Hintergrund

Vergiftungen sind seit Menschengedenken bekannt, wobei erste systematische Erkenntnisse über Gifte sicherlich bei Nahrungsmitteln, insbesondere bei Pflanzen, gewonnen werden konnten. Bereits in der Antike waren Kenntnisse und Aufzeichnungen über das Vorkommen, die Zubereitung und die Anwendung von Giften, z. T. auf wissenschaftlicher Grundlage, vorhanden (z. B. Sokrates: Schierlingsbecher). Erste arbeitsmedizinische Erkenntnisse entstanden gleichzeitig mit differenzierten Vorstellungen über den Einfluss von Art und Menge der Darreichung von Giften und deren Wirkung. Nach Theophrast von Hohenheim (Paracelsus) gewann Bernardino Ramazzini im 17. Jahrhundert weitere wichtige dosisbezogene Erkenntnisse bei Bergleuten. Die unaufhaltsame Industrialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts führte durch unzureichende Schutz- und Vorsorgemaßnahmen zu z. T. schweren Vergiftungsunfällen in der Arbeitswelt. In den 1920er-Jahren fand durch die Entwicklung von neuen Medikamenten, chemischen Haushaltsprodukten, Bioziden und Pestiziden, letztlich auch von Bau- und Hobbyartikeln eine unaufhaltsame Chemisierung des menschlichen Lebens statt.

Die heutige moderne Industriegesellschaft ist einer ungeheuren Zahl von chemischen Stoffen ausgesetzt. Aus den Dokumentationen des US-amerikanischen „Chemical Abstract Service“ (CAS) geht hervor, dass der weltweite Gesamtbestand aller Chemikalien in einem Zeitraum von nur 10 Jahren von ca. 7 Mio. auf über 12 Mio. Stoffe im Jahr 1994 angestiegen ist. Orientierende Schätzungen im Zeitraum 1990–1992 zeigten, dass jährlich etwa 600.000 neue Chemikalien entwickelt wurden, wobei die Allgemeinbevölkerung mit etwa 50.000–60.000 verschiedenen Chemikalien in Kontakt kommen könnte [1, 2]. Für den deutschen Markt zeigen neuere Schätzungen und Umfragen bei Industrieverbänden nach dem Jahr 2000, dass etwa 10 Mio. chemische Produkte verfügbar sind [3].

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nach dem zweiten Weltkrieg nahm auch die Zahl der Vergiftungsfälle im Verbraucherbereich zu. Darüber hinaus entwickelte sich speziell in den 1950er- und 1960er-Jahren, besonders in der westlichen Welt, ein stärkeres Umweltbewusstsein, letztlich auch bedingt durch große Chemieunfälle. So entstand in der technischen Welt ein dringender Bedarf nach toxikologischem Expertenwissen, der zur Gründung von Giftinformationszentren (GIZ) führte.

Vorbild USA

1953 wurde in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) ein „Poison Control Program“ unter Public-Health-Gesichtspunkten initiiert [4]. Darin wurden eine zentrale Beratung und die Erfassung der nationalen Vergiftungsfälle gefordert, als Basis für eine adäquate verantwortungsvolle Therapie und eine zielgerichtete Risikominimierung. Folgerichtig wurde 1957 das „National Clearinghouse for Poison Control Centers“ (NCPCC) als nationale Koordinierungsstelle der US-amerikanischen GIZ gegründet und auf eine ausreichende finanzielle Basis gestellt. Weltweit erstmalig konnte in den US-GIZ eine einheitliche und harmonisierte Dokumentation von Vergiftungsfällen durch ein Karteikartensystem mit produktbezogenen Daten für die Beratungstätigkeit initiiert werden. Eine unmittelbare zentrale Erfassung des Vergiftungsgeschehens war durch die noch uneinheitlichen und unvollständigen Meldungen von Fällen der US-GIZ an das NCPCC nicht direkt möglich, zumal die Fallzahlen in den 1960er- und 1970er-Jahren dramatisch zunahmen. 1958 wurde die „American Association of Poison Control Centers“ (AAPCC) gegründet. Sie sah ihre Aufgabe in der Entwicklung landesweiter Präventionsprogramme und -strategien, brachte so Verbraucherschutzmaßnahmen und Gesetzesinitiativen auf den Weg und wurde in der Folgezeit die Dachorganisation der US-GIZ [5]. Die AAPCC-Konzepte zur strukturellen Neugliederung und Regionalisierung der Zentren haben wesentlich dazu beigetragen, Defizite in der Giftberatung zu minimieren, die Zahl der Zentren zu optimieren und deren Tätigkeiten zentral zu harmonisieren und zusammenzuführen. Mitte der 1970er-Jahre wurde das von der NCPCC eingeführte Karteikartensystem in der Beratungsroutine schrittweise durch das kommerzielle, datenverarbeitungsgestützte Informationssystem „POISINDEX“ ersetzt [6, 7], das sehr frühzeitig für Personal Computer (PC) entwickelt wurde. Der Standard der US-amerikanischen Giftberatung und -dokumentation entwickelte sich schnell und war sehr effektiv:

