Einleitung

Das Melanoma Patient Network Europe (MPNE) ist ein europäisches Netzwerk von Melanompatient:innen und Angehörigen und stellt eine Plattform für wissenschaftliche Information und Training, Kommunikation und Zusammenarbeit bereit. Melanompatienten werden damit einerseits befähigt, an ihrer eigenen Versorgung aktiv mitzuwirken und andererseits eine konstruktive Rolle in Entscheidungsprozessen im Gesundheitssystem zu spielen. Das MPNE ist ein aktiver Partner in zahlreichen Forschungs- und Innovationsprojekten auf nationaler und internationaler Ebene, mit einem expliziten Schwerpunkt auf patientenzentrierter Forschung und Versorgung. Als Patientenvertretung ist das Netzwerk auch in diverse politische und gesundheitspolitische Entscheidungsprozesse sowie strategische Initiativen involviert, zunehmend in den Bereichen Innovation und Daten, zum Beispiel dem European Health Data Space. Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) fallen in die Schnittmenge von Gesundheitsversorgung und Digitalisierung und sind für Patientengemeinschaften besonders relevant, da sie einerseits die Patientenautonomie erhöhen und andererseits wichtige Themen wie das Eigentum, Zugangsrechte und Sicherheit von sensitiven Gesundheitsdaten betreffen.

Patientennetzwerke sind häufig Ansprechpartner, wenn Produktentwürfe oder Prototypen von DiGA in der Praxis getestet werden sollen. Dieser Beitrag reflektiert daher unsere diesbezüglichen Erfahrungen als europäische Patientenorganisation und Teilhaber an Innovationsprozessen in diesem Bereich sowie den breiteren gesellschaftlichen Kontext mit steigendem Druck auf Gesundheitssysteme, dem allgemein wachsenden Verständnis um die Bedeutung von Gesundheitsdaten und einer beginnenden disruptiven Verschiebung von Machtverhältnissen im Gesundheitsbereich mit zunehmender Patientenemanzipierung.

Der Blickwinkel ist dabei gewollt international. Nach dem europäischen Subsidiaritätsprinzip ist Gesundheit national oder regional organisiert und oft auch reguliert. Mit dem wachsenden Druck auf unsere Gesundheitssysteme und die Gesellschaft im Allgemeinen, nicht zuletzt aufgrund der COVID-19-Pandemie, steigt allerdings auch das Interesse an Austausch und Zusammenarbeit. Digitale Lösungen sind dabei aufgrund ihrer Skalierbarkeit besonders attraktiv und so wird die Einführung der DiGA in Deutschland auch im Ausland mit großem Interesse verfolgt.

In den letzten Jahren haben digitale Lösungen viele unserer Lebensbereiche von Grund auf verändert: Unsere Art und Weise zu kommunizieren, zu reisen, Bücher zu kaufen und Musik zu hören unterscheidet sich erheblich von den Gewohnheiten vorhergehender Generationen. Digitale Dienstleistungen im Gesundheitsbereich blieben dagegen trotz klar erkennbarer und häufig diskutierter theoretischer Vorteile erstaunlich blass und unterentwickelt.

Patient:innen als Zielgruppe digitaler Anwendungen

Angesichts der weiten Verbreitung digitaler Lösungen in vielen Lebensbereichen ist damit die Aussage „Patient:innen wollen persönlichen Kontakt“ merklich unbefriedigend, wenn es um den spürbaren Mangel an effektiven digitalen Lösungen im Gesundheitsbereich geht. Patient:innen sind eine extrem heterogene Gruppe, teilweise schon innerhalb der gleichen Indikation. Viele sind bereit, erhebliche Zeit in die Recherche nach Prognosen, Behandlungsmöglichkeiten und geeigneten Patientenforen zu investieren.

