Einleitung

Nach der Prämisse einer modernen, wissenschaftsorientierten Medizin sollen Kliniker ihre Entscheidungen aus der besten erhältlichen Evidenz ableiten. Die Basis dazu liefert die medizinische Fachliteratur. Gerade bei extrem seltenen oder neuartigen Erkrankungen ist ein solches Vorgehen jedoch schwierig, denn zum einen ist quantitativ oft nur wenig Information über die betreffende Krankheit erhältlich, zum anderen ist die Qualität der erhältlichen Studien aufgrund der niedrigen Fallzahlen eingeschränkt. In manchen Fällen sind lediglich Fallbeschreibungen publiziert. Allerdings kann sich deren Interpretation zur Erstellung von Therapiekonzepten aufgrund von Mechanismen systematischer Verzerrung als klinisch und ethisch problematisch erweisen, wie hier anhand eines Beispiels, das möglicherweise auf ein generelles Problem hindeutet, erläutert werden soll.

Das Carmi Syndrom

Das Carmi Syndrom ist eine extrem seltene, meistens letale Kombination von junktionaler Epidermolysis bullosa und Pylorusatresie (Pfendner und Lucky 2017). Insgesamt wurden bislang in der medizinischen Literatur nur knapp über 100 Fälle beschrieben. Die Erkrankung wird autosomal rezessiv vererbt und ist damit häufiger bei konsanguinen Eltern. Aufgrund der Pylorusatresie, also des angeborenen Verschlusses des Magenpförtners, können die betroffenen Patienten ohne chirurgischen Eingriff nicht enteral ernährt werden. Sie verdursten oder verhungern, falls ihnen keine intravenöse Flüssigkeit oder intravenöse Ernährung zugeführt wird. Die Epidermolysis bullosa führt zur Ablösung der Haut im gesamten Körper, so dass Oberflächenkeime in den Organismus eindringen und zur Sepsis führen können, die meist auch die Todesursache darstellt.

Ursächlich für die Erkrankung ist ein Gendefekt im ITGA6, ITGB4 oder im PLEC Gen (Pfendner und Lucky 2017). Die Diagnose wird heute genetisch gesichert, wobei derzeit auch die elektronenmikroskopische Analyse einer Hautbiopsie oder eine immunhistochemische Färbung zur Anwendung kommt.

Es gibt keine ursächliche Behandlung des Carmi Syndroms. Chirurgisch kann durch eine Verbindung zwischen Magen und Zwölffingerdarm, eine sogenannte Gastroduodenostomie, die Kontinuität des Verdauungstraktes hergestellt werden. Außerdem kann durch Abtragen der abgelederten Haut und durch die anschließende Auflage von speziellen Hautersatzmaterialien eine temporäre Deckung der betroffenen Körperareale erreicht werden.

Fallbeschreibungen in der evidenzbasierten Medizin

Fallbeschreibungen (case reports) werden neben der Expertenmeinung vom Oxford Centre for Evidence-based Medicine als die hierarchisch schwächste Informationsquelle in der Evidenzbasierten Medizin angesehen (Oxford Center for EBM 2009). Dabei nehmen sie jedoch für sich betrachtet eine wichtige Rolle in der Medizin ein. Ohne Fallbeschreibungen hätten sich bestimmte chirurgische Techniken nicht verbreitet, die teratogenen Eigenschaften von Thalidomid (Contergan®) wären erst viel später erkannt worden, und eine rätselhafte Immunschwäche, die sich Anfang der 1980er Jahre ausbreitete, wäre ohne Beschreibung von Indexfällen nicht so schnell als Infektion mit dem Humanen Immundefizienz-Virus (HIV) identifiziert worden. Fallbeschreibungen haben demnach in der Medizin durchaus ihren Stellenwert, insbesondere bei neuen oder sehr seltenen Erkrankungen sowie zur Beschreibung von innovativen therapeutischen Ansätzen. Allerdings wurden von anderen bereits in der Vergangenheit die Limitationen der Ableitung von Therapieeffekten anhand von kollektiven Fallbeschreibungen erörtert (Caster et al. 2014).

