Einleitung

Die Migräne zählt mit mehr als einer Milliarde Betroffenen zu den weitverbreiteten und zunehmend als besonders wichtig erkannten Gesundheitsproblemen weltweit [1,2,3]. In Europa betrifft die Migräne ca. 50 Mio. Menschen [4, 5]. Mit Beginn der Erkrankung und ihren Vorläufern im Kleinkindesalter sowie ihrer Prävalenz in der Pubertät ist die Migräne eine typische Erkrankung des Jugendlichen [6,7,8]. Als primäre Kopfschmerzerkrankung ist sie trotz hoher Verbreitung und hoher klinischer Relevanz in Verständnis, Forschung und Förderung beispiellos unterschätzt und unterrepräsentiert [2, 9, 10]. Dabei führt sie häufig zu jahrelang andauernden Einschränkungen im Lebensalltag der betroffenen jungen PatientInnen und geht mit einem relevanten Chronifizierungsrisiko einher [11,12,13].

Nach Diagnosesicherung gilt insbesondere für Patienten mit einer hohen Krankheitslast und somatoformen und/oder psychiatrischen Komorbiditäten die Behandlung im Rahmen eines patientenzentrierten, multimodalen Therapiekonzepts im Sinne des biopsychosozialen Modells als Goldstandard, ein Setting, welches hohe spezifische Erfahrung, stabile Ressourcen und geeignete klinisch-ambulante und klinische Strukturen voraussetzt [14].

Trotz der Vielfalt an pharmakologischen Therapieoptionen, sowohl zur akuten als auch zur prophylaktischen Behandlung, besteht die dringliche Notwendigkeit, innovative und effektive nichtpharmakologische Migränetherapien zu entwickeln [15, 16]. Dies gilt umso mehr für die Gruppe der Kinder und Jugendlichen, als hier die Risiko-Nutzen-Relation für die Pharmakoprophylaxe besonders ins Gewicht fällt [15]. Durch Fortschritte im Verständnis der Migränepathophysiologie rücken Methoden der therapeutischen Neuromodulation zunehmend in den Fokus der neurologischen Forschung [17, 18]. In diesem Zusammenhang bietet das Konzept der repetitiven peripheren Magnetstimulation im Bereich der Schulter-Nacken-Muskulatur einen aussichtsreichen und piloterprobten Ansatzpunkt, da die Assoziation von Muskelschmerzen und/oder Verspannungen in diesem Bereich zur Migräne, insbesondere für das Kindes- und Jugendalter, hinreichend belegt ist [19, 20].

In dieser Übersichtsarbeit stellen wir dar, welche Schwerpunkte die biopsychosoziale Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Migräne ausmachen. Vor diesem Hintergrund sowie anhand der Diskussion bezüglich der aktuellen Forschung zur Migränepathophysiologie werden die verschiedenen innovativen neuromodulatorischen Therapieansätze vorgestellt, eingeordnet und dabei der zukünftige Stellenwert der repetitiven peripheren Magnetstimulation skizziert.

Epidemiologie

Kopfschmerzen sind insgesamt ein sehr häufiges Symptom im Kindes- und Jugendalter, die 1‑Monats-Prävalenz beträgt bei Jugendlichen bis 80 %. Eine relevante Zahl leidet dabei an einer primären Kopfschmerzerkrankung – allen voran den Spannungskopfschmerzen und der Migräne [6, 11, 21]. Im pädiatrischen Kollektiv liegt die Prävalenz der gesicherten Migräne bei bis zu 10–20 %, der wahrscheinlichen Migräne bei 15 % und der chronischen Migräne bei 0,1 %. Die Prävalenz der Migräne nimmt im Verlauf der Adoleszenz stetig zu [7, 8, 11, 22]. Eine Remission in der Pubertät ist bei 30–60 % der Patienten zu erwarten, wobei es bei ca. einem Drittel dieser Patienten zu einem erneuten Auftreten der Symptomatik in höherem Lebensalter kommt. Ein Beginn der Erkrankung im jungen Alter ist mit einer späteren Persistenz der Beschwerden korreliert [12, 23,24,25]. Das Progressionsrisiko von episodischer zu chronischer Migräne (Anstieg der Kopfschmerztage auf >15 pro Monat, davon mind. 8 Migränetage, Persistenz der hohen Frequenz über >3 Monate) liegt im Erwachsenenalter bei ca. 3 % [26]. Hier gelten eine hohe Kopfschmerzfrequenz, der Medikationsübergebrauch und eine gesteigerte Schmerzempfindlichkeit der Haut (kutane Allodynie) als Risikofaktoren für eine Progression von episodischer zu chronischer Migräne. Mit steigender Anzahl insbesondere an psychiatrischen Komorbiditäten (Depression, Angst) und Komorbiditäten aus dem Formenkreis der Schmerzsyndrome steigt das Risiko ebenfalls [27]. Eine Metaanalyse zeigte im Kindes- und Jugendalter ähnliche Risikofaktoren auf [26].