Ihre Motivation ist in der Regel eine Frage des Leidensdruckes: Bei einer schwerwiegenden Diagnose werden die meisten von uns, nach einer anfänglichen Phase von Fassungslosigkeit und Verzweiflung, pragmatisch. Patient:innen und Familienangehörige jeglichen Hintergrundes und Alters kämpfen sich durch Suchmaschinen und wissenschaftliche Literatur, Internetgruppen und soziale Medien, aber auch kollaborative und organisatorische Plattformen wie Slack, Trello und Miro. Patientenpopulationen mit hohem Leidensdruck wären damit die wahrscheinlichsten frühen Adaptoren innovativer Lösungen. Allerdings sollte dieses nicht missverstanden werden: Diese besondere Anwendergruppe ist vielleicht experimenteller, aber aufgrund ihres Leidensdruckes auch extrem kritisch.

Die psychische Belastung durch schwerwiegende Erkrankungen, insbesondere solche mit infauster Prognose, ist hoch. Viele Patient:innen und Familienangehörige leiden an Schlafstörungen und zum Beispiel das Warten auf Ergebnisse kann mental extrem belastend sein. Digitale Patientennetzwerke, insbesondere internationale, die über verschiedene Zeitzonen arbeiten, sind nahezu immer erreichbar und leisten den Betroffenen wertvolle und zeitnahe Unterstützung. Patientengemeinschaften existieren dabei in einer Vielzahl von Formen – von eher informellen Gruppen bis hin zu Gemeinschaften mit starken, selbstorganisierenden Prinzipien, die die Gruppenmitgliedschaft und das gruppeninterne Verhalten wie die Handhabung wissenschaftlicher und medizinischer Information regulieren sowie Regeln zum Identitätsschutz erstellen. Patient:innen gehören in der Regel verschiedenen Gemeinschaften an, die unterschiedliche Bedürfnisse wie nach Information oder persönlichen Austausch befriedigen.

Außenstehende haben unserer Erfahrung nach häufig ein unzureichendes Verständnis dieser Gruppen, zumal ein Großteil der Gemeinschaften geschlossen ist, um die Privatsphäre der Mitglieder zu schützen. DiGA existieren damit in keinem leeren digitalen Raum, sondern koexistieren und konkurrieren unter Umständen mit einer Vielzahl diverser Angebote, die häufig nicht nur extrem spezifisch auf Patientenbedürfnisse zugeschnitten, sondern auch kostenfrei und benutzerfreundlich zugänglich ist.

Erfolgreiche DiGA entwickeln

Ein Patientennetzwerk ist ein beliebter Ansprechpartner für ambitionierte Konsortien, Unternehmen und Start-ups, die sich mit digitalen Anwendungen im Gesundheitsbereich etablieren möchten. Zu dem Zeitpunkt, an dem allerdings ein digitales Produkt ein Patientennetzwerk mit der Bitte um Feedback erreicht, liegt normalerweise der Produktentwurf oder sogar der Prototyp vor – und ist teilweise sogar schon mit einem Start-up-Preis ausgezeichnet. Als Patientennetzwerk haben wir jedoch eine Reihe von Punkten identifiziert, die aus unserer Sicht ausschlaggebend für den Erfolg digitaler Lösungen sind: validierte Ausgangshypothesen, Wertschöpfung durch vertikale Integration, verantwortungsvolle Finanzierungsmodelle und Datensicherheit.

Validierte Ausgangshypothesen

Erfolgreiche digitale Lösungen basieren auf korrekten Ausgangshypothesen. Ein Beispiel für eine nicht validierte Annahme und fehlerhafte logische Verknüpfung ist: „Patient:innen sollen ihre Medikamente ordnungsgemäß nehmen“, „Patient:innen vergessen die Medikamenteneinnahme“ und „Erinnerungen lösen das Problem der Therapieadhärenz“. Diese logische Kette enthält inkorrekte Annahmen – Risiko-Nutzen-Abwägungen sind nicht absolut, sondern individuell. So kann es z. B. sein, dass ein/e Patient:in sein oder ihr Medikament einmal bewusst weglässt, weil einem Tag ohne Müdigkeit oder Übelkeit ein höherer Wert beigemessen wird als strenger Therapieadhärenz. Wie die umfangreiche Arbeit der Patientengemeinschaft mit chronisch myeloischer Leukämie gezeigt hat, ist Vergesslichkeit nur einer von mehreren Faktoren für Nichtadhärenz; Nichtadhärenz zeigt darüber hinaus kulturelle Unterschiede. Erinnerungen an die Medikamenteneinnahme werden damit nur einen Teil des Problems lösen [1].