  1. 1.

    Die freiwillige Kooperation der Hersteller mit der AAPCC und die strengen Zulassungsvorschriften der Food and Drug Agency (FDA) ermöglichten eine weitgehende Offenlegung der Zusammensetzung und Wirkung von Arzneimitteln und Chemikalien.

  2. 2.

    Aufgrund von einfach strukturierten PC-Informationssystemen wurden die Beratungskapazitäten durch Einbeziehung nichtärztlichen Personals soweit ausgebaut, dass große Anfragemengen bewältigt werden konnten.

Alles dies hat sehr frühzeitig zur Popularisierung der US-GIZ mit starker Inanspruchnahme durch die allgemeine Bevölkerung (80 % Laienanfragen) geführt [8]. Bei einer Bevölkerung von 330,4 Mio. Einwohnern in den USA wurden im Jahr 2017 insgesamt 2.115.186 Vergiftungsfälle von den 55 GIZ beraten. Das entspricht einer Zahl von 6,4 Expositionen pro 1000 Einwohnern [9].

Giftinformation in der BRD bis 1990

Nach dem Vorbild der US-amerikanischen „Poison Control Centers“ haben in den 1950er- und 1960er-Jahren auch in Deutschland toxikologisch interessierte Ärzte begonnen, Informationen zu Vergiftungen zu sammeln, um weitergehende Therapie- und Diagnostikerkenntnisse zu gewinnen.

Aus diesen Aktivitäten entwickelten sich ab 1963 die GIZ, die später auf Veranlassung des Bundesgesundheitsministeriums von den Ländern offiziell benannt wurden. So haben sie sich einen festen Platz in der Therapie und Toxikovigilanz erworben. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, stellten sie Teile oder Abteilungen von Universitätskliniken dar, erfüllten damit Aufgaben des öffentlichen Gesundheitsdienstes der Bundesländer bei akuten Expositionen und hatten oft Laboreinrichtungen. Chronische Expositionen wurden erst wissenschaftlich bearbeitet, als in den 1990er-Jahren im öffentlichen Gesundheitsdienst Umweltberatungs- und Untersuchungsstellen eingerichtet wurden.

Vom Bundesgesundheitsministerium wurde 1964 im damaligen Bundesgesundheitsamt (BGA) nach dem Vorbild des US-amerikanischen NCPCC eine Dokumentations- und Informationszentrale „Erkennung und Behandlung von Vergiftungen“ eingerichtet. Die gleichzeitig geschaffene Kommission GiKo („Erkennung und Behandlung von Vergiftungen“, später „Bewertung von Vergiftungen“) sollte die neu entstehenden GIZ mit Informationen über Produkte und die toxischen Eigenschaften der darin enthaltenen Stoffe versorgen. In den 1980er-Jahren gab es in der Bundesrepublik bis zu 19 regionale, weitgehend unabhängig voneinander arbeitende GIZ (in der ehemaligen DDR bis zur Zentralisierung insgesamt 9). Die GiKo und die GIZ stellten sich frühzeitig der Public-Health-Aufgabe, Vergiftungen zu dokumentieren mit dem Ziel, gefährliche Stoffe und Zubereitungen rechtzeitig zu erkennen, um Grundlagen für gesetzliche Vorschriften zu erarbeiten (z. B. Verpackungsrichtlinien, Anwendungsvorschriften, Verbote; [10]).