Zielsetzung

In dieser Arbeit sollen anhand eines Falles von Carmi Syndrom die ethischen Probleme aufgezeichnet werden, die dabei entstehen können, wenn klinische Entscheidungen anhand einer Sammlung von einzelnen publizierten Fallbeschreibungen getroffen werden. Dabei sollen insbesondere die Probleme des Under- und Overreporting sowie die Phänomene des Selektions- und Reportingbias diskutiert werden. Unsere Hypothese ist, dass Fälle mit erfolgreichem Outcome häufiger als einzelne Fallbeschreibungen publiziert werden und damit zu einer fälschlicherweise subjektiv höheren angenommenen Überlebensrate führen, die wiederum die klinischen Entscheidungsprozesse bis hin zu ihrer normativen Begründung bei aussichtslosen Fällen beeinflussen kann.

Klinische Fallvorstellung

Die Patientin wurde in der 33. Schwangerschaftswoche per Notfallsektio bei drohender Plazentalösung in unserer Klinik geboren. Die Mutter war eine mit dem Vater konsanguine Frau, die bereits 5 Spontanaborte erlitten hatte. Von 6 Lebendgeburten waren 2 Mädchen unmittelbar postpartal verstorben. Die APGAR Werte (Score zur klinischen Einschätzung von Neugeborenen von 0 [minimal] bis 10 [maximal] aufgrund von Atmung, Puls, Grundtonus, Aussehen und Reflexe) waren 8 bei einer Minute, 8 bei 5 min. Nach der Geburt erhielt die Patientin empirisch eine antibiotische Behandlung mit Ampicilllin und Gentamicin.

Bei der körperlichen Untersuchung fielen Ablederungen der Haut am gesamten Körper einschließlich des Gesichts und der Extremitäten auf. Das initiale Röntgenbabygramm zeigte eine solitäre Luftblase im linken oberen Quadranten des Abdomens, vereinbar mit einer Pylorusatresie. Anhand der Kombination von Hautablederung im Sinne einer Epidermolysis bullosa und der Pylorusatresie wurde die Diagnose des Carmi Syndroms gestellt. Zur Bestätigung wurde eine Hautbiopsie entnommen und eine genetische Analyse durchgeführt.

Perspektiven der Teilnehmer der Ethikberatung

Aufgrund der komplexen medizinischen und psychosozialen Situation, die sowohl für die Eltern als auch das Team als belastend empfunden wurde, wurde das klinische Ethikkomitee zu einer Ethikberatung einberufen. Dabei waren neben zwei Vertretern des Klinischen Ethikkomitees die behandelnden Ärzte aus der Neonatologie und der Kinderchirurgie anwesend. Die Eltern wurden separat über einen Dolmetscher eingebunden. Aufgrund der Latenz der Untersuchungen lagen die genetischen und die immunhistochemischen Ergebnisse zur Zeit der Ethikberatung noch nicht vor.

Neonatologische Perspektive

Aus neonatologischer Sicht war die schlechte Prognose zwar augenscheinlich, jedoch wurden eine Reihe von Fallbeschreibungen diskutiert, in denen ein langfristiges Überleben der betroffenen Patienten dokumentiert worden war. Um eine enterale Ernährung zu ermöglichen, wurde daher die chirurgische Intervention zur Herstellung der gastrointestinalen Kontinuität erbeten. Eine wesentliche Rationale für dieses Vorgehen war dabei der Wunsch der Eltern nach maximaler Therapie. Um Leiden zu minimieren, wurde eine großzügige analgetische Therapie mit Opiaten als indiziert angesehen.