Bedeutung der Migräne für die Betroffenen

Obwohl die Migräne eine solch hohe Prävalenz aufweist, ist sie nach wie vor unterdiagnostiziert und oft unzureichend behandelt [5, 10, 28]. Die Kopfschmerzforschung gilt zudem als ein bei Weitem unterfinanziertes Gebiet [9]. Dies steht im krassen Gegensatz zur hohen Bedeutung der Erkrankung für die einzelnen Betroffenen und für die Gesellschaft durch ihre periodischen „Knock-out-Attacken“. Die Patienten erleben eine besondere Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität, bedingt durch das Schmerzerleben, aber auch die direkten und indirekten somatischen, psychischen und sozialen Folgen, die über die akute Beeinträchtigung während einer Attacke weit hinausgehen [29,30,31]. Die Migräne führt zu einer volkswirtschaftlich relevanten Einschränkung der Produktivität des Einzelnen (im Durchschnitt 10 Arbeitstage pro Jahr) und der Gesellschaft [2, 31,32,33]. Die im europäischen Gesundheitssystem entstehenden jährlichen direkten medizinischen Kosten betragen pro Patient mit episodischer Migräne 746 €, bei chronischer Migräne das Dreifache. Insgesamt sind für Europa direkte und indirekte jährliche Kosten von € 18,5 Mrd. errechnet [34]. Die volkswirtschaftlichen Kosten der kindlichen Migräne selbst sind bisher nicht eingehend untersucht, obwohl aufgrund von Krankheitstagen eines Kindes auch von häufigen Fehltagen der Eltern ausgegangen werden muss [31]. Die Lebensqualität erfährt bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen eine Beeinträchtigung, aber eben auch bei den Eltern [13, 22].

Klinisches Bild der Migräne

Die Migräne ist gekennzeichnet durch wiederholte akute Kopfschmerzepisoden von mittlerer bis hoher Intensität (in der Regel >6 von 10 auf der numerischen Analogskala von 0 bis 10). Für die Migräne im Kindes- und Jugendalter können folgende klinischen Besonderheiten genannt werden: meist Migräne ohne Aura (60–80 %); kürzere Dauer der einzelnen Attacken (2–72 h, wobei auch Attackendauern mit <2 h berichtet werden), häufiger bilaterale als unilaterale, in der Regel frontale Lokalisation. Häufig besteht eine vegetative Symptomatik in Form von Übelkeit, Erbrechen (wird dann oft als erleichternd empfunden) oder „nur“ abdominellem Schmerz. Die kindliche Migräne beginnt oft in den frühen Morgenstunden, führt zu einer Unterbrechung von eigentlich gerne durchgeführten Beschäftigungen und zu einem Rückzug mit „Abschottung“ und strikter Vermeidung (auch geringer, Beispiel „Treppensteigen“) körperlicher Aktivität. Oft wird ein eindrucksvoll „imperativer“ Schlafdrang berichtet, nach dem Schlaf präsentieren sich die Kinder dann meist „wieder gesund“. Vorläufersymptome (Premonitory Symptoms) i. S. von autonomen, psychischen oder neurologischen Symptomen (Stimmungsschwankungen, Konzentrationsstörungen, Inappetenz, Heißhungerattacken, Müdigkeit, auffallende Blässe, Lichtempfindlichkeit, Nackenschmerzen, Nackensteife, häufiger Harndrang) werden häufig beobachtet [8, 35]. Es ist also herauszustellen, dass die Migränesymptomatik im Sinne des Konzepts „migraine is a brain state“ viel mehr ist als nur das Symptom „Schmerz“. Konkret beschreibt sie ein ganzes Spektrum zentraler, peripherer und autonomer Symptome mit den für die Kinder- und Jugendmedizin wichtigen Charakteristika des jeweiligen Entwicklungsalters [9, 36].