Giftinformationsdatenbank mit Produktinformationen

In Abstimmung mit den zuständigen Industrieverbänden wurde 1965/1966 ein Verfahren für die Bereitstellung von Produktinformationen für die Giftberatung unter Einschluss von Geheimhaltungsvereinbarungen festgelegt. Diese Dokumente wurden zunächst vom BGA und später von seinen Nachfolgeinstituten für die Giftinformationsdatenbank aufbereitet, die anfangs noch in Form eines Karteikartensystems geführt wurde (Mittelkarten/Stoffkarten: „Informationskartei zur Erkennung und Behandlung von Vergiftungen“). Seit 1996 werden die Daten vollständig elektronisch über das Giftinformations- und Archivierungssystem (GIFAS – Version II) an alle GIZ verteilt.

Dokumentation und Auswertung von Vergiftungen

Wie in den USA wurde erkannt, dass für eine effektive Erkenntnisgewinnung und Toxikovigilanz standardisierte Daten aus den verschiedenen Institutionen und Giftinformationszentren zusammenzutragen und wissenschaftlich auszuwerten sind. So entwickelte bereits 1972 das Deutsche Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) zusammen mit dem Giftnotruf in München eine Datenbank zur Dokumentation von Vergiftungen, die bis Ende der 1990er-Jahre als sogenannter Giftpool bzw. Indexline genutzt und verwaltet wurde [11,12,13].

Eine wesentliche Grundlage für die Dokumentation und Auswertung von Vergiftungen wurde 1990 im novellierten Chemikaliengesetz (ChemG § 16e; [14]) mit der Mitteilungspflicht für stoffbezogene Erkrankungen (Vergiftungen) für behandelnde Ärzte geschaffen. So entstand auch in Deutschland die gesetzliche Basis für ein zentrales Erfassungssystem von Vergiftungen und die Dokumentation von Produktrezepturen, die zusammen die Grundlage für Auswertungen unter Risikogesichtspunkten darstellen. Durch die engagierte Arbeit der GiKo konnte die Meldepflicht für Produktrezepturen stetig ausgeweitet werden:

  • 1990 ChemG § 16e: Meldepflicht für Produktrezepturen, die für Verbraucher gefährlich sind,

  • 1996 Kosmetika-VO § 5d: Meldepflicht für alle Kosmetika,

  • 2002 ChemG § 16e: Meldepflicht für alle Biozide,

  • 2007 Wasch- und Reinigungsmittelgesetz (WRMG) § 10: Meldepflicht für alle Wasch- und Reinigungsmittel,

  • 2012 ChemG § 16e: Meldepflicht für alle als gefährlich eingestuften Gemische,

  • ab 2020 europäische CLP-VO (Classification, Labelling and Packaging) Art. 45 – nach Vorbild der Meldungen § 16e ChemG europaweit: Meldepflicht für alle als gesundheitlich oder physikalisch gefährlich eingestuften Gemische.

Das Meldevolumen nahm stetig zu: In den 1990er-Jahren wurden ca. 2000 Karten pro Jahr an die GIZ übersandt, heute werden jährlich ca. 50.000 bis 60.000 Datensätze mit Produktinformationen elektronisch zur Verfügung gestellt. Seit Neuestem (April 2019) können derartige Produktdaten über das European Chemicals Agency (ECHA) Submission Portal for Industry an die GIZ übermittelt werden.

Giftinformation in der DDR

In der DDR entstand 1963, also zur gleichen Zeit wie in der BRD, der erste toxikologische Auskunftsdienst und zwar an der Universität Leipzig im Institut für Pharmakologie und Toxikologie. In den darauffolgenden Jahren wurden 9 toxikologische Auskunftsdienste geschaffen, zumeist an den Instituten für Pharmakologie und Toxikologie von Universitäten. Drei Dienste wurden sehr häufig kontaktiert: Berlin, Leipzig und Magdeburg [10, 15], die damals zusammen im Mittel 6 bis 8 Beratungen pro Tag vornahmen. Im Unterschied zur alten Bundesrepublik wurde die Giftberatung in der DDR auf Basis des 1977 eingeführten Giftrechtes zentralisiert. Gründe für die Zentralisierung lagen in der Sicherstellung der 24-stündigen Beratungstätigkeit, der Beschaffung und Verwaltung immer größer werdender Datenmengen, der Notwendigkeit des Datenschutzes und der aufgrund der zunehmenden Internationalisierung der DDR erforderlichen Beschaffung von Produktinformationen, auch aus dem westlichen Ausland [16].

