitlichen Umstände relevant ist? Oder, vorsichtiger formuliert, für den Großteil von ihnen? Das ist die Frage, der ich in diesem Artikel nachgehe. Und die Antwort, die ich geben werde, lautet in nuce: Ja, es gibt eine mindestens zweifache Relevanz. Erstens besteht der Sinn medizinischer Behandlungen in der Ermöglichung erfüllter Gegenwart. Zweitens geschieht dies u. a. dadurch – oder kann und sollte u. a. dadurch geschehen –, dass wir der Zeitlichkeit unserer lebendigen Körper gerecht werden.

So gehe ich vor: Zunächst werde ich das Verständnis des guten Lebens skizzieren, das den folgenden Überlegungen zugrunde liegt. Dieses Verständnis stellt die Sinnhaftigkeit eines Lebens in den Mittelpunkt. Im nächsten Abschnitt geht es um den ersten Teil der zweifachen These: inwiefern der Sinn medizinischer Entscheidungen in der Ermöglichung erfüllter Gegenwart liegt. Daraufhin folgt der zweite Teil: inwiefern eben diese erfüllte Gegenwart ermöglicht wird, indem wir der Zeitlichkeit unserer Körper gerecht werden. Im Schlussabschnitt führe ich die zwei Teilthesen zusammen.

Das gute Leben als sinnvolles Leben

Alle wollen ein gutes Leben, aber was ist das? Das Anliegen, das gute menschliche Leben begrifflich auf den Punkt zu bringen, stößt auf eine gewisse akademische Reserviertheit, nicht zuletzt in der Medizinethik. Denn, so der Gedanke, das, was ein Leben gut macht, ist so individuell, dass sich darüber kaum etwas Allgemeingültiges sagen lässt. Die Frage nach dem guten Leben ist demnach wichtig, muss aber von jeder Person für sich beantwortet werden (vgl. z. B. Savulescu 2007; Marckmann 2016, S. 4 f.).

An diesem Gedanken ist selbstverständlich etwas sehr Wahres. Er ist eine der Rechtfertigungssäulen, auf denen das normative Gewicht der Patientenautonomie im Besonderen und die liberale Rechtsordnung im Allgemeinen ruhen. Dennoch sollte er uns nicht davon abhalten, gerade auch aus medizinethischem Interesse, an einer Konzeption des guten Lebens zu arbeiten, und zwar aus mindestens vier Gründen: Erstens ist es moralisch geboten, Patienten für ihre individuellen Entscheidungen Empfehlungen an die Hand zu geben. Denn die Befugnis, nach eigenen Vorstellungen des guten Lebens zu entscheiden, garantiert weder eine durchdachte und kohärente Vorstellung des guten Lebens noch eine Entscheidung in diesem Sinne. Zweitens sind wir bei aller Pluralität im Einzelnen nicht so divers, dass sich keine gemeinsamen Muster finden ließen. Wir alle teilen dieselbe menschliche Natur, wir alle haben vergleichbare Bedürfnisse. Drittens prägen Vorstellungen vom guten Leben sowohl moralische Überzeugungen und Entscheidungen auf ärztlicher Seite als auch politische Entscheidungen und organisatorische Festlegungen in Institutionen des Gesundheitswesens (vgl. Kipke 2013). Über das gute Leben systematisch nachzudenken, kann hier zumindest für Transparenz sorgen. Viertens dürfte die Dimension des guten Lebens ins Spiel kommen, wenn wir von der Ebene einzelner medizinischer Entscheidungen abstrahieren und die Frage nach Sinn und Zweck der Medizin stellen.

Was aber zeichnet ein gutes Leben aus? Mein Vorschlag lautet: Ein gutes Leben ist vor allem ein sinnvolles Leben (vgl. Kipke 2014). Genauer gesagt: ein Leben, das erstens sinnvoll ist und zweitens von der jeweiligen Person als sinnvoll erlebt wird. Die Rede von Sinn mag in manchen Ohren verstiegen oder ideologisch klingen. Doch dieser Eindruck entsteht nur dann, wenn unter „Sinn“ ein letzter, „kosmischer“ Sinn verstanden wird, ein vorgegebener Zweck menschlichen Daseins, der „Sinn des Lebens“. So ein Sinn lässt sich in der Tat nicht ohne problematische religiöse oder metaphysische Annahmen denken. Doch „Sinn“ kann auch etwas weniger Voraussetzungsvolles meinen: dasjenige, was einem menschlichen Leben Wert und Bedeutung verleiht; etwas, das ein Leben mehr oder weniger haben kann und was vom Tun der jeweiligen Person abhängt. Und tatsächlich bewerten wir in diesem Sinn allenthalben Taten, Lebensweisen und Lebensverläufe. Das Spektrum dessen, was im Allgemeinen als sinnvoll gilt, ist weit: Es reicht von gelingenden Nahbeziehungen in Freundschaft und Familie über viele berufliche Tätigkeiten, gemeinwohlorientierte politische Arbeit und humanitäres Engagement bis hin zu wissenschaftlichem Erkenntnisstreben und künstlerischem Schaffen. Und selbst die Pflege eines schönen Hausgartens, der Genuss alter ABBA-Songs oder das Lesen aufschlussreicher Artikel in Ethik in der Medizin mögen einem Leben Sinn verleihen.

Lassen sich diese unterschiedlichen Dinge auf einen Nenner bringen? Ja: Stets geht es darum, dass Menschen mit intrinsisch Wertvollem jenseits ihrer selbst als Personen positiv verbunden sind. Kurz zur Erläuterung: Was intrinsisch wertvoll ist, mag im Einzelnen umstritten sein. Dass es etwas gibt, das um seiner selbst willen zu schätzen ist, ist hingegen Bestandteil unserer alltäglichen Wertungspraxis. Für die meisten dürften vor allem Menschen intrinsisch wertvoll sein (vgl. Glaw et al. 2017). Andere Menschen wohlgemerkt, denn sinnvoll zu leben hat immer etwas mit Selbsttranszendenz zu tun. Das können Freunde oder Familienangehörige sein, bestimmte Gruppen von Menschen oder sogar alle Menschen. Aber auch Dinge wie Kunstwerke können intrinsischen Wert haben, ebenso wie Erkenntnisse, Landschaften, Tiere usw.