Kinderchirurgische Perspektive

Der initiale Vorschlag aus Sicht der beteiligten Kinderchirurgen war es, von einer operativen Intervention abzusehen und das Kind palliativ zu behandeln. Diese Sichtweise basierte auf einer Vielzahl von weiteren Fallbeschreibungen, in denen die Mehrzahl der betroffenen Patienten nach Eingriffen letztlich verstarben. Zudem war davon auszugehen, dass die mechanische Manipulation der Bauchdecke durch Retraktion bei einer offenen Operation zu Ablederung der betroffenen Hautareale führen würde und die Situation dadurch verschlechtert werden könnte. Wenn überhaupt, sei daher ein minimalinvasives, laparoskopisches Verfahren zu favorisieren. Als Vorteil einer Operation wurde allerdings auch gesehen, dass gleichzeitig ein getunnelter, langfristiger zentralvenöser Katheter angelegt und die Abdeckung der offenen Wunden durch eine Hautersatzmembran in einer Narkose erfolgen könnten.

Perspektive der Eltern

Die Eltern verbalisierten die Erwartung, dass „alles für ihre Tochter getan werde“. Dies begründeten sie mit ihrem kulturellen und religiösen Hintergrund. Auf Nachfragen, ob hiermit auch ein chirurgischer Eingriff gemeint wäre, bejahten sie dies. Es erfolgte die dezidierte Aufklärung über Vor- und Nachteile einer Kontinuitätsherstellung des Pylorus, einer Gastrostomie (Ernährungssonde in den Magen), und einer Versorgung der abgelederten Hautareale. Insbesondere wurde erklärt, dass die Grunderkrankung nicht heilbar sei und trotz operativem Eingriff mit einem letalen Ausgang zu rechnen sei. Die Eltern berieten sich und gaben schließlich ihr schriftliches Einverständnis für den Eingriff, mit der Bitte, ihre Tochter möglichst bald zu operieren.

Perspektive der Klinischen Ethik

Die klinisch-ethische Einschätzung des Falles hatte zunächst zum Ausgangspunkt, dass es sich bei dem Mädchen nicht um ein im Sterbeprozess befindliches Kind handelte. In einer Entscheidung für oder gegen eine Eskalation der Therapie bis hin zur chirurgischen Intervention stand zunächst die Frage im Mittelpunkt, was als das beste Interesse (best interest) des Kindes angesehen werden könne. Insbesondere die Tatsache, dass der Therapieerfolg unsicher erschien, sowie die Frage, ob eine invasive Therapie für das Kind so gestaltet werden kann, dass diese nicht zu unnötigem zusätzlichen Leid führt, waren in der Abwägung zentral. Begleitet durch eine adäquate Schmerztherapie erschien die Herstellung der Ernährungsfähigkeit auf enteralem Wege im besten Interesse des Kindes zu sein und so der Wunsch der Eltern als ethisch rechtfertigbar.

Outcome des Falles

Immunhistochemisch fand sich ein komplettes Fehlen des Adhäsionsmoleküls α6β4 Integrin in der Haut. Damit vereinbar ergab die genetische Analyse eine homozygote Mutation im ITGA6 Gen und damit eine eindeutige Diagnose des Carmi Snydroms.

Am 8. Lebenstag wurde auf der Grundlage des Ethikkonsils eine laparoskopische Gastrojejunostomie und Gastrostomie durchgeführt. Die abgelederten Hautareale wurden mit einer Hautersatzmembran aus Polylactid, Trimethylencarbonat und ε‑Caprolacton (Suprathel®, PolyMedics Innovations GmbH, Denkendorf, BRD) abgedeckt. In derselben Operation wurde außerdem ein getunnelter, zentralvenöser Broviac-Katheter angelegt.

Trotz der nun hergestellten Durchgängigkeit des Gastrointestinaltraktes gestaltete sich der Kostaufbau aufgrund einer Motilitätsstörung als schwierig, so dass die Patientin hauptsächlich parenteral über einen zentralvenösen Katheter ernährt wurde.