Patient:innen mit fortgeschrittenem Krebsleiden erhalten in der Regel mehrere Medikamente: z. B. zur Therapie der Krebserkrankung, unterschiedliche Schmerzmittel und Medikamente gegen die Nebenwirkungen der anderen Medikamente. Jedes Medikament hat eigene, unerwünschte Effekte und muss mit unterschiedlichen Einnahmeintervallen und zeitlichen Abständen zu Mahlzeiten eingenommen werden. Therapiekomplexität wird damit allein schon zu einem Adhärenzhindernis und erzeugt eine zusätzliche Therapiebelastung, die die Lebensqualität weiter senkt. Auch soziale Aspekte sind dabei zu bedenken, z. B. die Abstimmung mit dem Tagesrhythmus der Familie oder den Anforderungen im Beruf. Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und z. B. auch Verdauungsstörungen können soziale Interaktionen stören und sogar ernsthafte Probleme im Arbeitsleben bedeuten. Eine tägliche Erinnerung an die Tabletteneinnahme allein wäre damit eine unangemessene Vereinfachung der Situation, die darüber hinaus nicht den Kern des Problems trifft.

Im Gegensatz dazu würde eine patientenzentrierte Sicht auf das Grundproblem eine Anwendung vorsehen, die Schlaf- und Wachperioden optimiert, persönlich wichtige Aktivitäten wie Mahlzeiten, Arbeitszeiten und soziale Aktivitäten so störungsfrei wie möglich zu gestalten hilft und Unvereinbarkeiten direkt an das behandelnde medizinische Team weiterleitet, mit der Bitte um Revision des Behandlungsplans. Eine solche Lösung hätte damit nicht nur das Potenzial, Lebensqualität und Therapieadhärenz zu verbessern, sondern auch durch eine systematische Analyse problematischer Situationen Ansatzpunkte für zukünftige Interventionen zu liefern.

Effektive Patienteninformation

Neu diagnostizierte Patient:innen beklagen häufig einen subjektiven Mangel an Informationsmaterial. Es ist daher nicht verwunderlich, dass viele digitale Lösungen eine Form von Patienteninformation vorsehen. Unserer Erfahrung nach besteht allerdings nicht notwendigerweise ein absoluter Mangel an verlässlichem Informationsmaterial, sondern eher fehlt es Patient:innen an der Fähigkeit, nach vertrauenswürdiger Information zu suchen und diese korrekt im Kontext zu verstehen.

Die COVID-19-Pandemie hat den Klagen über Fake News im Gesundheitsbereich weiteren Auftrieb gegeben und vielerorts wahre Kämpfe gegen angebliche und tatsächliche Missinformation ausgelöst. Die Regression von evidenz- zu „eminenzbasierter“ Argumentation war dabei deutlich – ein Trend, der generell im Bereich der Patienteninformation weitverbreitet ist.