Die Verbindung mit intrinsisch Wertvollem muss des Weiteren positiver Art sein, um Sinn stiften zu können: schaffend, pflegend, schützend, liebend, entdeckend, verbessernd usw. Aus Verachtung, Missbrauch oder Demütigung geht kein Sinn hervor.Footnote 1 Und schließlich muss die Verbindung personaler Art sein. Das heißt, die jeweilige Person muss als Person beteiligt sein. Das geschieht vor allem durch aktives Tun. Gleichwohl können auch rezeptive Verhältnisse dazu zählen, insofern die wahrnehmende Person dabei als Person beteiligt ist, d. h. nicht bloß einem Geschehen ausgesetzt ist, sondern Absichten verfolgt oder zumindest die Wahrnehmung bejaht. Sowohl Tun als auch bejahendes Wahrnehmen sind Formen des Handelns.

Wir sehen: „Sinn“ meint hier keinen metaphysischen Fluchtpunkt, nichts Ideologisches. Das Konzept hat vielmehr einen säkularen und klar konturierten Gehalt und vermag zugleich die sehr unterschiedlichen Formen von Sinn zu erfassen, die Menschen in ihrem Leben realisieren.Footnote 2

Diese Begriffsbestimmung betrifft dasjenige, was ein sinnvolles Leben ist. Damit es ein umfassend gutes Leben ist, muss die betreffende Person zweitens die Sinnhaftigkeit auch erleben. Zu der objektiven Dimension von Sinn tritt also eine subjektive Dimension. Das Erleben von Sinn oder zumindest die Zuversicht, dass das eigene Leben sich als sinnvoll erweist, sichert und fördert subjektives Wohlbefinden und Gesundheit (vgl. Mascaro und Rosen 2005; Rathi und Rastogi 2007; Schnell 2016, S. 114 f.; Sørensen et al. 2019; Vötter und Schnell 2019). Anders gesagt: Sinnerleben macht glücklich. Bei einem erheblichen, krisenhaften Mangel an Sinnerleben hingegen sind, wie die psychologische Sinnforschung zeigt, „positive Affekte, Lebenszufriedenheit, Hoffnung und Selbstwirksamkeit stark verringert“ (Schnell 2016, S. 78). Auch für die Lebensbewältigung wichtige Fähigkeiten wie Resilienz, Selbstmotivation und Aufmerksamkeitssteuerung sind eingeschränkt (vgl. Schnell 2016, S. 78; Sørensen et al. 2019). Im Extremfall kann das Fehlen von Sinnerleben die lebensverneinende Form von Depression und Suizidalität annehmen (vgl. Schnell 2016, S. 78 f.; Kleiman und Beaver 2013; Glaw et al. 2017; Schnell et al. 2018; Sørensen et al. 2019; Lew et al. 2020; Sun et al. 2022).Footnote 3 Auch ein Mangel an Sinnerfahrung, der nicht krisenhaft auftritt, eine „existenzielle Indifferenz“ geht „einher mit subjektiver Hilflosigkeit und Kontrollverlust“ (Schnell 2016, S. 96).

Und was ist mit einem Leben, das arm an Sinn ist, jedoch reichlich Erfahrungen des Wohlbefindens, des Genusses kennt? Es ist kein Leben, das insgesamt gut ist. Ihm fehlt etwas Entscheidendes. Wer den Sinnmangel bei sich selbst erkennt, wird ohnehin aufgrund der engen Verknüpfung zwischen Sinnerleben und Wohlbefinden letzteres nur wenig erfahren. Möglich ist aber der Fall, dass sich jemand über den Sinngehalt seines Lebens irrt. Man denke beispielsweise an eine glückliche Nationalsozialistin, die glaubt, ihrem Leben durch rassistisch motivierte Morde Sinn zu verleihen.

Und andersherum: ein Leben, das reich an Sinn, aber zugleich voller Leid ist? Auch das kann es geben. Die Antwort ist im Grundsatz dieselbe: Das ist kein insgesamt gutes Leben. Allerdings ist das Verhältnis zwischen Sinn und Leid hier komplizierter. Leid kann auch als Bestätigung oder als notwendiger Preis für ein sinnstiftendes Engagement verstanden werden und steht dann nicht zwingend im Gegensatz zu einer positiven Bewertung des eigenen Lebens. Auch kann ein Schicksalsschlag zwar leidvoll sein, aber gerade deshalb zu einer fruchtbaren Neuorientierung im Streben nach Sinn führen. Überhaupt handelt es sich bei der Rede vom sinnvollen, sinnlosen, leidvollen Leben usw. selbstverständlich um vereinfachende Typisierungen, die dem Bemühen um theoretischen Überblick geschuldet sind. In der Realität sind die unterschiedlichen Dimensionen guten Lebens üblicherweise in unterschiedlichem Ausmaß vorhanden und durchdringen sich auf komplexe Weise.

Eine wichtige Frage ist bislang offen geblieben: Warum sollte unser Verständnis guten Lebens überhaupt vorrangig um Sinn kreisen? Schließlich gibt es eine Reihe anderer prominenter Vorschläge zum Verständnis des guten Lebens. Dazu gebe ich zwei Antworten, eine theoretische und eine empirische, jeweils ganz knapp. Die theoretische Antwort: Üblicherweise werden drei Gruppen von Theorien des guten Lebens unterschieden, nämlich objektive-Güter-Theorien, Wunscherfüllungstheorien und hedonistische Theorien (diese Dreigliederung folgt Parfit 1984, S. 493). Das von mir vorgeschlagene Verständnis guten Lebens beansprucht, die wesentlichen Elemente aller drei Theorierichtungen integrieren und ihre Einseitigkeiten überwinden zu können. Objektive-Güter-Theorien nehmen an, dass ein gutes Leben in der Realisierung bestimmter Dinge besteht, die unabhängig von der subjektiven Einschätzung wertvoll sind, wie z. B. Freundschaft, gesellschaftliche Teilhabe usw. (vgl. z. B. Nussbaum 1999). Das entspricht den Verbindungen zu intrinsisch Wertvollem in meinem Verständnis. Die zentrale Idee hedonistischer Theorien, dass sich ein gutes Leben durch die Erfahrung von Lust, von Glück auszeichnet (vgl. z. B. Feldman 2004), findet sich in der zweiten von mir formulierten Bedingung für ein gutes Leben wieder, in dem als sinnvoll erlebten Leben. Denn wir haben gesehen, dass Glück, Freude, Lust ganz wesentlich von Sinnerfahrung abhängen. Und schließlich haben wir Vorstellungen sinnvollen Lebens, die wir zu verwirklichen wünschen, die unsere Lebenspläne ausmachen. Solche Lebenspläne zu verwirklichen ist Wunscherfüllungstheorien zufolge das zentrale Moment guten Lebens (vgl. z. B. Seel 1999; vgl. zum Überblick über die Debatte zum guten Leben Fenner 2007; Steinfath 2011). Kurzum, Sinn und Sinnerfahrung sind nicht ein hübscher Zusatz des guten Lebens, sondern sie sind das gute Leben selbst.