1977 wurde der ausschließlich für die Beratung von Ärzten gedachte „Zentrale Toxikologische Auskunftsdienst (ZTA)“ gesetzlich verankert [17]. Der Dienst war dem Institut für Arzneimittelwesen zugeordnet und nicht – wie in der BRD üblich – einer Klinik angegliedert. Aufgrund der im Giftrecht der DDR [15] verankerten Meldepflicht für Produktinformationen verfügte das Zentrum über die Rezepturen aller in der DDR hergestellten und vertriebenen Produkte.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Giftinformation in der DDR lag in der Tatsache, dass sämtliche Inhaltsstoffe von Produkten offengelegt werden mussten. Meldepflichtig waren sowohl aktive und inaktive Inhaltsstoffe als auch alle als gefährlich eingestuften und alle nichteingestuften Inhaltsstoffe. Damit standen dem ZTA die vollständigen Rezepturen mit detaillierten Angaben zur Zusammensetzung für die Beratung und für wissenschaftliche Analysen zur Verfügung. Dies erlaubte, Trends im Vergiftungsgeschehen der DDR aufzuspüren und entsprechende Maßnahmen der Vorsorge zu treffen.

Am 01.01.1981 nahm der ZTA am Institut für Arzneimittelwesen der DDR seine Arbeit auf, zunächst noch parallel zur Tätigkeit der bisherigen Giftberatungszentren. Seit dem 01.01.1984 war er, mit einem 24-Stunden-Dienst, die einzige Beratungsstelle bei Vergiftungen. Seine Aufgabe bestand darin, vorrangig Ärzte bei akuten Vergiftungen oder bei Vergiftungsverdacht zu toxikologischen Fragen und zu Fragen der zu erwartenden Symptomatik und anzuwendenden Therapie zu beraten. Es bestanden sehr enge Kontakte zu klinisch tätigen Ärzten mit speziellen toxikologischen Kenntnissen und Erfahrungen in der Behandlung vergifteter Patienten, die bei besonderen medizinischen Fragestellungen als Experten beratend zur Verfügung standen. Zusammen mit diesen klinischen Toxikologen wurden vom ZTA über 300 standardisierte Therapieempfehlungen auf neuestem wissenschaftlichen Stand erarbeitet, um die Beratung der Ärzte auf entsprechendem Niveau sicherstellen zu können. Eine weitere Aufgabe des ZTA bestand neben der medizinischen Notfallberatung und der dafür notwendigen Sammlung und Bewertung von Produktinformationen auch in der Pharmakovigilanz, d. h. in der Sammlung und Bewertung von Arzneimittelnebenwirkungen und deren Weiterleitung an die Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Zwischen dem 01.01.1981 und dem 31.12.1989 wurden vom ZTA ca. 40.000 Beratungen vorgenommen, wobei 25 % der Anfragen aus dem ambulanten medizinischen Bereich und 65 % aus dem stationären Bereich registriert wurden. Bei den Beratungen waren vorrangig Kleinkinder im Alter von 1 bis 3 Jahren betroffen, im Jahr 1989 lag der Kinderanteil bei über 60 % [18, 19]. Abb. 1 zeigt die jährliche Anzahl von Anfragen beim ZTA, Abb. 2 die Anteile der Substanz- und Anwendungsgruppen, auf die sich die Anfragen jeweils bezogen.

Abb. 1
figure 1

Anzahl der Anfragen im Zentralen Toxikologischen Auskunftsdienst (ZTA) der DDR während seines Bestehens (1981–1989) pro Jahr. Ab 1984 war der ZTA die einzige Beratungseinrichtung zur medizinischen Notfallberatung von Ärzten (Zahlen für 1988 stehen nicht zur Verfügung)

Abb. 2
figure 2

Substanz- und Anwendungsgruppen, die Gegenstand der Anfragen im Zentralen Toxikologischen Auskunftsdienst (ZTA) der DDR waren. Zeitraum 1984–1989

Die Giftinformation im vereinigten Deutschland nach 1990

Nach der Wiedervereinigung wurde der ZTA zunächst unter dem Dach des BGA fortgeführt. Er wurde Ende 1993 schließlich aufgelöst, weil der Giftnotruf Erfurt im Januar 1994 als Gemeinsames Giftinformationszentrum der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen am Klinikum Erfurt GmbH eingerichtet wurde [7, 10].