Der Aufwand, effektive und qualitativ hochwertige Patienteninformation zu produzieren, wird unserer Erfahrung nach allerdings häufig um Größenordnungen unterschätzt. Patienteninformation – wie alle medizinische Information – muss regelmäßig revidiert werden, um relevant und korrekt zu bleiben. Kontext und Nuancen sind in medizinischer Terminologie eindeutig codiert, verlangen aber weiträumige Umschreibungen, um auch in Laiensprache korrekt abgebildet zu werden. Medizinisch relevanter Kontext – wie das Stadium einer Erkrankung, das Vorhandensein bestimmter biologischer Marker, vorhergehende Therapien – wird von Patient:innen häufig nicht korrekt wahrgenommen. Als typische Lernende im Erwachsenenalter sind Patient:innen außerdem in der Regel auf der Suche nach direkt Umsetzbarem und ignorieren Informationen, die ihnen nebensächlich erscheinen. Sie informieren sich außerdem normalerweise an verschiedenen Stellen gleichzeitig, um Informationen abzugleichen, was bei der Gestaltung von DiGA berücksichtigt werden sollte. Zudem sollten sich Hersteller über die vielen Informationsangebote bewusst sein und nicht dem Irrtum unterliegen, ein Informationsmonopol zu besitzen.

Patientengemeinschaften umgehen diese Herausforderung normalerweise durch eine Mischung aus statischer Information, Bildungsveranstaltungen und kontinuierlicher Information über soziale Medien oder Patientenforen. Etablierte Patientengemeinschaften, wie z. B. „Colon Town“, legen großen Wert auf solide wissenschaftliche Information und berichten umfassend von wissenschaftlichen Kongressen [2]. Medizinische Gesellschaften wie die „European Society for Medical Oncology“ (ESMO; [3]) oder die „American Society of Clinical Oncology“ (ASCO; [4]) erkennen auch zunehmend die wichtige Rolle, die die Patientenvertreter in der Information und Ausbildung von Patient:innen und Patientenvertretern spielen, und bieten heutzutage auch Mitgliedschaften, preiswerte oder kostenlose Teilnahme an Kongressen, Zugang zu Veröffentlichungen und Bildungsressourcen sowie zu dezidierten Veranstaltungen für Patientenvertreter:innen an. Patienteninformation, die im Rahmen von DiGA angeboten wird, konkurriert daher unter Umständen mit wissenschaftlich ausgerichteten Patientengemeinschaften, dem Angebot medizinischer Gesellschaften, medizinischen Newslettern und Suchprogrammen, wie z. B. Meta [5].

Das MPNE hat darüber hinaus im Rahmen eines Horizon-2020-Projektes „Share4Rare“ [6] Qualitätsstandards für Patienteninformation und ein Hilfsmittel entwickelt, das die Beurteilung der Qualität von Patienteninformation ermöglicht. Dieses Werkzeugs mit dem Namen V2A2 (für „validity, verifiability, accessibility, agency“; [7]) wird regelmäßig in Trainingsprogrammen für unterschiedliche Zielgruppen eingesetzt. DiGA, bei denen Patienteninformation eine zentrale Rolle spielt, sollten ein genaues Bild über existierende Ressourcen haben.

Wertschöpfung durch vertikale Integration

Personalintensive Vorgänge und die häufig damit verbundenen Versorgungsengpässe sind ein beliebtes Zielgebiet für DiGA. Die Versuchung, sich dabei allein auf die digitale Anwendung zu fokussieren, ist groß. Allerdings ist wirkliche Wertschöpfung nur bei erfolgreicher und nahtloser Integration in das Gesundheitssystem möglich.

Im Melanombereich erfreuen sich aktuell solche DiGA wachsender Beliebtheit, die suspekte Hautläsionen KI-basiert über Fotos analysieren, dokumentieren und deren Entwicklung zeitlich verfolgen. Verdächtige Läsionen so akkurat wie möglich zu identifizieren, ist dabei allerdings nur das erste Glied einer langen Kette, die dann letztendlich zu dem erwünschten Ergebnis, dem verlängerten Überleben von Melanompatient:innen führen soll. Verdächtige Läsionen müssen auch korrekt entfernt und histopathologisch untersucht werden, um eine akkurate Diagnose und Stadienbestimmung (Staging) zu erhalten. Idealerweise sollte danach das Metastasierungsrisiko eingeschätzt werden und Patient:innen mit hohem Risiko in klinische Studien weitergeleitet werden. Die DiGA sind daher als ein Teil eines größeren Behandlungsprozesses zu sehen, dessen Wertschöpfung durch nahtlose Integration mit anderen Dienstleistungen gewährleistet werden muss.