Die empirische Antwort hat sich schon oben angedeutet, als es um die Auswirkungen fehlender Sinnerfahrung ging: Sinn ist dasjenige, was uns am Leben hält. Auf vieles kann ein Mensch verzichten, auf Sinnerfahrung letztlich nicht (egal, ob das Wort „Sinn“ benutzt wird oder nicht) – sei es in Form von Bindungen, Teilhabe, Engagement, als wertvoll erlebter Arbeit oder anderem. Fehlende Sinnerfahrung hingegen kann zu Depression und suizidalem Verhalten führen (vgl. Schnell 2016, S. 78 f.; Kleiman und Beaver 2013; Glaw et al. 2017; Schnell et al. 2018; Sørensen et al. 2019; Lew et al. 2020; Sun et al. 2022). Und depressive Störungen sind ihrerseits diejenigen psychischen Erkrankungen, die wie keine anderen mit Suizidalität und der Erfahrung von Sinnlosigkeit verbunden sind (vgl. Wolfersdorf und Etzersdorfer 2011, S. 99, 147; Gerngroß 2020, S. 36–40). Kurz: Ohne Sinnerfahrung keine Lebensbejahung, ohne Lebensbejahung kein gutes Leben.

So weit zum Verständnis des guten Lebens als sinnvollen Lebens. Wie kommt nun die Zeit ins Spiel? Das hängt davon ab, aus welcher Perspektive wir auf das gute, sinnvolle Leben schauen. Sofern wir das Leben als Ganzes in den Blick nehmen, das Leben anderer Menschen oder das eigene Leben, wird unser Bild maßgeblich vom biographischen Verlauf bestimmt. Dabei stellen sich solche Fragen: Was geschah in welcher zeitlichen Reihenfolge? Welche Arten sinnstiftender Tätigkeiten haben die verschiedenen Lebensphasen geprägt? Wie hat sich jemand entwickelt? Wie hat er seine Lebenszeit genutzt? Lässt sich das Leben als eine sinnvolle Geschichte erzählen? (Vgl. Cottingham 2009). Doch das ist eine Außenorientierung, die wir zwar in Bezug auf uns selbst für Augenblicke einnehmen können, als unserer selbst bewusste Personen auch immer wieder einnehmen müssen, in der wir aber unser Leben kaum führen können. Aus dieser Vogelperspektive mögen wir das Gelingen unseres Lebens beurteilen, sie gestattet dieses Gelingen jedoch nicht. Maßgeblich ist stattdessen die Binnenperspektive lebender Menschen, die ihr Leben führen müssen und die es gut führen wollen. In dieser Perspektive kommt die Zeit auf eine andere Weise ins Spiel. Hier besteht die Herausforderung nämlich darin, uns von Vergangenheit und Zukunft partiell zu lösen und in der Gegenwart zu leben.

Erfüllte Gegenwart

In der Gegenwart leben – das mag nach der Weisheit eines Glückskekses klingen. Und doch ist es so: Sinn stiften wir durch unser Handeln, und handeln können wir nur im Jetzt. Sinnvoll leben wir in der Gegenwart oder gar nicht. Die Vergangenheit ist nicht mehr, die Zukunft ist noch nicht (vgl. Le Poidevin 2019, Kap. 5). Sofern man unter der Zeitgestalt des Lebens die Trias von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft versteht, muss diese Zeitgestalt um des guten Lebens willen in den Hintergrund treten. Gut wird ein Leben allein durch eine von sinnstiftender Tätigkeit erfüllte Gegenwart und das Erleben ebendieser Sinnstiftung.

Selbstverständlich spielen Vergangenheit und Zukunft auch für die erfüllte Gegenwart ihre Rolle. Denn wir handeln auf der Grundlage vergangener Erfahrungen und mit Plänen für kommende Zeiten. Unsere Identität, die unser Handeln prägt, ist auf ein gewisses Maß an Kontinuität angewiesen, darauf also, dass unsere zentralen Ziele, Überzeugungen und unser Selbstbild über den Augenblick hinaus Bestand haben (vgl. Frankfurt 2005, S. 28 f.). Insofern kann man sagen, dass die erfüllte Gegenwart Vergangenheit und Zukunft in sich einschließt (vgl. Bozzaro 2014a, S. 258; Steinfath 2020, S. 499 f.; Weber-Guskar 2021, S. 248). Allerdings heißt das nicht, dass die drei Zeitdimensionen gleichermaßen wichtig sind. Die erfüllte Gegenwart schließt Vergangenheit und Zukunft ein, nicht umgekehrt. Die Bezüge auf Vergangenheit und Zukunft sind für das Nachdenken über unser Leben als Ganzes unverzichtbar, aber es sind vorrangig mentale Bezüge: Erinnern, Bereuen, Hoffen, Fürchten, Bewerten. Die biographische Perspektive ist vor allem eine des Denkens, während sinnvoll leben eine Sache des Handelns ist. Und handeln können wir nur gegenwärtig.