Die GIZ in der vereinigten Bundesrepublik unterscheiden sich hinsichtlich Struktur, Arbeitsweise und Beratungsschwerpunkt. Sie dienen der Information und Aufklärung der Öffentlichkeit über mögliche Gefahrenquellen (Prävention) und bieten Beratung zur Therapie, Prophylaxe und möglichen Risiken von Vergiftungen an. Bei den Anrufern handelt es sich um Laien, Ärztinnen und Ärzte aus Kliniken, Rettungsdienst oder Praxis, um Personal aus Apotheken, Kindergärten, Schulen, der Polizei usw. Speziell geschulte Ärztinnen und Ärzte bieten Anrufern aus ganz Deutschland einen 24 h-Beratungsdienst an. Es wurden schon zahlreiche Versuche unternommen, einen einheitlichen Giftnotruf mit einer entsprechenden Telefonnummer wie in den USA einzuführen. Dies ist bisher aus technischen und organisatorischen Gründen nicht gelungen. Die Zahl der Beratungszentren hat sich von ehemals 9 Zentren in der DDR und 19 Zentren in der damaligen BRD auf insgesamt 8 Zentren für die gesamte Bundesrepublik reduziert (Abb. 3). Für jährliche Gesamtberatungszahlen ist man leider immer noch auf Schätzungen angewiesen (Abb. 4; [20, 21]).

Abb. 3
figure 3

Giftinformationszentren in Deutschland (Stand 2019)

Abb. 4
figure 4

Geschätzte Anzahl der Anfragen in den Giftinformationszentren (GIZ) der Bundesrepublik Deutschland (1975–2017). Ergebnisse aus Umfragen in den GIZ. Bis 1989: nur damalige BRD, ab 1990: vereinigtes Deutschland. (blau: grobe Schätzungen, grün: Schätzungen hoher Qualität (Giftinformationszentren Deutschland [20]), schwarz: sehr grobe Schätzung, da weiterhin keine regelmäßigen Jahresberichte aller deutschen GIZ vorliegen)

Giftinformationszentren in der Bundesrepublik Deutschland

Die folgenden Informationen sind aus den Homepages [20] bzw. aus Jahresberichten der GIZ [21] übernommen worden.

Giftnotruf Berlin

Der Giftnotruf wurde als Beratungsstelle für Vergiftungserscheinungen am 25.03.1963 in der Städtischen Kinderklinik Charlottenburg ins Leben gerufen. Er wurde später Teil der Universitätskinderklinik, dann organisatorisch dem Bezirksamt zugeordnet und stand ab 2003 unter der Trägerschaft des Berliner Betriebes für Zentrale Gesundheitliche Aufgaben. 2012 wurde der Giftnotruf in die Charité Universitätsmedizin Berlin integriert.

Toxikologische Fragestellungen in Schwangerschaft und Stillzeit wurden 1987 aus der allgemeinen Notfallberatung ausgegliedert als Beratungsstelle für Embryonaltoxikologie der Charité Universitätsmedizin Berlin (Embryotox). Der Giftnotruf berät ausschließlich telefonisch über 24 h, auch für das Land Brandenburg. Zur täglichen Arbeit gehören, wie in allen GIZ, neben der Beratungstätigkeit die kontinuierliche Aktualisierung der Beratungsunterlagen und die Nachverfolgung und Auswertung von Vergiftungsfällen. Die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit im Giftnotruf Berlin wurden im Lehrbuch „Vergiftungen im Kindesalter“ (4. Auflage) veröffentlicht [22].

GIZ Bonn

Die Informationszentrale gegen Vergiftungen in Bonn wurde 1967 am Zentrum für Kinderheilkunde an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn gegründet und berät seit dieser Zeit rund um die Uhr bei Vergiftungsunfällen im Kindes- und Erwachsenenalter. Sie wird vom Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit Nordrhein-Westfalen finanziert.

GIZ Erfurt (GGIZ)

Das Gemeinsame Giftinformationszentrum der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen (GGIZ) wurde im Januar 1994 am Klinikum Erfurt GmbH eingerichtet und nach deren Umwandlung am HELIOS Klinikum weitergeführt. Das GGIZ arbeitet eng mit den anderen Giftinformations- und Behandlungszentren, der Gesellschaft für Klinische Toxikologie (GfKT) und dem Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) zusammen. Der Nachtdienst wird im täglichen Wechsel mit dem GIZ-Nord (Göttingen) und dem GIZ Freiburg durchgeführt.