Die Einführung einer digitalen Lösung kann daher eine Umstrukturierung bestehender Prozesse erfordern und sekundäre Bedürfnisse erzeugen, was kurzfristig eher zu einer Kostenerhöhung anstelle der erwünschten Kostensenkung im Gesundheitssystem führen kann. Kurzfristige Budgetrahmen werden damit eine direkte Adaptationsbarriere, da verbesserte klinische Ergebnisse und Kosteneindämmung nur langfristig zu erwarten sind.

Die Einführung digitaler Früherkennung kann zudem Personalengpässe befördern: Schon heute haben viele Länder z. B. mit einem Mangel an Histopathologen zu kämpfen, der durch die Einführung digitaler Früherkennung wohl zumindest kurz- und mittelfristig noch verstärkt würde. Digitale Lösungen, die den Kontext des Gesundheitssystems ignorieren, werden daher in aller Wahrscheinlichkeit auf Implementierungshindernisse treffen.

Eine mögliche und aus Patientensicht vielversprechende Entwicklung stellen „vertikale Integrationen“ dar, die anstelle einer einzelnen digitalen Lösung eine geschlossene Wertschöpfungskette mit einer partiellen integrierten digitalen Lösung für einen eng definierten Bereich liefern (z. B. Vertically Integrated Micro-Providers, VIMPROs, [8]). Versicherer wären in der Lage, vor einer umfassenden Implementierung die vollständige Wertschöpfungskette in einer wissenschaftlichen Testumgebung (Testbett) abzubilden, Anbieter von Gesundheitsleistungen könnten sich durch besonders bedienungsfreundliche und patientennahe Lösungen von anderen Anbietern differenzieren und Patient:innen würden von der Minimierung von Reibungsverlusten profitieren, da z. B. eine digital als verdächtig diagnostizierte Hautläsion automatisch zu der Buchung eines Arzttermins führen sollte.

Digital auf Rezept – ein alternatives Finanzierungsmodell

Die Erstattung von DiGA durch die gesetzliche Krankenversicherung ist nicht nur aus versorgungstechnischen Gründen interessant, sondern auch aufgrund des Finanzierungsmodells und der damit verbundenen Anreize. Digitale Lösungen für Patient:innen operieren zurzeit größtenteils nach dem etablierten Modell: „Entweder Du bezahlst oder Du bist die Ware.“

Mit dem steigenden Wert von Gesundheitsdaten ist der Verkauf von patientengenerierten Daten auch für DiGA-Anbieter zu einem lukrativen Geschäft geworden, genau wie die Vermittlung von Patient:innen in klinische Studien, für die angeblich pro Patient:in mehrere Tausend Euro gezahlt werden, unabhängig von der Studienqualität. Seriösere Anbieter nutzen für diese Vermittlungen unabhängige Datenbanken wie Clinicaltrials.gov [9] oder EU-CTR [10], weniger seriöse zeigen nur die Studien ihrer Sponsoren. Finanzielle Anreize haben damit direkte und unter Umständen negative Auswirkungen für Patienten. Für Patientenorganisationen sind daher transparente und neutrale Finanzierungsmodelle digitaler Lösungen im Zusammenhang mit dem Wertangebot von größter Wichtigkeit.

Wie sensitiv diese Datenplattformen auch aus politischen und geopolitischen Gründen sind, hat die Diskussion um den US-Vorreiter PatientsLikeMe [11] gezeigt, der unter der Trump-Administration aufgrund eines chinesischen Mehrheitsanteils zum Verkauf an einen US-Versicherer gezwungen wurde. Aus Patientensicht ist das nicht unbedingt eine Verbesserung, da der lokale Versicherungsmarkt schon jetzt weitreichende Diskriminierung erlaubt.