Diagnosestellung und Differenzialdiagnostik

Eine Migräne wird auf Grundlage einer sorgfältigen Anamneseerhebung und internistischer und (kinder-)neurologischer Untersuchung primär klinisch diagnostiziert. Es finden die Kriterien der Internationalen Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen (ICHD 3) Anwendung [37]. In der Regel ist bei stimmigem Gesamtbild mit Beschwerdefreiheit zwischen den einzelnen Episoden keine weitere Diagnostik erforderlich. Eine positive Familienanamnese kann auf eine Migräne hinweisen [35]. Eine weiterführende diagnostische Abklärung ist insbesondere bei atypischen Symptomen oder Verläufen (z. B. plötzliche Zunahme der Kopfschmerintensität oder -frequenz) und bei klinischen Symptomen, die auf eine (weitere) neurologische Erkrankung (z. B. Gefäßsymptomatik mit transitorischer ischämischer Attacke, Schlaganfall, Ursachen einer intrakraniellen Druckerhöhung) hinweisen, indiziert [38].

Multimodale Betreuung

Für eine so komplexe, wie beeinträchtigende neurologische Erkrankung wie die Migräne gilt die Behandlung im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzeptes als Goldstandard, insbesondere dann, wenn sie mit einer hohen Krankheitslast einhergeht, sich eine Chronifizierung abzeichnet oder Komorbiditäten aus dem somatoformen oder psychiatrischen Formenkreis vorliegen [14]. Übergeordnete Ziele der Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Migräne sind die Verringerung bis Vermeidung einer Einschränkung des Alltags und der Lebensqualität durch die Erkrankung. Daneben gilt es einer Chronifizierung der Symptomatik i. S. einer Zunahme der Kopfschmerzhäufigkeit und einem Übergang in eine funktionelle (somatoforme/psychogene) Störung/somatische Belastungsstörung vorzubeugen. Kurz- bis mittelfristige Ziele sind in der Regel: Reduktion der Kopfschmerzfrequenz, Reduktion der Dauer der einzelnen Kopfschmerzepisode, Verbesserung des Umgangs mit Schmerzen, Vermeidung von Vermeidungsstrategien (z. B. Fernbleiben von der Schule), Vermeidung eines Analgetikaabusus [15].

In der Regel wird nach Diagnosesicherung ein patientenzentriertes Therapiekonzept definiert, das je nach Verlauf, individuellem Bedarf und Ressourcen gemeinsam mit dem Patienten erweitert oder reduziert werden kann. Werden die Möglichkeiten der Grundversorgung überschritten, ist es sinnvoll, eine Betreuung in einem interdisziplinären, „dreidimensionalen“ Team aus Pädiatrie, Physiotherapie und Psychologie in einem spezialisierten Zentrum mit der Familie zu diskutieren und anzustreben [14]. Die Betreuung dieser Patienten ist zeitaufwendig und erfordert die Einbettung in eine klar definierte Struktur. Die konkreten Vorstellungsintervalle werden dabei individuell flexibilisiert, die Möglichkeit zu Telefonkontakten im Intervall kann die Adhärenz fördern. Der hohe Stellenwert der Adhärenz/Compliance und der Selbstkonzeptualisierung und Selbstverantwortlichkeit des Patienten für den Erfolg der Behandlung des eigenen Kopfschmerzes wird im Rahmen des multimodalen Konzepts betont und bleibt eine zentrale Herausforderung an einen gelingenden Versorgungspfad [39].

