Der hier geschilderte Fall berührt in mehrfacher Hinsicht: Eine hochbetagte Dame ist ohne Beisein von Angehörigen oder anderen Vertrauten und unter den hektischen Bedingungen einer Notaufnahme gestorben. Den sie umsorgenden Gesundheitsprofessionellen erschien das Routineverfahren falsch, aber sie waren nicht in der Lage, ihre Wahrnehmung miteinander zu teilen und ggf. Schlüsse daraus zu ziehen. Und obwohl die Notaufnahme als Bestandteil der Organisation Krankenhaus ihre Abläufe an medizinischen und patient:innenorientierten Qualitätsstandards ausrichtet, macht der oder die Fallgeber:in deutlich, dass genau dieses Ziel nicht erreicht wurde. Das ist tragisch und wirft Fragen nach den Ursachen und nach Möglichkeiten zur Veränderung auf.

Ethische Versorgungsqualität ist multifaktoriell, basiert auf einem funktionalen Zusammenspiel aller Gesundheitsberufe, Fachdisziplinen sowie Hierarchieebenen und ist dabei auf förderliche organisationale Rahmenbedingungen angewiesen (Fox et al. 2010). Dem Rechnung tragend haben wir diesen Kommentar im multiprofessionellen Dialog erarbeitet und dabei medizin- (CW), pflege- (UM) und organisationethische (KW) Perspektiven berücksichtigt. Der Fallbericht beschreibt den klinischen Alltag aus unserer Sicht durchaus realistisch und das Geschehen hätte sich somit auch in einer anderen Einrichtung ereignen können. Der tragische Verlauf hat unseres Erachtens eine organisations- und führungsethische Dimension.

Die strukturelle Beschaffenheit von Krankenhäusern ist die Grundlage für die in ihnen stattfindende Patient:innenversorgung. Diese erfolgt in hohem Maße nach festgelegten Abläufen. Bestimmte Signale lösen ein definiertes Vorgehen aus, das vorab und unabhängig vom Einzelfall im Rahmen von sogenannten Metaentscheidungen erarbeitet und festgelegt wird (Wallner 2015). Wenn solche Automatismen evidenzbasiert entwickelt werden, dann sind sie in einem hyperkomplexen System wie einem Krankenhaus die Grundlage von Funktionalität und ermöglichen moderne Hochleistungsmedizin (Grossmann und Lobnig 2013). Zugleich aber bergen sie die Gefahr, dass einzelne Patient:innen(gruppen) mit ihren spezifischen Bedürfnissen aus dem Blick geraten, wodurch die Patient:innenorientierung leidet – und dies ganz besonders, je zeitkritischer die Situation ist.

Dieser Effekt zeigt sich deutlich in dem hier geschilderten Beispiel: Der Transport im Stuhl bedeutet „so schlimm ist es nicht“, weshalb die Patientin zunächst nicht mit erhöhter Dringlichkeit behandelt wurde. Und der besorgniserregend niedrige Hb-Wert in Verbindung mit der zunehmenden Verschlechterung des Gesamtzustandes führte dazu, dass eine Bluttransfusion in die Wege geleitet wird. Damit folgten die Beteiligten den üblichen Abläufen, verloren dabei aber die Patientin in ihrer Individualität aus den Augen. Weder wurde bei Aufnahme geprüft, ob sie sich tatsächlich in einem minderdringlichen Zustand befand, noch wurden ihr hohes Alter und ihr sich rasch verschlechternder gesundheitlicher Zustand als Indizien für besondere Bedürfnisse gewertet, beispielsweise nach fürsorglicher Zuwendung und Begleitung (in der Schmitten et al. 2022).

Die Bedingungen der Organisation bestimmen maßgeblich das individuelle Handeln. Der Terminus Organisationsethik steht u. a. für diesen Zusammenhang (Woellert 2022). Soll in der Gesundheitsversorgung ein Automatismus, der die Individualität von Patient:innen nicht hinreichend berücksichtigt, vermieden werden, so muss dies in den Standardabläufen angelegt sein. Im hier geschilderten Fall hieße dies beispielsweise, dass schon im Aufnahmeverfahren vulnerable Patient:innen identifiziert und mit mehr Zuwendung bedacht werden. Auch wenn in einer dynamischen Notfallsituation die Routineabläufe auf kurzfristige Ziele ausgerichtet sein müssen und wenig Zeit für umfangreiche Debatten über Therapieziel und -konzept bleibt, hindert das nicht daran, bei vulnerablen Patient:innen Verhältnismäßigkeit und die Zumutbarkeit mit besonderer Sorgfalt zu überprüfen. Zur besseren Übermittlung des Patient:innenwillens bedarf es darüber hinaus einer Verzahnung zwischen stationärer und ambulanter Versorgung, so wie dies beispielsweise im Advance Care Planning vorgesehen ist (in der Schmitten et al. 2022).

Sehr berührend ist auch das geschilderte Unvermögen Zweifel anzusprechen. Es ist nicht selten, dass rückblickend diskutiert wird, ob eine Therapie wirklich zum Wohle des oder der Betroffenen gewesen sei. Warum aber fällt es den Beteiligten so schwer, die Vorbehalte gegenüber dem eingeschlagenen Therapieziel frühzeitig und ohne Konfrontation anzusprechen? Im Text heißt es beispielsweise: „Ich glaube, ich bin nicht die Einzige, die das denkt.“ Und etwas weiter unten: „meine Fragen werden ignoriert“. Auch die Stimme des Sanitäters, der auf den schlechten Zustand der Patientin hinwies, wurde nicht gehört. Wichtige und mutmaßlich von vielen geteilte Wahrnehmungen – Bedenken gegenüber der ethischen Vertretbarkeit des gemeinschaftlichen Handelns – sind nicht mitteilbar bzw. werden nicht registriert.

Damit sind die Ebenen der Organisationskultur und der Führungsverantwortung angesprochen (Denier et al. 2019). Wenn in einer Gesundheitseinrichtung ein kontinuierlicher Dialog über das ethisch Richtige fest etabliert ist und über Hierarchieebenen hinweg geführt werden darf, dann fördert dies eine konsequente Patient:innenorientierung und dient zudem der Prävention von moral distress (Dzeng et al. 2016). Organisationen verschenken eine wertvolle Ressource, wenn sie nicht dafür Sorge tragen, dass Mitarbeitende moralische Intuitionen dem gemeinsamen Handeln zur Verfügung stellen können. Das kann in speziellen Schulungen trainiert werden und es ist Führungsaufgabe, eine entsprechende Kultur zu gestalten.