Eine Erstattung durch Versicherer bietet einerseits eine attraktive Alternative zu existierenden Finanzierungsmöglichkeiten, andererseits aber auch Möglichkeiten der Qualitäts- und Erfolgskontrolle. Während Patient:innen auf der Suche nach Lösungen willens sind, mehrere Plattformen parallel zu testen und gegebenenfalls wieder zu verlassen, werden Versicherer als Direktzahler auf den Nachweis eines konkreten Nutzens bestehen. Bei Versicherern mit langfristiger Perspektive haben DiGA auf Rezept daher das Potenzial, Patientenrelevanz und langfristigen gesundheitlichen und gesellschaftlichen Nutzen in sich zu vereinen. Letztendlich wird die Akzeptanz in der Bevölkerung allerdings davon abhängen, zu welchem Grad Anbieter und Bezahler der Versuchung widerstehen können, Daten für Sachverhalte zu missbrauchen, die nicht im Interesse der Patient:innen oder der Öffentlichkeit liegen.

FAIRer Umgang mit Gesundheitsdaten

Digitale Lösungen haben bereits in einigen Bereichen unser Leben grundlegend verändert. Mit den Erfahrungen steigen allerdings auch die allgemeinen Erwartungen an den Nutzen, die Qualität und die Sicherheit digitaler Lösungen. Aufgrund ihrer Skalierbarkeit können digitale Produkte auch tiefgreifende und unerwünschte Veränderungen verursachen, die zunehmend zu Kritik einladen. In den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass die zugrunde liegenden Geschäfts- und Finanzierungsmodelle dabei eine fundamentale Rolle spielen: Die verkaufsoptimierenden Algorithmen dominanter sozialer Medien erlauben auch eine zunehmende politische Radikalisierung und haben Rufe nach Regulierung laut werden lassen. Anwender erwarten heute außerdem nicht nur Datensicherheit, sondern auch zunehmend den Respekt für ihre Privatsphäre.

Seit der Einführung der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) in der Europäischen Union [12] und der FAIR-Prinzipien („findable, accessible, interoperable, portable“; [13]) und auch mit der Open-Science-Bewegung wächst das allgemeine Bewusstsein in der Bevölkerung über die Bedeutung von Daten, aber auch über persönliche Rechte.

Patient:innen, vor allem diejenigen, die sich in Patientenorganisationen engagieren, sammeln überdies auch dort relevante Erfahrungen. Patienteninitiativen wie die Duchenne Data Foundation [14] bieten zum Beispiel ihren Mitgliedern schon heute Privacy-by-Design-Lösungen – Individuen halten ihre Daten in einem persönlichen digitalen Safe [15], zu dem nur sie den Schlüssel besitzen. Zugang, zum Beispiel für Forschungsprojekte, wird durch einen anspruchsvollen Einverständnisprozess gelöst – wobei der Anspruch in der technischen Lösung, nicht in voluminöser Papierarbeit liegt. Patient:innen erhalten eine Benachrichtigung per App und können Zugangsrechte progressiv adaptieren. Fortbildungen über FAIR-Prinzipien, Datenschutz und Dateneigentum – die Duchenne-Gemeinschaft bevorzugt den Ausdruck „Stewardship“ – gehören zu den regelmäßigen Aktivitäten der Organisation.

Pharmazeutische Betriebe beginnen überdies, Studiendaten an die Studienteilnehmer zu überführen, die diese dann im sicheren Rahmen der Duchenne Data Foundation verwalten können. Als Spin-off (Ableger) der World Duchenne Organisation, in der viele der Patient:innen selbst Mitglieder sind, hat die Stiftung dabei eine unumstrittene Legitimation. Erwartungsgemäß werden Patient:innen mit entsprechenden Erfahrungen daher extrem hohe Ansprüche, insbesondere im Bereich der Datennutzung, an DiGA jeglicher Art stellen.