Diagnosegespräch und Psychoedukation

Ziel des ärztlichen Diagnosegesprächs ist es, dem Patienten eine Konzeptualisierung des ihm eigenen Kopfschmerzes auf dem Boden des biopsychosozialen Modells zu ermöglichen. Durch Darstellung der Diagnose und ihrer biologischen Grundlagen lassen sich Fehlattributionen realisieren, reduzieren und eliminieren [35]. Es werden auf evidenzbasierter Grundlage Lebensstilfaktoren und individuelle körperliche und psychische Auslösefaktoren diskutiert: Schlafmangel oder unregelmäßiger Schlaf, körperliche Inaktivität, Übergewicht, Alkohol- (>2 Getränke/Woche), Koffein- (>2 Tassen Kaffee/Tag oder deren Äquivalent in Cola oder Energydrinks) und Nikotinkonsum, geringe Flüssigkeitszufuhr (kontrovers), Freizeitstress (zu wenig regenerative, nicht verplante Zeit), Leistungsdruck (schulischer Stress, Erwartungsdruck der Eltern), sozialer Druck (Peergroup, Mobbing), Schule (als ungerecht empfundene Behandlung durch Lehrer) und familiäre Konflikte [40, 41]. Daneben werden Basismaßnahmen bei akuten Kopfschmerzen – wie z. B. Rückzug, Reizabschirmung, Schaffen einer Schlafmöglichkeit – erläutert [14]. Als wichtiges Instrument sollte hier ein Kopfschmerztagebuch bzw. eines Aktivitätstagebuchs angeführt werden, um die Eigenwahrnehmung und Reflexion aktiv anzuregen [20]. Das gleiche Ziel wird mit der Bitte um Anfertigung einer grafischen/bildlichen Darstellung der erlebten Symptome verfolgt [20]. Ergänzend zum Gespräch kann auf internetbasierte Schulungsprogramme hingewiesen werden (z. B. Mütze hat den Kopfschmerz satt; z. B. auf Youtube zu sehen; [14]).

Standardisierte Fragebögen – Lebensqualität, Kopfschmerz, Migräne

Standardisierte Fragebögen sind ein bewährtes Instrument zur Primär- und Verlaufsbeurteilung der Krankheitslast. Für Kinder und Jugendliche stehen folgende zur Verfügung: Headache Impact Test (HIT, nicht validiert für die Altersgruppe, nach klinischer Erfahrung aber ab dem 14. Lebensjahr einsetzbar); Pediatric Migraine Disability Assessment Score (PedMIDAS); Pediatric Quality of Life Inventory (PedsQL); Fragebogen zur Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen (KINDL) [14, 42].

Psychologische Diagnostik, Beratung und Intervention

Krankheits- und Stressbewältigung sowie Selbstwahrnehmung und Selbstwirksamkeit sind Kernaspekte der psychologischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die an Migräne leiden. Psychologische Interventionen zur Stressmodifikation, Verbesserung der Körper- und Selbstwahrnehmung, Stärkung der Autonomie und Erarbeiten von Verarbeitungsstrategien gelten als wirksame Maßnahmen [14]. Je nach individueller Situation zielt die Diagnostik auf: Identifikation von Auslösern oder „Unterhaltern“ des Kopfschmerzes (z. B. Stress- und Stresswahrnehmung, Überforderung, sekundärer Krankheitsgewinn, Schulvermeidungsverhalten), Objektivierung von Folgen der Schmerzerfahrung (z. B. Einbuße hinsichtlich Konzentrationsfähigkeit, Leistungsniveau), kognitive Leistungstestung (Erkennen von Überforderungssituationen in der Schule), Erkennen von psychischen Belastungen, emotionalen Schwierigkeiten und psychiatrischen Komorbiditäten (z. B. Hyperaktivität, Angststörungen, Depression, posttraumatische Belastungsstörung; [43, 44]). Die Autoren haben 2019 im Rahmen des Innovationsfondsprojektes „Modules on Migraine Aktivity – moma“ des Gemeinsamen Bundesauschusses (G-BA) und der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) zur Visualisierung der verschiedenen Faktoren ein Holzriesenrad entwickelt. Durch das spielerische Sortieren von Gewichten in den Gondeln wird die Bedeutung einzelner Faktoren begreifbar für die jungen Patienten. Dieses Konzept wird bisher mit bemerkenswerter Akzeptanz bei Kindern und Eltern im Rahmen des o. g. Projekts eingesetzt [45].