Um der erfüllten Gegenwart willen – und damit um des guten Lebens willen – müssen wir auch in unserem Bewusstsein eine gewisse Distanz gegenüber Vergangenheit und Zukunft wahren. Erfüllt kann die Gegenwart nur dann sein, wenn sie weder vom Wissen um die unwiderrufliche Gewordenheit zum Erstarren gebracht wird noch von der Ungewissheit des Kommenden oder von der Gewissheit des zukünftigen Todes beirrt wird. Zwar kann der Blick auf vergangene Sinnstiftung uns etwas bedeuten, aber dann ist es die Erinnerung an frühere erfüllte Gegenwart. Solch ein erinnernder Bezug kann nicht selbst sinnstiftend sein, sondern ist bloß derivativ. Wenn die Sinnhaftigkeit eines Lebens ausschließlich in der Vergangenheit liegt, wie in früheren Leistungen oder erloschenen Beziehungen, erhält es eine Boris-Becker-artige Tragik. Ähnlich beim Bezug auf die Zukunft: Zwar beziehen wir uns hoffend, erwartend, planend auf sie, aber wenn uns das Hoffen, Erwarten, Planen zu sehr absorbiert, kommen wir nicht ins Tun. Wir verfehlen die Gelegenheiten zur Sinnstiftung, die sich nur im Heute bieten (vgl. Bozzaro 2014a, S. 258 f.; Steinfath 2020, S. 504). Aber kommt der Zukunftsorientierung nicht dennoch die zentrale Rolle für Sinnstiftung zu? Wir wollen doch etwas, wir arbeiten auf etwas hin, wir streben etwas an, von dem wir uns Sinn versprechen. Liegt es daher nicht näher, von einem Vorrang der Zukunft statt von einem Vorrang der Gegenwart auszugehen? Nein. Das Anstreben von Zielen ist für sinnstiftendes Handeln zweifellos oft wichtig, aber notwendig ist es nicht. Längst nicht jede Sinnstiftung hat Projektcharakter. Insbesondere für menschliche Nahbeziehungen, für zwischenmenschliche Begegnungen hat das Verfolgen von Zielen keine konstitutive Bedeutung. Eine Beziehung zwischen Freunden etwa verfolgt kein Ziel, das in der Zukunft realisiert wird. Ein Gespräch muss, um erfüllend zu sein, kein Ziel haben. Einen Vorrang der Zukunft würde Sinnstiftung zudem vom Erfolg der Zielerreichung abhängig machen. Doch so urteilen wir längst nicht immer. Die Weiße Rose ist gescheitert, ihr Tun gilt dennoch als sinnstiftendes Handeln par excellence. Einen Vorrang der Zukunft anzunehmen hätte außerdem die fragwürdige Konsequenz, hochbetagten Menschen und Patienten mit letalen Krankheiten tendenziell die Fähigkeit zur Sinnstiftung abzusprechen. Diese Fähigkeit aber haben sie – eben weil auch sie erfüllte Gegenwart erfahren können.

Besonders ausgeprägt ist die erfüllte Gegenwart in Erlebnissen des sogenannten Flow (vgl. Csíkszentmihályi 1975). Dann also, wenn wir selbst- und zeitvergessen ganz in unserer Tätigkeit aufgehen. In solchen Momenten purer Gegenwart wird nicht mehr erlebt, wie die Zeit vergeht. Um das Phänomen der erfüllten Gegenwart zu verstehen, sollte man sich aber nicht einseitig an dem Bild rauschhafter Schaffenskraft orientieren. Auch in einem guten Gespräch mit einer Freundin, in konzentrierter Laborarbeit, in einer politischen Strategiesitzung oder beim Unkrautjäten können wir erfüllt im Jetzt leben. Das Gegenteil erfüllter Gegenwart hingegen ist ein Zustand der Langeweile oder der depressiven Leere, in der sich die Zeit gefühlt endlos dehnt. Der äußeren Zeit nach befinden wir uns dann zwar in der Gegenwart, aber sie ist nichts weiter als eine monotone Abfolge bedeutungsloser Punkte auf dem Zeitstrahl.

Heute, Jetzt, Handeln – Was umfasst die Gegenwart? Wie lang dauert sie? Sie ist kein ausdehnungsloser Punkt, in dem Zukunft in Vergangenheit umschlägt. Als solcher mag die Gegenwart in der physikalischen Zeit erscheinen. Bei der Frage nach dem guten Leben aber geht es um die erlebte Zeit.Footnote 4 Und hier hat die Gegenwart eine gewisse Ausdehnung. Sowohl neurophysiologische Studien als auch philosophisch-phänomenologische Untersuchungen zeigen, dass wir Gegenwart nicht punktuell, sondern als Wahrnehmungseinheiten von einigen Sekunden Dauer erleben (vgl. Pöppel 1978, S. 722–725; Husserl 2000, S. 19 ff.). Andernfalls könnten wir keine Sätze verstehen, keine Melodien hören, überhaupt keine zeitlich komplexen Wahrnehmungen haben, sondern alles würde in unverständliche Wahrnehmungsfragmente zerfallen. Über dieses unmittelbare Gegenwartserleben hinaus greifen wir in dem, was wir Gegenwart nennen, vorausschauend und erinnernd aus (Husserl 2000, S. 35 ff.). Auch auf diese Weise umfasst die Gegenwart Teile von Vergangenheit und Zukunft. Wie lange diese Gegenwart währt, ist abhängig von der jeweiligen Tätigkeit und von der konkreten Perspektive. „Zurzeit schreibe ich an einem medizinethischen Aufsatz“ meint eine anders ausgedehnte Gegenwart als „Im Moment sitze ich am Frühstückstisch“. So kann auch die erfüllte Gegenwart in unterschiedlich langen Intervallen bestehen.

Was hat all das nun mit der Medizin zu tun? Ganz einfach: Krankheiten sind Hindernisse für erfüllte Gegenwart.Footnote 5 Sie erschweren in der Regel die positive, personale Verbindung mit der Welt, die die erfüllte Gegenwart sinnvollen Lebens ausmacht. Denn Krankheiten werfen uns auf uns selbst zurück. Statt in gegenwärtiger Verbundenheit zu leben, statt selbsttranszendent Sinn stiften zu können, sind wir mit uns selbst beschäftigt. Besonders offensichtlich ist dies vielleicht bei starken Schmerzen. Der Schmerz „verunmöglicht die Kontaktaufnahme zur Welt“, wie Giovanni Maio ganz richtig bemerkt (Maio 2016, S. 92). Doch die Erschwerung gegenwärtiger Weltverbundenheit ist nahezu allen Arten des Krankseins eigen. Unser Leben ist dann geprägt von Erschöpfung statt Erschaffen, von Fieber statt Mitfiebern, von Kurzatmigkeit statt Kommunikation, von Durchfall statt Denken, von Übelkeit statt Zärtlichkeit. Krankheit, so könnte man sagen, verstopft die Gegenwart.

Vor allem solche Krankheiten erschweren erfüllte Gegenwart, die als Krankheiten erlebt werden, die also mit subjektiven Symptomen einhergehen. Ein nicht-diagnostizierter Tumor, der sich für die Person noch nicht bemerkbar macht, oder eine unerkannte genetische Anlage für eine Erkrankung, die sich (noch) nicht manifestiert, haben keine Auswirkungen auf die Fähigkeit zu erfüllter Gegenwart. Allerdings kann sich bereits das Wissen um solche biomedizinischen Funktionsstörungen oder genetischen Krankheitsdispositionen auf die Fähigkeit zu erfüllter Gegenwart auswirken. Ein solches Wissen kann große Verunsicherung und Angst vor der zukünftigen Entwicklung auslösen und so den Zugang zu erfüllter Gegenwart erschweren.