Aufgrund der Ablösung der Schleimhäute kam es immer wieder zu einer Verlegung der Atemwege. Außerdem entwickelte die Patientin Sepsis mit Staphylococcus epidermidis. Sie verstarb an den Folgen der Infektion und der Atemwegsbehinderung im Alter von 35 Tagen.

Wissenschaftliche Fragestellung und Analyse der Literatur zum Carmi Syndrom

In der Ethikberatung ergaben sich Unterschiede in der Wertung der in der Literatur angegebenen Mortalität bei Carmi Syndrom. Da diese Entität extrem selten ist, existieren bislang nur Fallbeschreibungen und kleine Fallserien. Um zu verstehen, wie die unterschiedlichen Einschätzungen auf der Basis der vorhandenen Literatur entstehen könnten, wäre nun die Hypothese zu prüfen, ob ein Publikationsbias bestehen könnte, aufgrund dessen die Überlebensrate höher erscheint, als sie tatsächlich ist. Dies könnte darauf beruhen, dass Fälle mit positivem Outcome häufiger publiziert werden, entweder weil die Autoren eine größere Motivation empfinden, solche Fälle in einem Manuskript zusammenzuschreiben, oder weil Gutachter und Herausgeber von Fachzeitschriften eher dazu tendieren, positive Fallberichte zur Publikation anzunehmen und negative abzulehnen. Im letzteren Fall ergäben Fallserien (also Publikationen, die zwei oder mehr Fälle beschreiben) ein objektiveres Bild über die tatsächliche Mortalität der Erkrankung, weil Autoren eventuell dazu tendieren würden, bei einer größeren Erfahrung mit der Erkrankung auch die Fälle zu erwähnen, die nicht überlebt haben. Unsere Hypothese ist demnach, dass auch bei der hier diskutierten klinischen und ethischen Entscheidung die niedrigere publizierte Mortalität bei Einzelfallbeschreibungen (und damit die höhere Überlebensrate) im Vergleich zu Mehrfachfallbeschreibungen zu einer falsch positiven Bewertung geführt haben könnte.

Methodik

Um die Hypothese zu prüfen, ob sich die kumulativ publizierte Überlebenswahrscheinlichkeit der Einzel- beziehungsweise Mehrfachfallberichte unterscheidet, wurden alle in PubMed publizierten Arbeiten zum Carmi Syndrom mit Angaben zum Outcome analysiert. Dazu wurde im Dezember 2019 eine Recherche unter www.pubmed.gov unter dem Stichwort <Carmi Syndrome> (59 Titel) und unter der Kombination <pyloric atresia AND epidermolysis bullosa> (184 Ergebnisse) unternommen. Um in die Studie eingeschlossen zu werden, mussten die Publikationen gesicherte Fälle von Carmi Syndrom und das Outcome der Patienten (tot/lebend) beschreiben. Doppelte Publikationen von identischen Fällen wurden nur einmal berücksichtigt. Die betreffenden Artikel wurden nach Einzel- beziehungsweise Mehrfachfallbeschreibungen geordnet und die Ergebnisse mit dem Pearson Chi-Quadrat Test verglichen. Ein p von <0,05 wurde als signifikant definiert.

Ergebnisse der Literaturanalyse

Die Recherche nach <Carmi Syndrome> ergab 59, die nach <pyloric atresia AND epidermolysis bullosa >184 Titel. Relevant erschienen 129 Titel, von denen die Abstracts gescreent wurden. Von diesen wurden 62 Volltextartikel heruntergeladen. Dabei fanden sich insgesamt 102 Fälle von Carmi Syndrom aus 27 Einzelfallbeschreibungen (Tab. 1) und 17 Mehrfachfallbeschreibungen (Tab. 2), die die Einschlusskriterien erfüllten und in der Analyse berücksichtigt wurden. Bei den Einzelfallbeschreibungen fand sich eine signifikant höhere gepoolte Überlebenswahrscheinlichkeit von 37 % als bei den Mehrfachfallbeschreibungen (17 %, p = 0,036, siehe Tab. 3).