Physiotherapeutische Diagnostik, Beratung und Intervention

Der Schwerpunkt der physiotherapeutischen Diagnostik liegt auf der Beurteilung der Schulter-Nacken-Muskulatur mit Fokus auf Druckdolenzen, Verspannungen und myofaszialen Triggerpunkten (mTrP) sowie der Körperhaltung. Die Beratung umfasst die Aufklärung über den Stellenwert körperlicher Aktivität sowie Anleitungen zu Eigenübungen (z. B. Haltungs- und Dehnübungen). Physiotherapeutische Behandlung der Schulter-Nacken-Muskulatur kann in diesen Fällen von Wärmeanwendungen, über passives Dehnen, manuelle Techniken bis hin zur spezifischen Triggerpunkttherapie reichen [9].

Pharmakotherapie – akute Migräneattacken

Für akute Migräneattacken sollte jeder Patient über ein zuverlässig analgetisches Medikament verfügen, dass er frühzeitig und in ausreichend hoher Dosierung einnimmt. Bei unzureichender Wirksamkeit der Analgetika (30–60 % der Patienten) stellen die migränespezifischen Triptane eine Alternative dar, ggf. auch in Kombination mit einem langwirksamen nichtsteroidalen Antiphlogistikum (NSAID, z. B. Naproxen). Der Einsatz von ausgewählten Antiemetika kann im Einzelfall bei starker Übelkeit sinnvoll sein (z. B. Ondansetron [14, 15, 46]).

Pharmakoprophylaxe

Die Indikation für eine Pharmakoprophylaxe – abgesehen von der Einnahme von Magnesium – wird im Kindes- und Jugendalter aufgrund der zumeist schlechten Nutzen-Risiko-Abwägung und der fehlenden Zulassung sowie der limitierten Evidenz selten gestellt. Sie kommt in der Regel erst dann für Einzelfälle in Betracht, wenn die psychologischen und nichtmedikamentösen Maßnahmen ausgeschöpft sind [sic!] und trotzdem folgende Situationen vorliegen: hohe Attackenfrequenz (Migräne >1–2 ×/Woche oder >3–4 ×/Monat) oder chronischer täglicher Kopfschmerz; relevante Einschränkung in Bezug auf Schulpräsenz, Alltagsfunktionalität, Aktivitäten (z. B. Migräne PedMIDAS ≥30) und Lebensqualität; unzureichende Wirksamkeit und Verträglichkeit oder regelmäßige Überdosierung der Akuttherapeutika; Kontraindikation für die Akuttherapeutika; prolongierte Migräne (>48 h), hemiplegische Migräne und Migräne mit Hirnstammaura (früher: Basilarismigräne) sowie ausgeprägte andere Auren (als nicht evidenzbasierte Indikationen; [15, 16]).

Für die Anwendung der neuen Wirkgruppe der Calcitonin-gene-related-peptide-(CGRP-)Antikörper (bzw. Rezeptorantikörper) fehlen bislang pädiatrische Daten [47]. Hier ist in Zukunft kritisch abzuwarten, ob diese Substanzgruppe bei dem prophylaktischen Primat von Physiotherapie, Psychologie und Selbstwirksamkeit bei Kindern und Jugendlichen tatsächlich einen Zusatznutzen gegenüber der konsequenten Ausschöpfung nichtpharmakologischer Maßnahmen zeigt.

Komplementärmedizinische Therapieansätze

Die Nachfrage nach komplementärmedizinischen Therapiemöglichkeiten ist unverändert hoch. Die Familien sollten dahin gehend beraten werden, dass hinsichtlich der Spezifika des Kindes- und Jugendalters keine ausreichend belastbaren evidenzbasierten Daten vorliegen [46, 48].

Pathophysiologie der Migräne – aktuelle Konzepte

Die Migräne ist ein komplexes Krankheitsbild. Aus einer ursprünglich rein vaskulären Hypothese, die sich vor allem auf die Vasodilatation der meningealen Gefäße stützte, hat sich im Laufe der Zeit eine neuronale Hypothese mit zentraler und peripherer Komponente entwickelt [49,50,51,52]. Insgesamt wird die Migräne heute, wie oben bereits angerissen, als ein sich phasenweise verändernder Funktionszustand des Gehirns verstanden („migraine is a brain state“; [36]).