Die Erschwerung gegenwärtiger Weltverbundenheit beschreibt auch Havi Carel in ihrer Phänomenologie der Krankheit: „From a feeling of inhabiting a familiar world, the ill person is thrown into uncertainty and anxiety. Her attention is withdrawn from the world and focused on her body“ (Carel 2016, S. 92). „The body […] is suspended from the world. The focus shifts from experiencing oneself primarily as an intentional subject to experiencing oneself as a material object“ (Carel 2016, S. 99). Diese Erfahrung, auf die eigene Körperlichkeit beschränkt zu werden, ist nicht etwas Zusätzliches, sondern gehört wesentlich zu der Erschwerung erfüllter Gegenwart durch (zumindest somatische) Krankheiten. Denn erfüllte Gegenwart besteht in dem personalen Bezug zu anderem. Wenn wir gesund sind, zumindest symptomfrei oder -arm, ist unser Körper selbstverständlicher Träger und Ausdruck dieses personalen, handelnden Bezugs. In einer Krankheit schiebt sich der Körper gewissermaßen in den Vordergrund und erschwert unsere Selbsttranszendenz.

Die Erschwerung erfüllter Gegenwart ist natürlich unterschiedlich ausgeprägt. Ausmaß und Art hängen von der Symptomatik, von der Dauer und Schwere der Erkrankung, von den Prognosen und therapeutischen Möglichkeiten, von individuellen Dispositionen und von den Reaktionen der sozialen Umwelt ab. Doch die Erschwerung erfüllter Gegenwart beginnt nicht erst mit gravierenden Erkrankungen. Schon eine harmlose Erkältung verstopft nicht nur die Nase, sondern hemmt mit dem Geruchssinn einen Zugang zur Welt. Husten, Halsschmerzen und Fieber erschweren den personhaften, positiven Bezug auf anderes als man selbst; dem erkälteten Menschen kommt der Körper in die Quere. Dennoch können schwere, v. a. potenziell tödliche Erkrankungen in besonders markanter Weise den Zugang zu erfüllter Gegenwart versperren. Das kann zum einen durch extreme Sorge um die Zukunft geschehen, durch die Angst vor baldigem Sterben und Tod, aber auch durch das Gefühl einer überwältigenden Unberechenbarkeit des Lebens (vgl. Sokol und Hoppenworth 2018, S. 37–41; Maffoni et al. 2019, S. 769; Moskalewicz et al. 2022, S. 4). Zum anderen kann erfüllte Gegenwart durch einen übermäßigen Vergangenheitsbezug verhindert werden, indem Reue dominiert: über Getanes, das im Lichte der Erkrankung nun als sinnlos erscheint, oder Ungetanes, das krankheitsbedingt nicht mehr nachgeholt werden kann (vgl. Davies 1997, S. 568 f.; Rovers et al. 2019, S. 5 f.; Moskalewicz et al. 2022, S. 5). Über die zwei zeitbezogenen Fluchtbewegungen schreibt Drew Leder:

„[…] anticipating, just as remembering, has the shadow side of potentially devaluing the present. Seeking to escape the painful ‚now,‘ it is difficult to appreciate the richness of what currently I can do and experience.“ (Leder 2021, S. 105)

Zu einem vollständigen Bild vom Verhältnis zwischen Krankheit und Gegenwart gehört allerdings auch, dass es manchen Patienten gelingt, gerade durch eine Krankheit in der Gegenwart zu leben oder dies sogar mehr zu tun, als sie es vorher taten (vgl. Charmaz 1997, S. 178–195; Davies 1997, S. 566 f.; Mount et al. 2007, S. 376–380; Leder 2021, S. 106). Dies scheint v. a. dann möglich zu sein, wenn es sich um schwere chronische oder lebensbedrohliche Krankheiten handelt. Denn durch die schweren Belastungen und/oder die sich radikal veränderten Lebensaussichten sehen Patienten ihre bisherigen Lebensweisen und Zukunftspläne in besonderem Maße in Frage gestellt. Von ihnen Abschied zu nehmen, sich den gegenwärtigen Sinnoptionen zuzuwenden, die Gegenwart neu zu ergreifen, scheint eine Möglichkeit zu sein, mit solchen Erkrankungen produktiv umzugehen: „Living one day at a time can spur someone to find meaning and fulfillment“ (Charmaz 1997, S. 185). Und das macht deutlich: Die neuerrungene erfüllte Gegenwart ist keine unmittelbare Wirkung der Krankheit, sondern ein Ergebnis der Auseinandersetzung mit ihr. Und bei weitem nicht in allen Fällen schwerer Erkrankungen gelingt den Betroffenen eine Neugewinnung der Gegenwart. Eine solche Neugewinnung liegt zudem noch nicht vor, wenn die Patienten lediglich die Frage nach einer neuen Lebensorientierung stellen (vgl. Stoecker 2021, S. 462 f.). Es bleibt also bei der grundsätzlichen Tendenz: Krankheiten erschweren oder verhindern erfüllte Gegenwart. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass im Zuge von Erkrankungen sinnstiftende menschliche Beziehungen entstehen können, nämlich zwischen den Patienten und dem pflegerischen und ärztlichen Personal, oder Beziehungen zu Angehörigen vertieft werden können. Denn auch diese erfüllte Gegenwart entsteht nicht durch die Krankheit, sondern durch den sozialen Umgang mit ihr.

Dies alles wirft ein neues Licht auf die Medizin. Ihr Zweck besteht darin, die gegenwartsversperrende Kraft von Krankheiten aufzulösen, zu mindern oder gar nicht erst entstehen zu lassen. Anders gesagt: Der Medizin geht es darum – oder sollte es darum gehen –, Patienten den Zugang zu erfüllter Gegenwart zu ermöglichen. Das gilt für somatische Medizin ebenso wie für die Psychiatrie, für kurative Therapie ebenso wie für palliative und präventive. Prävention ist zwar zukunftsbezogen, aber auch sie zielt auf die Ermöglichung erfüllter Gegenwart, nämlich indem sie deren zukünftige Erschwerung verhindert. Zum Aufgabenbereich der Medizin gehört auch, erfüllte Gegenwart dadurch zu ermöglichen, dass bei unheilbaren chronischen Krankheiten ein akzeptierender Umgang seitens der Patienten unterstützt wird. Denn solche Akzeptanz befreit die Patienten von der Fixierung auf eine bestimmte Zukunftserwartung (irgendwann wird es besser) und wehmütiger Rückwärtsgewandtheit (früher war es besser), zwischen denen die Gegenwart zerrieben wird. Sofern frühere sinnstiftende Tätigkeiten durch die Erkrankung nun verschlossen sind, geht es darum, sich neue Möglichkeiten erfüllter Gegenwart zu erschließen (vgl. Charmaz 1997; Mount et al. 2007; Pfeffer 2008).