Tab. 1 Übersicht der Einzelfallbeschreibungen von Carmi Syndrom in der Literatur bis einschließlich 2019 (n = 27)
Tab. 2 Übersicht der Mehrfachfallbeschreibungen von Carmi Syndrom in der Literatur bis einschließlich 2019 (n = 17)
Tab. 3 Pearson Chi-Quadrat Test des Parameters „Überleben“ beim kumulativen Vergleich von Einzel- versus Mehrfachbeschreibungen (Uitenbroek 2019)

Diskussion

Die Ethikberatung bei extrem seltenen Erkrankungen stellt für alle Beteiligten eine besondere Herausforderung dar. Die eingeschränkte oder fehlende Erfahrung mit Prognose und Verlauf führt zu Unsicherheit bei der Einschätzung von Chancen und Risiken von therapeutischen Handlungen und bei Kindern daher zu erheblichen Unschärfen der Einschätzung, welches Vorgehen im besten Interesse der Patienten ist. Nicht selten kommt es dabei zu Situationen, in denen nicht mehr klar zu entscheiden ist, ob sich das Leiden eines Kindes vorrangig aus der Grunderkrankung oder aus den Folgen der – teils hoch invasiven – Behandlungen ergibt. Bei extrem seltenen Erkrankungen müssen sich die Kliniker meist auf Fallbeschreibungen und Fallserien stützen. Diese sind allerdings augenscheinlich besonders anfällig für bestimmte systematische Verzerrungen wie dem Publikationsbias.

Medizinischer Hintergrund zum Carmi Syndrom

Das Carmi Syndrom ist eine dieser extrem seltenen Erkrankungen, die im hier vorgestellten Fall solche systematischen Verzerrungen zunächst nur vermuten ließ. Das bislang größte systematische Review wurde erst kürzlich von Mylonas et al. (2019) publiziert. Von den 100 eingeschlossenen Patienten waren insgesamt 70 verstorben. Eine Operation wurde an 73 Patienten durchgeführt, von denen 49 verstarben (67 %). Eine gesonderte Unterscheidung der Mortalität nach Einfach- und Mehrfachfallbeschreibungen wurde nicht durchgeführt. Besonders ominöse prädiktive Faktoren waren dabei die fehlende oder verminderte Expression von Integrin α6β4 sowie Mutationen im Integrin α6, Plectin‑1 und im cephalen Integrin β4. Viele Fälle sind mit anderen Malformationen, insbesondere des Gastrointestinaltraktes und des Urogenitaltraktes assoziiert. Über die Hälfte der beschriebenen Patienten waren Frühgeborene (Mylonas et al. 2019).

Ethischer Hintergrund

Im Rahmen der Ethikberatung unseres Falles ergab sich der Konflikt, ob primär ein chirurgisch-therapeutischer oder ein palliativer Ansatz angebracht gewesen wäre. Die unterschiedliche Sichtweise ergab sich aus der klassischen Überlegung, ob das Glas halbvoll oder halbleer sei. In der Literatur gab es Fallbeschreibungen, die beim Carmi Syndrom sowohl ein langfristiges Überleben, aber auch ein qualvolles Sterben der Betroffenen skizzierten. Ein möglicher Ansatz wäre gewesen, auf die genetische und immunhistochemische Untersuchung zu warten, da hierbei das komplette Fehlen von Integrin α6β4 bei unserer Patientin eine infauste Prognose aufgezeichnet hätte. In diesem Zusammenhang wäre das Einhalten von vorher definierten STOP-Kriterien für eine invasive Therapie sinnvoll, bis alle prognostischen Marker für eine objektive Einschätzung verfügbar wären. Zu bedenken ist dabei freilich auch, dass ein sich daraus möglicherweise ergebendes „therapeutisches Moratorium“ nachteilig auf die Prognose oder den Therapieerfolg auswirken kann, sollte bis zum Vorliegen aller relevanten Befunde zu viel Zeit vergehen. Dieser Umstand ist vor allem bei komplexeren molekulargenetischen Untersuchungen nicht selten und auch der eindeutige molekulare Befund vermittelt nicht immer die für eine medizinische und ethische Bewertung von Therapiezielen erforderliche Sicherheit (Kidszun et al. 2016). So entschied sich das Team schließlich aufgrund der sich verschlimmernden Ablederungen der Haut, dem Drängen der Eltern nach einem operativen Eingriff und der Notwendigkeit eines zentralvenösen Zugangs für eine zeitnahe chirurgische Intervention. Retrospektiv hat die Patientin nicht in erwünschter Weise davon profitiert. Im Gegenteil, das Leiden der Patientin wurde dadurch eher verlängert.