Das Gehirn eines Menschen mit Migräne zeigt gegenüber Menschen ohne Migräne eine veränderte Schwelle der (Schmerz‑)Reizwahrnehmung – sowohl in einer akuten Migräneepisode, aber auch im Intervall [53]. Diese funktionellen Veränderungen in einem Hypothalamus-Thalamus-Hirnstamm-Netzwerk oszillieren biologisch und chronobiologisch sowohl bezogen auf die jeweilige, einzelne Schmerzattacke als auch bezogen auf längere Wochen bis Monate andauernde Zyklen. Den Rhythmus für diese „Phasen unterschiedlicher Suszeptibilität“ geben sogenannte Migränegeneratoren (im Hypothalamus und Hirnstamm, sog. Taktgeber). Je niedriger diese Reizschwelle, umso eher können individuelle Triggerfaktoren zur Auslösung einer Migräneattacke führen, die – wiederum zu betonen – so viel mehr ist als „nur“ ein Kopfschmerz. In der multifaktoriellen Genese spielen genetische (in der Regel nicht monogenetische) Faktoren eine auch in der klinischen Gewichtung wichtige Rolle, wie die häufig positive Familienanamnese veranschaulicht [54].

Stress als Faktor im Rahmen einer Migräneerkrankung wird vor diesem Hintergrund von zwei Seiten beleuchtet. Zum einen kann körperlicher/psychischer Stress (oder sein plötzlicher Abfall) in Phasen einer niedrigen Reizschwelle die Migränekaskade in Gang setzen [53]. Auf der anderen Seite zeigen Untersuchungen bei Gymnasiasten, dass Jugendliche mit Migräne ein anderes Stresserleben zeigen, i. S. einer höheren Sensitivität [9, 43]. Diese ließe sich auf Grundlage der bei Migräne in jeder Phase veränderten Reizwahrnehmung als Ergebnis der insgesamt und multimodal reduzierten Habituation einordnen. Luedtke et al. konnten nachweisen, dass Migränepatienten mit einer initial (und nur initial) erhöhten Muskelanspannung als Stressantwort auf eine akute psychische und physische Stresssituation reagieren [55]. Eine Beobachtung, die auch zum „Dazugehören“ peripherer Komponenten in der Komplexität der pathophysiologischen Vorgänge weitergedacht werden kann.

Für die periphere Komponente in der Migränepathophysiologie spielt die Konzeptualisierung als sogenannter trigeminozervikaler Komplex (TCC) eine wichtige Rolle. Hierunter wird eine peripher-zentrale Verknüpfung verstanden, welche im Wesentlichen die Konvergenz von zervikalem nozizeptiven Input (C1-C3) in den kaudalen Nuclei des Nervus trigeminus im Hirnstamm beschreibt [50, 56]. Auf Basis des TCC gelingt eine Verbindung von Migräne zu den praktisch so evidenten Nackenschmerzen. Die Assoziation von Schmerzsymptomen der Schulter-Nacken-Region und Migräne konnte im Rahmen epidemiologischer Studien nachgewiesen werden. 7 % der Menschen mit Migräne geben an, in der Zeit der Prodromalphase, also bis zu 24 h vor Beginn der Kopfschmerzen, unter Nackenschmerzen zu leiden. 25 % der Menschen mit Migräne leiden während der Kopfschmerzen zusätzlich an Nackenschmerzen [57, 58]. Verspannungen im Nacken-Schulter-Bereich bei Kindern und Jugendlichen, die an Kopfschmerzen – insbesondere Migräne – leiden, sind häufig [59,60,61].

Betroffen sind hiervon insbesondere die C1-C3-versorgten Mm. trapezii, Mm. splenii/semispinales capites und Mm. sternocleidomastoidei – womit der Brückenschlag zum TCC gelingt. Oft sind in diesen Muskeln sog. myofasziale Triggerpunkte (mTrP) nachweisbar [62]. MTrP werden als umschriebene, tastbar verhärtete Strukturen in einem straffen Muskelstrang (Taut Band) eines Skelettmuskels definiert, die bei manueller Palpation eine lokale Muskelzuckung (Twitch Response), Druckschmerzhaftigkeit (Jump Sign) und/oder ausstrahlende Missempfindungen bis hin zum dem Patienten bekannten Kopfschmerz (Referred Sensation, Referred Pain) zeigen [63]. Es ist belegt, dass durch manuelle Palpation myofaszialer Triggerpunkte bei Kindern und Jugendlichen Migränekopfschmerzen ausgelöst werden können [32].