Dieses Verständnis von Medizin und Krankheit, von gutem Leben und Gegenwartsbezogenheit kann auf manche Einwände stoßen.Footnote 6 Zwei seien im Folgenden kurz diskutiert.

Erstens könnte man einwenden, dass dieser Ansatz eine Überforderung der Medizin darstellt. Medizin kann vieles, aber nicht dem Leben der Patienten Sinn verleihen. Sie kann ihnen nicht eine von sinnvoller Tätigkeit erfüllte Gegenwart verschaffen. Wer das verlangt, macht aus der Heilkunst eine Heilskunst. – Das ist richtig. Allerdings war von solch einer übersteigerten Erwartung keine Rede. Die Medizin kann diese erfüllte Gegenwart nicht schaffen, das kann nur der Patient selbst. Doch sie kann den Raum dafür bereiten. Genauer gesagt: Sie kann einen Teil dazu beitragen, dass der Raum dafür besteht. Denn andere Bedingungen müssen hinzutreten. Dazu gehören mentale, charakterliche Ressourcen, aber auch ein Mindestmaß an materieller Sicherheit. Wer etwa aufgrund extremer Armut um das tägliche Überleben ringt, dürfte Schwierigkeiten haben, sinnstiftend im Jetzt tätig zu sein. Diese Hindernisse liegen jenseits des Kompetenzbereichs der Medizin. Doch Schmerzen, Schlaflosigkeit, motorische Einschränkungen, Beeinträchtigungen der Sinne, sexuelle Dysfunktionen, Antriebslosigkeit, Konzentrationsstörungen, Angststörungen und vieles mehr – all diese Symptome können massive Hindernisse für das Erfahren einer erfüllten Gegenwart sein. Und hier kann die Medizin einen erheblichen Beitrag zur Schaffung der Bedingungen leisten.

Ein zweiter möglicher Einwand geht in eine gegenteilige Richtung. Demnach verlangt das hier skizzierte Verständnis von der Medizin nicht zu viel, sondern zu wenig: Mit der Orientierung an den Bedingungen erfüllter Gegenwart wäre die Medizin ausschließlich am Wohlergehen der Patienten orientiert, während deren Autonomie unter den Tisch fiele. – Auch dieser Einwand geht fehl. Die Autonomie wird weder ausgeblendet noch unterminiert. Denn erstens beansprucht das gegenwartsorientierte Medizinverständnis ja nicht, alles abzudecken, was in medizinischen Angelegenheiten normativ und evaluativ von Belang ist. Nach der medizinethischen Standardauffassung ist Patientenautonomie das Recht, über ärztlich angebotene Behandlungen anhand eigener Vorstellungen des guten Lebens selbstbestimmt zu entscheiden. Daran ändert sich durch das gegenwartsbezogene Medizinverständnis nichts. Zweitens: Der Unterschied zur Standardauffassung ist zwar, dass das „gute Leben“ hier nicht gänzlich offen gelassen wird, sondern in seiner zeitlichen Struktur näher spezifiziert wird. Doch das ist mitnichten ein trojanisches Pferd des Paternalismus. Denn welche Risiken und Belastungen Patienten für die Wiedergewinnung oder Sicherung erfüllter Gegenwart in Kauf nehmen und welche krankheitsbedingten Hindernisse für eine erfüllte Gegenwart sie akzeptieren, obliegt ihrer Entscheidung. Zwar lassen sich durchaus objektive Kriterien für das finden, was eine erfüllte Gegenwart ist und nicht ist. Dumpf vor sich hinzubrüten etwa ist gewiss keine, ebenso wenig wie von Zukunftssorgen beherrscht zu werden oder sich in Gram über ungenutzte Lebenschancen zu ergehen. Gleichwohl lässt sich erfüllte Gegenwart nicht an der jeweiligen Person vorbei schaffen. Es geht schließlich um die personale Verbindung mit intrinsisch Wertvollem. Ohne die Bejahung seitens der jeweiligen Person ist das nicht möglich. Bei Menschen, die zu autonomen Entscheidungen fähig sind, heißt das: Ohne Achtung ihrer Autonomie ist das nicht möglich. Der Respekt vor der Autonomie kommt also nicht nur als ein weiterer Aspekt hinzu, sondern ist dem gegenwartsbezogenen Medizinverständnis von vornherein eingeschrieben. Zugleich ist die Orientierung an der Ermöglichung erfüllter Gegenwart nicht mit dem Respekt vor der Autonomie deckungsgleich. Denn selbstverständlich können auch Menschen, die nicht zu autonomen Entscheidungen in der Lage sind, erfüllte Gegenwart erfahren.

Soweit zu der Frage, auf was die Medizin hinsichtlich der Zeitlichkeit des guten Lebens letztlich ausgerichtet ist. Wenn wir fragen, wie die Medizin dies leistet, liegt die Antwort natürlich zunächst in der ganzen Palette wirksamer Therapien sowie ärztlicher und pflegerischer Zuwendung. Aber wenn wir speziell nach deren Zeitbezug fragen, wird ein weiterer Aspekt der Zeitlichkeit des guten Lebens sichtbar: der Rhythmus des Lebens.

Der Rhythmus des Lebens

Die meisten Menschen wachen morgens nicht mit dem Gedanken auf: Schon wieder ist das Ende einen Tag näher gerückt. Oder: Ich bin erwachsen (außer wahrscheinlich am 18. Geburtstag). Aber sie wachen morgens auf, und das jeden Tag, immer wieder. Das zeigt erneut, dass für das alltägliche Leben die Zeit nicht als biographischer Entwicklungsstrom die zentrale Rolle spielt. Sie tut es vielmehr in Gestalt rhythmischer Wiederholungen. Weniger die Makroperspektive unserer Vita bestimmt unser alltägliches Dasein als vielmehr die Mikroperspektive der vitalen Rhythmen.