Vor- und Nachteile von Fallbeschreibungen

Fallbeschreibungen und Fallserien können allgemein als Beobachtungsstudien (observational studies) kategorisiert werden. Ein grundsätzlicher Anspruch an eine solche Publikation ist die Beschreibung einer neuen, nicht bekannten Erkrankung, Beobachtung oder Therapie, oder eines anderen außergewöhnlichen Aspektes (Shevell 2004). Dabei steht im Vordergrund die qualitative, nicht die quantitative Analyse. Folglich sind Beobachtungsstudien nicht geeignet, statistische Parameter wie Effektgröße, Inzidenz, Prävalenz oder Mortalitätsrate zu beschreiben. Um die Qualität von Fallbeschreibungen und Fallserienbeschreibungen in der Chirurgie zu optimieren und zu standardisieren, wurden entsprechende SCARE (consensus on Surgical CAse REport) und PROCESS (Preferred Reporting Of CasE Series in Surgery) Leitlinien publiziert (Agha et al. 3,4,a, b). Aus ethischer Sicht sind die Einwilligung der Patienten oder deren Betreuer zur Publikation des Falles (informed consent to publish) und die vertrauliche Behandlung von persönlicher Information (confidentiality) Mindestanforderungen (Shevell 2004). Der Übergang von Fallbeschreibung (Case report) zu Fallserie (Case series) ist fließend, manche Autoren definieren Fallserien als Beschreibung von mehr als vier Fällen (Abu-Zidan et al. 2012). Manche Universitätsklinika fordern zur Publikation von Fallserien ab einer bestimmten Anzahl von Patienten (beispielsweise drei) ein Votum der Ethikkommission (Boston University 2019).

Die Probleme und Limitationen von Fallbeschreibungen wurden bereits in der Literatur diskutiert (Nissen und Wynn 2014; Kestenbaum 2009) und beinhalten 1. das Unvermögen, allgemeingültige Schlüsse zu ziehen, 2. das Fehlen einer Kontrollgruppe, 3. keine Aussage über die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung, 5. die Stichprobenverzerrung, 6. die Gefahr der Überinterpretation, 7. Effekte aufgrund von Publikationsbias, 8. die retrospektive Methodik sowie 9. die Distraktion des Lesers durch besonderes Hervorheben des Ungewöhnlichen.