Gesucht: Entwicklungsstandards für DiGA

Unabhängig von der Industriesparte bleibt die Entwicklung innovativer Dienstleistungen und neuer Geschäftsmodelle eine Herausforderung. Auch für ein Patientennetzwerk ist es eine schwer zu beantwortende Frage, wie eine optimale digitale Lösung für Patient:innen aussähe. Die Architektur, der Kommunikationsstil und die Heterogenität unseres Netzwerks erlauben uns, Missstände, Versorgungsprobleme und medizinische Besonderheiten extrem sensitiv zu erfassen, wodurch es uns möglich ist, den Kontext potenzieller innovativer digitaler Lösungen differenziert zu bewerten. Gleichzeitig limitieren diese Eigenschaften die Repräsentativität – soziale Netzwerke haben zum Beispiel insgesamt einen höheren Frauenanteil und aufgrund der Tatsache, dass die Kommunikation in unserem Netzwerk ausschließlich auf Englisch erfolgt, einen sehr hohen Anteil an Akademikern. Patientennetzwerke wie MPNE können daher wertvolle und diverse Einblicke in die Patientenrealität ermöglichen und dank ihres „institutionellen Gedächtnisses“ Vorschläge in einem breiteren Kontext analysieren, sie sind aber kein Ersatz für systematisches und unabhängiges User-Testing in einem kulturell und sprachlich definierten Raum.

Für ein Patientennetzwerk ist es undankbar, wenn angeblich nahezu marktreife digitale Lösungen präsentiert werden, die offenkundig nicht die wirklichen Patientenprobleme lösen. Interessanterweise brachte eine persönliche Diskussion mit einem Versicherer eine ähnliche Frustration zutage – viele DiGA erfüllten nicht die Rahmenbedingungen eines Versicherers und die Unsicherheit über einen Nutzen sei erheblich. DiGA sind in der Regel sogenannte mehrseitige Plattformen, typischerweise zwischen einem kommerziellen Anbieter, einer Krankenkasse als Kostenerstatter und Patient:innen als Endbenutzern. Da Endbenutzer und Käufer unterschiedliche Parteien sind, müssen mehrseitige Plattformen deren jeweilige Interessen bedienen – und Enttäuschung auf 2 wichtigen Seiten der DiGA, die Patient:innen und Krankenversicherungen, wäre damit bedenklich. Zusätzlich ist das Gesundheitswesen insgesamt hoch reguliert, was besondere Kenntnisse für die Produktentwicklung voraussetzt. Die Etablierung von Methoden und Entwicklungsstandards sowie Hilfsmitteln und Trainings für die DiGA-Entwicklung wäre damit wünschenswert, um generelle Erfolgschancen zu erhöhen.

Patientenautonomie und patientenzentrierte Innovation

Aus einer patientenzentrischen Innovationsperspektive sind DiGA interessant, weil sie einerseits zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen einzelnen Parteien des Gesundheitswesens führen und weil sie andererseits aufgrund der relativ niedrigen Eintrittsschwelle Patient:innen selbst erlauben, aus Eigeninitiative Lösungen zu entwickeln.

Als typischerweise mehrseitige Plattformen müssen DiGA die Bedürfnisse aller Partner erfüllen, um schlussendlich erfolgreich zu sein. Im Gesundheitswesen sind es traditionellerweise andere Parteien – wie Mediziner, Regulatoren, Ethikkommissionen, Gesundheitsökonomen, Forschungseinrichtungen, Versicherungen, Versorgungseinrichtungen, Datenschutzbeauftragte –, die entscheiden, was in bestem Patienteninteresse sei, und Patient:innen haben nur eingeschränkte Möglichkeiten, sich dem zu widersetzen. Im Gegensatz dazu müssen erfolgreiche DiGA die Erwartungen der Mehrzahl ihrer Benutzer, die individuell über einen eventuellen Nutzen entscheiden, über längere Zeiträume zuverlässig bedienen und bilden damit wirkliches Patienteninteresse ab.