Als Goldstandard zur Diagnose von mTrP gilt bislang die manuelle Palpation, deren Schwäche eindeutig in der nicht objektivierbaren Reproduzierbarkeit liegt [63]. Studien zu objektiven bildgebenden Verfahren – wie Sonographie oder Elastographie und Infrarotthermographie – blieben bisher kontrovers, ohne konklusive Ergebnisse [64]. Mittels hochauflösender 3‑Tesla-Magnetresonanztomographie (MRT) gelang es bei jungen Erwachsenen zwar in der T2-gewichteten Darstellung hyperintense Veränderungen in als mTrP-palpierten Bereichen des M. trapezius darzustellen [65], eine verblindete Beurteilung zeigte aber mangelnde Reliabilität (Publikation under review). Mittels neuer bildgebender quantitativer Verfahren (T2-Kartierung) gelang 2018 erstmals eine objektivierbare und reproduzierbare Darstellung von mTrP [66]. Lassen sich diese Ergebnisse in weiteren Untersuchungen bestätigen, werden für wissenschaftliche Studien zukünftig objektive Messverfahren zur Verfügung stehen, um mTrP in ihrer Beziehung zur Migräne und mit ihren Veränderungen durch natürlichen Verlauf und Therapien zu dokumentieren.

Nichtpharmakologische innovative Therapieansätze

Neben den Weiterentwicklungen der pharmakologischen Konzepte wird zunehmend der Bedarf an nichtpharmakologischen Therapieansätzen betont. Unter pathophysiologischen Gesichtspunkten werden diese Methoden als neuromodulatorische Therapien bezeichnet, da sie auf die Schmerzverarbeitungsprozesse einwirken. Prinzipiell sind periphere und zentrale neuromodulatorische Ansätze sowie deren akuter oder prophylaktischer Einsatz zu unterscheiden. Einen Überblick über die nichtinvasiven Methoden zur Behandlung der Migräne gibt Tab. 1. Die spezifischen Wirkmechanismen und pathophysiologischen Vorgänge sind dabei nach wie vor Gegenstand intensiver Forschung einzelner Arbeitsgruppen [46]. Wie oben aufgeführt, führt die Migräne zu einer oszillierenden Veränderung zentraler Triggerschwellen, wobei periphere Eingänge, wie z. B. die nozizeptiven Fasern aus dem trigeminalen als auch zervikalen Bereich, eine Rolle spielen. Durch elektrische Reizung im Gebiet des N. supraorbitalis kann die Migränefrequenz bei episodischer Migräne signifikant reduziert werden [17]. Für die positive Wirkung der Stimulation zervikaler Afferenzen gibt es erste Hinweise (z. B. rPMS, s. unten; [17, 51]). Die Modulation dieser Afferenzen erfolgt über die Induktion elektrischer Ströme im Körpergewebe – entweder durch Elektro- oder magnetische Stimulation. Insbesondere Patienten, bei denen Kontraindikationen für medikamentöse Migränetherapeutika bestehen, die deren Nebenwirkungen nicht tolerieren oder grundsätzlich nicht auf die Pharmakotherapie ansprechen, wird so eine neue Alternative eröffnet [67]. Zur Zielgruppe für nichtinvasive und sichere i. S. von nebenwirkungsarmen Interventionen zählen nach Meinung der Autoren prioritär Kinder und Jugendliche [68].

Tab. 1 Übersicht der zum aktuellen Zeitpunkt verfügbaren und erprobten nichtinvasiven zentralen und peripheren Methoden der Neuromodulation bei Migräne [17, 51, 69, 71, 72]