Relevant im Zusammenhang mit der Ethikberatung im beschriebenen Fall sind insbesondere die Aspekte des Publikationsbias und der Überinterpretation sowie deren deutliche Auswirkungen auf die aus ethischer Sicht ohnehin bereits prekäre Abwägung von Lebensschutz und Würdeschutz. Hierbei spielen zum einen quantitative Aspekte wie Mortalität und Morbidität im Hinblick auf mögliche Komplikationen eine Rolle, auf der anderen Seite haben aber gerade auch qualitative Aspekte, insbesondere die akute und langfristige Lebensqualität, ein spezifisches Gewicht in der ethischen Abwägung. Wenn langfristig eine gute oder akzeptable Lebensqualität erreicht werden kann, sind auch kurzfristige Belastungen als Opportunitätslasten im Sinne eines operativen Eingriffes, einer maschinellen Beatmung, oder einer ausgiebigen, komplexen, und nicht immer schmerzlosen Wundbehandlung medizinisch und ethisch geboten. In der Frage, wieviel Leid man einem Patienten zumuten kann, spielen aber auch vor allem Überlegungen eine Rolle, wie das Kindeswohl als leitendes Prinzip in konkreten Situationen zur Entfaltung gebracht werden kann (Inthorn und Paul 2017). Abgeleitet vom Konzept der Autonomie des Patienten ergibt sich die Frage, ob es grundsätzlich im Interesse des Kindes sein kann, das mit einer Therapieeskalation verbundene Leid in Aussicht auf einen – freilich mehr oder weniger – unsicheren Therapieerfolg auf sich zu nehmen. Das Problem mit diesem mutmaßlichen Interesse auch in dem hier berichteten Fall ist, dass die Patientin selbst aufgrund ihres Alters nicht einwilligungsfähig ist und den emotional in erheblicher Weise betroffenen Eltern die Verantwortung zukommt, über die Intensität und Dauer einer Therapie zu entscheiden, was nicht selten als normative Überlastung im Sinne eines „moral distress“ wahrgenommen wird. Letztlich muss in eine solche durch Kliniker und Ethiker begleitete Entscheidung auch die Mortalität der Erkrankung vorbehaltlos mit in den Blick genommen werden. Ist sie insgesamt so hoch, dass nur in seltenen Ausnahmefällen ein Überleben erreicht werden kann, so ist ein würdevolles, palliativ begleitetes Sterben einem verlängerten, perspektivlosen Martyrium vorzuziehen. Insofern ist es durchaus ein Unterschied für die Wahrung der kindlichen Interessen, ob man von einer Überlebensrate von 17 % oder 37 % ausgehen kann und welche Vorbehalte sich aus der einen oder anderen Lesart ergeben mögen.

Bedeutung von Fallberichten bei der Einschätzung von extrem seltenen oder neuartigen Erkrankungen

Um über das hier geschilderte Problem im Zusammenhang mit dem Carmi Syndrom hinaus die klinische und ethische Relevanz von Fallberichten sowohl im Form von Fallreihen als auch in Einzelfallberichten besser zu durchdringen, lohnt sich ein systematischer Blick auf die Publikationslandschaft. Allgemein werden positive Fallbeschreibungen eher publiziert als negative (Easterbrook et al. 1991). In einer Studie dokumentierten weniger als 10 % der über einen Zeitraum von 18 Monaten in der Zeitschrift Lancet publizierten Fallbeschreibungen ein Therapieversagen (Albrecht et al. 2005). Das Phänomen der Überinterpretation beinhaltet mitunter eine emotionale Komponente durch den Leser. So werden in einem auch als „anecdotal falacy“ beschriebenen Mechanismus subjektive Hoffnungen auf ein bestimmtes Outcome aus einer Publikation heraus verallgemeinert (Charlton und Walston 1998). Fallbeschreibungen sind letztendlich Geschichten, die uns berühren wie die eigene, anekdotische Erfahrung. Etwas pointiert könnte man fragen, ob das Publizieren von positiven Fallbeschreibungen nicht gegen das Wahrhaftigkeitsgebot verstößt, indem ungünstige Ergebnisse unterdrückt werden. In den Publikationsleitlinien zu Fallbeschreibungen könnte von Herausgebern generell gefordert werden, dass die Autoren immer auch nach vergleichbaren Fällen mit negativem Outcome in ihrer Institution suchen und diese in der Publikation miterwähnen müssen, um dem Problem des kleinen Nenners wenigstens ansatzweise zu begegnen.

