„Meine Herren! Ich habe … Grund, die Frage der Sterblichkeit vor Ihr Forum zu bringen. Das ist nämlich – ich darf es wohl sagen, ohne einen einzelnen zu beleidigen – die große Nachlässigkeit, mit welcher auf den Totenscheinen die Krankheiten von den Ärzten angegeben werden …“ Dieses Zitat aus dem Jahr 1863 stammt vom Pathologen Rudolf Virchow. Dem kritischen Leser stellt sich die Frage, ob sich denn in den letzten 150 Jahren an dieser Situation etwas zum Positiven hin verändert hat: Nicht nur eine unzureichende Qualität der Leichenschau ist seit vielen Jahren ein Thema in Fachpublikationen, auch die Qualität ausgefüllter Todesbescheinigungen ist weiterhin als ungenügend zu bewerten.

Warum sind die sorgfältige Durchführung der Leichenschau und das korrekte Ausfüllen der Todesbescheinigung so wichtig? Diese ärztlichen Aufgaben haben weitreichende Auswirkungen. Aus den Todesbescheinigungen werden Daten erhoben, die unter anderem die Grundlage für die amtliche Todesursachenstatistik, die Krebsregister und sich daraus ergebende gesundheitspolitische Entscheidungen bilden. Auch polizeiliche Ermittlungen bei ungeklärter oder nichtnatürlicher Todesart nehmen ihren Ausgang von den Eintragungen auf der Todesbescheinigung. Die Daten sind zudem Grundlagen von epidemiologischen Forschungsvorhaben auf nationaler wie auf internationaler Ebene. Sie gehen beispielsweise auch in die von der Weltgesundheitsorganisation initiierte Global-Burden-of-Disease-Studie ein.

Grundsätzlich existieren mehrere Maßnahmen zur Überprüfung und Verbesserung der Qualität von äußerer Leichenschau und Todesbescheinigung. Neben einer Qualifizierung der leichenschauenden Ärztinnen und Ärzte spielt die Durchführung von Obduktionen eine große Rolle: Die sog. Görlitzer Studie ergab bei der Hälfte der untersuchten Fälle eine fehlende Übereinstimmung von innerer und äußerer Leichenschau. Als weitere Maßnahme sollen die Gesundheitsämter als letzte fachliche Kontrollinstanz die Todesbescheinigungen in ihrem Zuständigkeitsbereich systematisch sichten und durch gezieltes Nachfragen bei den behandelnden Ärztinnen und Ärzten den Informationsgehalt und die Validität eines Großteils der Todesbescheinigungen deutlich verbessern und damit zur Präzisierung der Todesursachenstatistik beitragen.

Zu konstatieren ist jedoch, dass diese qualitätssichernden Maßnahmen derzeit weder im erforderlichen Umfang noch in allen Aspekten flächendeckend umgesetzt werden. Es besteht für approbierte Ärzte keine Verpflichtung zur Teilnahme an entsprechenden Fortbildungsmaßnahmen und Obduktionen finden im Bundesdurchschnitt inzwischen bei weniger als 5 % aller Verstorbenen statt. Aktuelle Zahlen der Jahre 2013 und 2014 aus dem Stadtgebiet München zeigen, dass von rund 26.000 in diesem Zeitraum Verstorbenen 2500 (9,5 %) obduziert wurden. Dieser über dem bundesweiten Durchschnitt liegende Wert ist der in München traditionell hohen Quote rechtsmedizinischer Obduktionen geschuldet, die 84,4 % aller durchgeführten Obduktionen betrug. Extrem niedrig war der Anteil an pathologischen Obduktionen mit 15,6 %.

Die bestehende Problematik bei der Leichenschau ist der Politik durchaus bewusst, über eine bessere Vergütung der ärztlichen Leichenschau soll deren Qualität verbessert werden. Daher verabschiedete der Bundesrat am 20.09.2019 die fünfte Verordnung zur Änderung der Gebührenordnung für Ärzte, die eine Anpassung der in der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) festgelegten Honorare für die Durchführung der ärztlichen Leichenschau vornimmt. Die Verbesserung der Vergütung allein wird jedoch die bestehende Problematik nicht lösen können.