Insgesamt ist die Evidenzlage nicht für alle Anwendungen ausreichend hoch. Eine Schwierigkeit liegt hierbei in der Etablierung einer methodisch adäquaten Sham-Kontrolle. Daneben liegen bislang keine kontrollierten Daten zum Vergleich der Verfahren untereinander, zur Kombination verschiedener Verfahren oder zum Einfluss von parallel eingenommener Medikation vor. Ebenso sind die Daten zum Vergleich der Wirksamkeit bei verschiedenen Patientengruppen (z. B. Alter, Geschlecht, episodische Migräne, chronische Migräne, Aura positiv/negativ, Krankheitsdauer, Krankheitslast) und Daten zur Nachhaltigkeit der Effekte nicht ausreichend vorhanden. Des Weiteren fehlen Vergleiche unterschiedlicher Stimulationsprotokolle und Settings. Auch wenn auf dem Markt nun verschiedene Geräte zur selbstständigen Anwendung verfügbar sind, sollte die Auswahl auf individueller Basis – auch vor dem Hintergrund der entstehenden Kosten – gemeinsam getroffen und die Behandlungen sollten gut angeleitet und dokumentiert werden [16, 17, 69].

Für keine der dargestellten Interventionen existieren bisher Daten zur Anwendung im Kindes- und Jugendalter. Aufgrund der guten Akzeptanz, Sicherheit und Wirksamkeit einer Behandlung mittels repetitiver peripherer Magnetstimulation im Bereich der Schulter-Nacken-Muskulatur bei jungen Erwachsenen mit hochfrequenter episodischer Migräne könnten entsprechende Untersuchungen bei ausgewählten Kindern und Jugendlichen (episodische Migräne + myofasziale Triggerpunkte Schulter-Nacken-Muskulatur) folgen [19, 20]. Gerade in dieser Altersgruppe wird häufig die Assoziation muskulärer Symptome zur Migräne beschrieben, die über den TCC konzeptualisiert werden kann. Durch die im Bereich der Schulter-Nacken-Muskulatur ansetzende Intervention eröffnet sich die Chance, von peripher her neuromodulierend auf zentrale Schmerzmechanismen einzuwirken und in der Folge eine Linderung von Migränesymptomen zu erreichen. Aufgrund der Verfügbarkeit von Magnetstimulationsgeräten, die für die ambulante, physiotherapeutische Anwendung konzipiert wurden, kann diese Art der Behandlung im Jahr 2020 auch außerhalb neurophysiologischer Forschungslabore in einem kindgerechten Setting evaluiert werden. Vorteile dieser Methode sind die Schmerzlosigkeit, das Fehlen von Elektroden, die angebracht werden müssen, und die Anwendung in Bekleidung [70]. In Analogie zur transkraniellen Magnetstimulation (TMS), deren Sicherheit im Kindesalter in einer Metaanalyse belegt wurde, ist auch bei der peripheren Magnetstimulation (PMS) von einem guten Sicherheitsprofil auszugehen [68].

Fazit

Die Migräne ist ein häufiges und für den einzelnen Patienten extrem relevantes Krankheitsbild. Betroffenen Kindern und Jugendlichen sollte ein multimodales Therapiekonzept angeboten werden können, falls die Standardmaßnahmen nicht ausreichen, sich ein komplizierter Verlauf abzeichnet oder eine komplexe Gesamtsituation besteht. Aufgrund der nicht zufriedenstellenden Nutzen-Risiko-Abwägung für die meisten Pharmakotherapien rücken zunehmend nichtpharmakologische Behandlungsansätze in den Vordergrund. Durch Neurostimulation werden hier die zentralen, aber auch peripheren Mechanismen der Schmerzverarbeitung für den Patienten positiv beeinflusst. Diese innovativen, neuromodulatorischen Therapien sollten – zunächst im Rahmen von Studien – auch Kindern und Jugendlichen zugänglich gemacht werden. Die Schulter-Nacken-Muskulatur als ein klinisch gut zugängliches „Markerorgan der Migräne“ lässt Rückschlüsse auf die individuelle Bedeutung der (1) lokalen, myofaszialen Komponente, (2) der zentrofugalen und zentripetalen Komponente des trigeminozervikalen Schmerzkomplexes und (3) die individuelle Körperreaktion auf Stress zu. Pathophysiologisch-theoretisch lassen sich die positiven Effekte der repetitiven peripheren Magnetstimulation rPMS sowohl (1) über das Konzept des trigeminozervikalen Komplexes als auch (2) über das Konzept der peripheren Sensitivierung des kaudalen Anteiles des Kerngebietes des N. trigeminus als auch (3) über die myofaszialen Triggerpunkte begründen.