In unserer Analyse der Literatur zum Carmi Syndrom war die Gesamtmortalität in den Mehrfachbeschreibungen um etwa ein Drittel höher als in den Einzelfallbeschreibungen, die Überlebensrate weniger als halb so hoch. Dies lässt darauf schließen, dass durch einen Selektionsmechanismus die Überlebensrate bei Einzelfallbeschreibungen falsch positiv erhöht erscheint. Ferner könnte man annehmen, dass dieser Mechanismus umso deutlicher ausgeprägt ist, je seltener die Krankheit auftritt und je weniger Fallserien (Mehrfachfallbeschreibungen) dazu existieren. Wir schlagen daher zur besseren Einordnung dieser Verzerrung einen entsprechenden Index in Bezug auf das Outcome von Einzel- zu Mehrfachfallbeschreibungen vor. In unserem Falle beliefe sich ein solcher als SMI (Single to Multiple casereport Index) definierter Wert für den Parameter Überlebensrate bei Carmi Syndrom auf 37 % dividiert durch 17 %, was 2,18 entspräche. Unseres Wissens wurde ein derartiger Index als quantitatives Instrument zur Beschreibung des Publikationsbias im Zusammenhang mit extrem seltenen Erkrankungen noch nicht beschrieben.

Der SMI könnte so bei der Betrachtung von Fallbeschreibungen im Rahmen einer Ethikberatung darüber Aufschluss geben, ob eine einzelfallbasierte Inflation der Überlebensrate vorliegen könne. Je höher der Index, um so höher der potentielle Effekt. Dadurch könnte man das Vorliegen einer infausten Prognose eventuell besser einschätzen und so die Entscheidung zu einem palliativen Vorgehen möglicherweise objektiver begründen.

Limitationen der Studie

Unsere Studie beinhaltet freilich einige Limitationen. Auch für diese Studie gilt, dass Literatur zum Carmi Syndrom analysiert wurde und die Übertragbarkeit unserer Ergebnisse auf andere seltene oder gar neuartige Erkrankungen noch zu überprüfen wäre. Auch die untersuchte Literatur selbst brachte Einschränkungen mit sich. Zum einen war das Outcome nicht bei allen Patienten ersichtlich. Bei Publikationen, in denen nur ein Teil der Patienten mit Outcome beschrieben sind (zum Beispiel in drei von sechs Fällen bei Wang et al. (2019)) wurden nur die bekannten Fälle in die Analyse eingeschlossen. Außerdem wurde nicht bei allen Publikationen der Zeitraum der Verlaufsbeobachtung, also des Follow-up, dokumentiert. Es kann also durchaus sein, dass die Mortalität noch höher ist, da Patienten, die bei der Publikation noch lebten, danach an den Folgen der Krankheit verstorben sein könnten.

Zusammenfassung und Fazit

Zusammenfassend verdeutlicht der hier beschriebene Fall und die vorliegende Diskussion, dass bei der Interpretation von Fallbeschreibungen zur Bestimmung der Prognose von extrem seltenen Erkrankungen sowohl hinsichtlich der klinischen Bedeutung als auch in Bezug auf die Bedeutung der Befunde für das beste Interesse von nicht-einwilligungsfähigen Patienten oder aber die Bereitschaft zum Tragen von Opportunitätslasten bei einwilligungsfähigen Patienten Vorsicht geboten ist. Dies beinhaltet auch, dass Effekte systematischer Verzerrung im Rahmen von Ethikberatungen bekannt sein und erkannt werden müssen. Nicht selten ist die ethische Analyse im Rahmen situativen Entscheidens von der Bonität der klinischen Information sowie der Evidenzlage abhängig. Für eine unabhängige klinisch-ethische Analyse ist es daher gerade wenn es um seltene oder neuartige Erkrankungen geht unerlässlich, sich nicht auf ad hoc angebotene Interpretationen der Fachliteratur zu verlassen, sondern im besten Sinne der Evidenzbasiertheit einen kritisch-hermeneutischen Zugang zu der für eine Beratung erforderlichen Wissensbasis zu erarbeiten. Eine Überinterpretation von positiven Ergebnissen kann zur Anwendung oder Aufrechterhaltung einer unverhältnismäßig aggressiven, aussichtslosen und damit den Interessen des Patienten entgegenstehenden, ethisch problematischen Therapie führen.