So ist zum Beispiel seit Jahren bekannt, dass Gesundheitspersonal Therapienebenwirkungen anders beurteilt als die betroffenen Patient:innen selbst [16, 17], allerdings hat diese Erkenntnis nie zu tiefgreifenden Systemveränderungen geführt. DiGA-Anbieter haben den finanziellen Anreiz, attraktive und relevante Lösungen für Patient:innen als Endbenutzer zu liefern, und erfassen dabei Daten an der Primärquelle, den Patient:innen. Durch ihre Funktionsweise verlagern DiGA die Entscheidungsgewalt auf die Seite der Patient:innen und führen damit zu einer Demokratisierung der Deutungshoheit; im Idealfall sollten sie es Patient:innen erlauben, ihre Gesundheitsversorgung nach selbst definierten Maßstäben evidenzbasiert zu optimieren.

Digitale Lösungen senken für Patient:innen darüber hinaus die Eintrittsschwelle zum Gesundheitssektor, eindrucksvoll demonstriert am Beispiel des Gemeinschaftsprojekts OAPS – Open Artificial Pancreas System [18]. OAPS begann als Frustration einer Patientin mit Typ-1-Diabetes darüber, dass das Alarmsignal, das sie vor Unterzuckerung warnen sollte, nicht laut genug war. Es führte zu einer weltweiten Bewegung, Blutzuckerwerte durch Automatisierung so zu optimieren, dass Patient:innen vor Unterzuckerung auf der einen Seite, aber auch vor zu hohen Blutzuckerspiegeln und den damit assoziierten Langzeitfolgen geschützt werden. Ein Drittel der Beteiligten besteht aus Eltern, die diese geschlossenen Systeme zwischen Messsystem und Insulinpumpe für ihre Kinder gebaut haben. Das Motto der Bewegung #WeAreNotWaiting spiegelt einerseits die wachsende Ungeduld von Patientengemeinschaften, andererseits aber auch eine zunehmende Emanzipation, die als unzureichend empfundenen Standards nicht länger zu tolerieren.

Die Bewegung führte zu interessanten Diskussionen, ob Patient:innen „erlaubt“ sein sollte, ihre eigene Versorgung zu verbessern. Initiativen dieser Art werden häufig durch Individuen vorangetrieben, die sowohl technische Expertise als auch persönliche Patientenerfahrung besitzen. Das angestrebte Ziel ist dabei nicht eine Akzeptanz, sondern eine signifikante Verbesserung des Systemstandards, häufig in Kombination mit altruistischen Sekundärzielen wie niedrigen Kosten, Datensicherheit und breiter Zugänglichkeit. Initiativen dieser Art weichen das traditionelle Verhältnis zwischen Leistungsanbietern und Patient:innen auf und sind damit eine besondere Art kreativer, basislegitimierter und disruptiver Innovation.

Fazit

Patient:innen mit dem höchsten Leidensdruck werden die höchste Bereitschaft zeigen, neue digitale Lösungen zu testen. Allerdings stellen sie eine kritische Anwendergruppe dar, der auch heute schon national und international eine Vielzahl von kommerziellen und nichtkommerziellen Angeboten zur Verfügung steht, mit denen neue DiGA konkurrieren müssen. Um im Gesundheitsbereich erfolgreich zu sein, müssen digitale Lösungen reale Patientenbedürfnisse befriedigen. Validierte Ausgangshypothesen, Wertschöpfung durch vertikale Integration, verantwortungsvolle Finanzierungsmodelle und Datensicherheit werden dafür Grundvoraussetzungen sein. Von einem gesellschaftspolitischen Standpunkt aus sind DiGA ein besonders interessantes Innovationsfeld, da sie die Entscheidungsfreiheit und Bestimmungsgewalt von Patient:innen gegenüber anderen Parteien erhöhen.