Die Qualitätsprobleme setzen sich im Bereich der statistischen Erfassung und Codierung der Todesursachen fort. Es gibt nach wie vor keine bundeseinheitliche Todesbescheinigung, schon gar keine einheitliche europäische Todesbescheinigung. Stattdessen wirkt sich hier die Länderzuständigkeit für das Bestattungsrecht heterogenitätserzeugend aus. Auch die Komplexität der geforderten Angaben auf den Todesbescheinigungen stellt die leichenschauenden Ärztinnen und Ärzte regelmäßig vor Probleme, u. a. weil zum Zeitpunkt des Ausfüllens der Todesbescheinigung nicht immer alle geforderten Angaben bekannt sind. Auch ein mitunter uneinheitlicher Umgang der Codierfachkräfte mit der Codierung in den statistischen Landesämtern kann eine Fehlerquelle sein, worauf Ringvergleiche zu interindividuellen Codierungsunterschieden immer wieder aufmerksam machen – eine Tatsache, die auch in internationalen Vergleichen untersucht und aufgezeigt wurde. Des Weiteren ist in Deutschland die Todesursachenstatistik noch unikausal aufgebaut. Aus den statistischen Landesämtern wird allein das sog. Grundleiden, also die dem Sterben zugrunde liegende Erkrankung in die Todesursachenstatistik für Deutschland eingespeist. Weitere wesentliche Informationen, wie beispielsweise die unmittelbare Todesursache oder Begleiterkrankungen, die ebenfalls auf der Todesbescheinigung zu vermerken sind, werden in der zusammengeführten Todesursachenstatistik für Deutschland nicht dokumentiert.

Auf der 86. Gesundheitsministerkonferenz (GMK) 2013 wurde die Qualitätsverbesserung bei der Todesursachencodierung als Tagesordnungspunkt diskutiert und einstimmig beschlossen:

„Die GMK wirkt bei den Einrichtungen der ärztlichen Selbstverwaltung, des Öffentlichen Gesundheitsdienstes und den Landesstatistikbehörden darauf hin, dass diese im Rahmen ihrer Möglichkeiten

  • regelmäßig auf die Bedeutung der korrekten und vollständigen Dokumentation im Todesfall hinweisen, um eine aussagekräftige und hochwertige Datenbasis für gesundheitspolitische Fragestellungen in der Sekundärnutzung zu gewährleisten,

  • bei der ärztlichen Fortbildung für die Fragestellungen der validen Todesursachenfeststellung sensibilisieren … und Hinweise auf geeignete Hilfen (beispielsweise Ausfüllanleitungen und Fachbeiträge) als Bestandteil der ärztlichen Fortbildung aufnehmen.“

Die GMK hält

  • die Entwicklung eines Berichtswesens für eine multikausale Todesursachenstatistik sowie

  • die Durchführung einer Machbarkeitsstudie für eine elektronische Todesbescheinigung

„ebenfalls für geeignet und empfiehlt den Statistikbehörden des Bundes und der Länder, dies in enger Zusammenarbeit voranzutreiben.“

Zur Todesursachenstatistik gab es seit 2013 keine weiteren GMK-Beschlüsse. Auch ist es bisher nicht gelungen, die im Bevölkerungsstatistikgesetz 2013 vorgeschriebene elektronische Übermittlung der Todesursachen von den Gesundheitsämtern an die statistischen Landesämter flächendeckend umzusetzen. In der Folge wenden die statistischen Landesämter die Codiersoftware IRIS nicht vollumfänglich an, sodass das Potenzial der einheitlichen Plausibilitätsprüfung der Kausalkette und der automatischen regelgerechten Identifikation des Grundleidens weiterhin nicht voll ausgeschöpft werden kann. Demgegenüber stehen zahlreiche konkrete Bemühungen um Fortschritte sowohl bei der Qualität der Leichenschau als auch der Erstellung der Todesursachenstatistik.

Im vorliegenden Themenheft sollen der aktuelle Stand der Leichenschau und die sich daran anschließende Erstellung der Todesursachenstatistik vorgestellt und Qualifizierungsbedarfe aufgezeigt werden. Das Heft versammelt dazu exemplarische Beiträge, benennt Entwicklungsherausforderungen und geht auf künftige Perspektiven ein. Wir würden uns sehr freuen, wenn das Themenheft dazu beiträgt, nicht nur aktuelle sachgerechte Informationen zu vermitteln, sondern auch einen Anstoß für weitere Bemühungen um eine bessere Qualität von Leichenschau und Todesursachenstatistik zu geben. 150 Jahre nach Rudolf Virchow ist die Digitalisierung im Gesundheitswesen angekommen. Sie sollte auch die Daten zum Lebensende miteinschließen, da anhand der Todesursachen wichtige Erkenntnisse auch für die Versorgung der Lebenden gewonnen werden können.

Ihre

Dr. Sabine Gleich

Dr. Stefanie Weber

Dr. Joseph Kuhn