Auch diese Einsicht mag auf den ersten Blick als Banalität von geringer medizinethischer Relevanz erscheinen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Für die Gesundheit und damit für ein gutes Leben kommt den biologischen Rhythmen eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Von unserem regelmäßigen Herzschlag und regelmäßiger Atmung sind wir existentiell abhängig. Meist liegt das unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle. Erst Herzrhythmusstörungen oder Atembeschwerden erinnern uns daran. Ein anderer Rhythmus, der unser Leben buchstäblich täglich prägt, wurde schon genannt: der Rhythmus von Schlafen und Wachen. Regelmäßiger und ungestörter Schlaf ist ein enorm wichtiger Faktor für die Gesundheit. Überhaupt ist unser Leben von einer Vielzahl solcher zirkadianen Rhythmen geformt, d. h. von Rhythmen, die ungefähr eine Dauer von 24 h haben. So hängt eine gesunde Ernährung bekanntlich nicht nur von Menge und Zusammensetzung der Nahrung ab, sondern ebenso von den Essenszeiten während des Tages. Organe und Organsysteme folgen zirkadianen Rhythmen, ebenso wie unzählige Prozesse auf zellulärer und genetischer Ebene. Der lebendige Organismus ist ein hochkomplexes Zusammenspiel von Rhythmen. Wichtigste Steuerungsinstanz für den zirkadianen Rhythmus ist der Nucleus suprachiasmaticus im Hypothalamus. Er steht seinerseits unter dem Einfluss von Tageslicht und nächtlicher Dunkelheit und gibt, vermittelt durch Hormone, den Rhythmus für alle Organe vor. Die Rhythmen der verschiedenen Organsysteme sind aufeinander abgestimmt und synchronisieren sich immer wieder mit der „Hauptuhr“ (vgl. Fauteck 2022).

Manche der chronobiologischen Einsichten sind mittlerweile ins Allgemeinwissen übergegangen. Fast jeder kennt den Unterschied zwischen „Lärchen“ und „Eulen“, also bestimmten menschlichen Chronotypen. Intervallfasten wird als wirksame Methode zur Gewichtsreduktion und Gesundheitsförderung propagiert. In der philosophischen und medizinethischen Erforschung der Zeitlichkeit des (guten) Lebens indes erhalten die chronobiologischen Rhythmen bislang wenig Aufmerksamkeit (vgl. als Ausnahme Fuchs 2020). Doch ist das gute Leben immer auch Leben im vitalen Sinne. Und Leben ist rhythmisch organisiert.

Störungen dieser Rhythmen machen krank. Die chronobiologische Forschung hat mittlerweile eine Vielzahl an Einsichten in die pathogene Wirkung solcher Chronodisruptionen gewonnen. Beispielsweise sind Menschen mit einem gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus durch unregelmäßigen oder mangelnden Schlaf wesentlich anfälliger für grippale Infekte (vgl. Prather et al. 2015). Kardiovaskuläre Erkrankungen sind ebenso auf Störungen des zirkadianen Rhythmus zurückzuführen. Wer etwa aufgrund von Schichtarbeit unregelmäßig schläft, hat ein deutlich erhöhtes Risiko für Bluthochdruck (vgl. Guo et al. 2013; Morris et al. 2017). Wahrscheinlich erhöht die Störung zirkadianer Rhythmen auch die Gefahr von Atherosklerose (McAlpine und Swirski 2016). Die dadurch verursachte Koronare Herzkrankheit ist weltweit die häufigste Todesursache (vgl. WHO 2021, S. 7).

Mit arhythmischen Lebensweisen sind auch Stoffwechselerkrankungen assoziiert. Unregelmäßige Schlafens- und Essenszeiten erhöhen langfristig das Risiko für Diabetes mellitus Typ 2 und Adipositas (vgl. Lowden et al. 2010; Guo et al. 2013; Gan et al. 2015; Broussard und Van Cauter 2016). Ebenso stehen Störungen des zirkadianen Rhythmus mit zahlreichen Krebserkrankungen im Zusammenhang. So erkranken z. B. Frauen, die Nachtarbeit leisten, doppelt so oft an Brustkrebs wie andere Frauen (vgl. Szkiela et al. 2020). Auch nächtliche Außenbeleuchtung steht im Verdacht, das Brustkrebsrisiko zu erhöhen (vgl. James et al. 2017). Ähnliche Wirkungen lassen sich bei Prostatakrebs feststellen (vgl. Dickerman et al. 2016; Wendeu-Foyet und Menegaux 2017). Wahrscheinlich gilt das für eine Reihe weiterer Krebsarten (vgl. Shafi und Knudsen 2019; Lee 2021).

Die Auswirkungen gestörter Lebensrhythmen machen auch vor dem zentralen Nervensystem nicht halt. Dass Schlafstörungen bei neurodegenerativen Erkrankungen auftreten, ist schon lange bekannt. Doch inzwischen zeigt sich, dass sie auch ein wichtiger kausaler Faktor bei der Entwicklung solcher Krankheiten sind, v. a. bei der Alzheimer-Krankheit (vgl. Chauhan et al. 2017; Harris et al. 2021; Peng et al. 2022), aber auch bei Parkinson (vgl. Leng et al. 2019). Ähnliches gilt für psychische Krankheiten. So ist ein gestörter zirkadianer Rhythmus, v. a. des Schlafes, ein erheblicher Risikofaktor für Depressionen und bipolare Störungen (vgl. Scott und McClung 2021; Comsa et al. 2022), möglicherweise auch für ADHS (vgl. Bondopadhyay et al. 2021). Tierversuche legen zudem einen Zusammenhang zwischen Störungen des zirkadianen Rhythmus während der neuronalen Entwicklung und autistischen Störungen nahe (vgl. Fang et al. 2021).

Viele der chronobiologischen Zusammenhänge sind im Detail bislang wenig verstanden. Zukünftige Forschung dürfte solche Zusammenhänge nicht nur besser verstehen, sondern auch bei weiteren Krankheiten aufdecken. Möglicherweise gilt das sogar für die meisten Krankheiten (vgl. Abbott et al. 2020; Fauteck 2022, S. 293). In jedem Fall kommt den biologischen Rhythmen eine enorme Bedeutung für Gesundheit und Krankheit zu. Das machen sich auch therapeutische Ansätze zunutze. Bei allen Unterschieden zielen sie allesamt auf eine Re-Rhythmisierung, also auf die geordnete Einbettung in die Zeit. So können etwa Lichttherapien einen geordneten Schlaf-Wach-Rhythmus wiederherstellen und so einen Beitrag zur Behandlung psychischer Erkrankungen wie Depressionen leisten (vgl. Bertani et al. 2021). Ein anderes Beispiel: Wenn man in Tumorzellen eine normale zirkadiane Rhythmik der Expression bestimmter Gene induziert, wird das Wachstum der Zellen gebremst (vgl. Kiessling et al. 2017). Dies und weitere Rhythmus-bezogene Interventionen eröffnen neue Chancen für die Krebstherapie (vgl. Lee 2021; Nelson et al. 2022).

Kurzum: Wenn Gesundheit Teil eines guten Lebens ist – und wir haben oben gesehen, inwiefern das in einem nicht-trivialen Sinne der Fall ist –, haben wir es hier abermals mit einer wichtigen Zeitstruktur des guten Lebens zu tun, die für weite Bereiche der Medizin von Bedeutung ist. Ob es so etwas gibt, war ja die leitende Frage dieses Artikels.

Bemerkenswerterweise ist diese Zeitstruktur von ganz anderer, ja gegensätzlicher Art als die erfüllte Gegenwart. Während es bei letzterer darum geht, sich teilweise frei zu machen vom Strom der Zeit, geht es nun darum, sich in diesen einzubetten. Mehr noch, der zirkadiane Rhythmus ist ja nicht irgendeine Zeitstruktur, sondern es ist der Rhythmus des Tages, der Natur, der Erde. Unserem chronobiologisch verfassten Organismus gerecht zu werden bedeutet – wenn diese altertümliche Ausdrucksweise einmal erlaubt ist –, uns in kosmische Rhythmen einzuordnen.

Hier ertönt bei manchen womöglich der Esoterik-Alarm. Doch esoterisch ist daran gar nichts. Unsere Biologie ist zeitlich organisiert, und diese Organisation ist integraler Teil der zeitlichen Struktur unserer Welt. Das lässt sich auch von einem naturalistischen Standpunkt problemlos erkennen. Zurück zur Natur, sich in das Gegebene einfügen – wenn schon nicht esoterisch, wird hier dann zumindest einem konservativen Programm das Wort geredet? Gewiss nicht. Es geht ausschließlich um unsere biologische Natur. Hier kommen wir tatsächlich nicht darum herum, sofern wir am Gesundsein interessiert sind, die natürliche zeitliche Ordnung zu bewahren oder wiederherzustellen. Wenn das konservativ ist, ist nahezu die gesamte Medizin konservativ. Mit einem politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Konservatismus hat das nichts zu tun.

Zweifelsohne gibt es weitere Rhythmen, die für das menschliche Leben von Belang sind: individuelle und soziale Rhythmen. Sei es das tägliche Nickerchen in der Mittagszeit, der sonntägliche Krimi, das jährliche Karnevalsfest. Doch der Blick auf diese Rhythmen ändert nichts an der Einsicht in die medizinische Bedeutung der biologischen Rhythmen. Entweder die individuellen und sozialen Rhythmen ordnen sich in die biologischen Rhythmen ein oder kollidieren zumindest nicht mit ihnen, dann handelt es sich um ein insgesamt „eurhythmisches“ Leben. Oder sie laufen den chronobiologischen Rhythmen zuwider, und dann sind sie aus den geschilderten Gründen ein Problem. Die Schwelle, ab der solch ein Rhythmus-Konflikt zu einem gesundheitlichen Problem wird, lässt sich aber selbstverständlich nicht allgemein bestimmen. Sie hängt von der Dauer der Rhythmen, dem Ausmaß des Konflikts sowie der individuellen Konstitution ab.

Fazit

Die Frage lautete, ob es einen Zeitbezug des guten Lebens gibt, der für die gesamte Medizin oder zumindest große Teile von ihr von Bedeutung ist. Ergebnis: Ja, das gibt es, und zwar auf mindestens zweifache Weise. Zum einen geht es um die Ermöglichung erfüllter Gegenwart, zum anderen um Wahrung und Wiederherstellung der chronobiologischen Rhythmen.

Für Liebhaber paradoxer Formulierungen lautet das zweiteilige Ergebnis so: Wir müssen uns in die Zeit einbetten, um von ihr frei sein zu können. Das ist freilich nur scheinbar paradox, weil hier jeweils Unterschiedliches unter „Zeit“ verstanden wird und unterschiedliche Seiten menschlichen Lebens gemeint sind: einmal unserer lebendiger Körper, das andere Mal unsere Personalität.

Die beiden Zeitstrukturen sind allerdings dermaßen unterschiedlich, dass sich fragen lässt: Handelt es sich nicht um zwei völlig verschiedene Themen? Antwort: Nein, sie hängen enger zusammen, als es auf den ersten Blick erscheint. Das eine ist der Zweck medizinischer Tätigkeit (erfüllte Gegenwart), das andere ein Mittel (Wahrung und Wiederherstellung der chronobiologischen Rhythmen).

Dieser zweifache Zeitbezug ist anthropologisch bedingt. Als lebendige Körper sind wir rhythmisch strukturierte Natur, als Subjekte sind wir zu erfüllter Gegenwart fähig. Im einen Fall geht es um das Leben im Sinne biologischen Lebens, im anderen Fall um das Leben im Sinne subjekthaften Handelns. Das ist kein cartesischer Dualismus, sondern es handelt sich schlicht um zwei Seiten des Menschseins. Dass sie nicht voneinander getrennt sind, zeigt ja gerade der Einfluss von geordneten und ungeordneten chronobiologischen Rhythmen auf die Befähigung zu erfüllter Gegenwart. Und die Erfüllung der Gegenwart schwingt ihrerseits oft im Einklang mit gewissen Lebensrhythmen. So ist allgemein bekannt, dass viele Lernprozesse nur bei rhythmischer Wiederholung gelingen. Auch Arbeitsprozesse ebenso wie menschliche Beziehungen profitieren oft davon.

In Bezug auf das gute Leben kommt den beiden Zeitstrukturen dennoch ein unterschiedlicher Status zu. Das eine ist das gute Leben, das andere dient ihm. Während es ohne erfüllte Gegenwart kein gutes Leben gibt, ist die Wahrung und Wiederherstellung zwar sehr wichtig, sehr hilfreich, aber weder hinreichend noch in jedem Fall notwendig. Selbstverständlich kann auch ein rhythmusgestörtes Leben, d. h. ein Leben mit (chronischer, schwerer) Krankheit gut sein. Doch die Hürden dafür sind höher – wie hoch, ist je nach Person und Krankheitsbild unterschiedlich.