GIZ Freiburg (VIZ)

Die bereits 1968 gegründete Vergiftungs-Informations-Zentrale (VIZ) Freiburg wurde 2001 vom Land Baden-Württemberg gemäß § 16e des Chemikaliengesetzes als zuständiges Giftinformationszentrum benannt. Die VIZ ist dem Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin des Universitätsklinikums angegliedert. Ein Schwerpunkt in der Beratung sind Vergiftungen im Kindesalter, Drogennotfälle und Suizidversuche von Jugendlichen und Erwachsenen.

GIZ-Nord Göttingen

Das Giftinformationszentrum-Nord (GIZ-Nord) ist seit 1996 das von den Trägerländern Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein offiziell benannte Beratungszentrum für die Diagnose und Behandlung von Vergiftungen. Es ist seit 2005 mit dem klinisch-toxikologischen Labor zum Pharmakologisch-toxikologischen Servicezentrum (PTS) der Universitätsmedizin Göttingen zusammengefasst. Im klinisch-toxikologischen Labor werden toxikologische Analysen für Patienten des Universitätsklinikums Göttingen und räumlich nahe gelegener Krankenhäuser durchgeführt.

GIZ Homburg-Saar

Die Gründung erfolgte 1967 an der Universitätskinderklinik mit Erfahrungen der Kinderklinik der Freien Universität Berlin. Für einen schnellen Zugriff auf die gesammelten Daten und eine gezielte Auswertung wird dort jede Vergiftungsanfrage zeitnah zum Anruf elektronisch dokumentiert.

GIZ Mainz

Das Giftnotrufzentrum für die Länder Rheinland-Pfalz und Hessen besteht seit 1964. Es befindet sich am Universitätsklinikum Mainz und bildet mit der internistischen Intensivstation eine Einheit. Patienten mit schweren oder komplexen Vergiftungen werden übernommen und können direkt durch das ärztliche Personal des GIZ behandelt werden. Alle Vergiftungsfälle werden schriftlich dokumentiert, in einer Datenbank (ADAM) erfasst und mittels eines schriftlichen Follow-up-Systems auch nachverfolgt. Dieses System wird mittlerweile von verschiedenen GIZ (Bonn, Homburg, Freiburg) verwendet. Im GIZ Mainz steht inzwischen eine umfassende toxikologische Datenbank mit über 500.000 Falldokumentationen (Stand 2015) zur Verfügung, welche im Rahmen der Qualitätssicherung durch regelmäßige Auswertungen und Analysen wichtige Informationen, Grundlagen und neue Erkenntnisse zur toxikologischen Bewertung der verschiedensten Giftstoffe liefert.

Giftnotruf München

Im Jahr 1963 entstand am Klinikum rechts der Isar in München in der II. Medizinischen Klinik die erste Klinisch-Toxikologische Spezialabteilung Deutschlands mit toxikologisch-interner Normalstation sowie Intensivstation, toxikologischer Ambulanz und Labor. Der Giftnotruf München war von Anfang an ein fester Bestandteil der Toxikologischen Abteilung, deren therapeutische Arbeiten in einem vielbeachteten Lehrbuch zusammengetragen sind [23]. Die Träger des Giftnotrufes München sind die Technische Universität München und das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst.

Gemeinsame Arbeiten an einem Informations- und Dokumentationsverbund

In der Zusammenarbeit der GIZ mit verschiedenen Bundesinstitutionen wurden bereits große Fortschritte bei der Verbesserung der Infrastruktur, der adäquaten Therapie und der Abschätzung des Vergiftungsgeschehens in Deutschland gemacht (Tab. 1). Die Nutzung des Datenbanksystems ADAM des GIZ Mainz konnte ausgeweitet werden. Arbeiten an einem leistungsfähigen nationalen System, so wie es in den USA, der Schweiz, Schweden und in den Niederlanden vorhanden ist, dauern aber bis zum heutigen Tage an.

Tab. 1 Gemeinsame Aktivitäten der Giftinformationszentren (GIZ) und verschiedener Bundesinstitutionen in der nationalen Kommission GiKo zur Verbesserung der Infrastruktur, der adäquaten Therapie und zur Abschätzung des Vergiftungsgeschehens in Deutschland. Exemplarische Darstellung [3]

Die wesentliche Basis für die harmonisierte Dokumentation, einen effizienten Datenaustausch von Stoffen, Produktrezepturen und Fällen wurde durch zwei größere, aus Bundesmitteln finanzierte Forschungsvorhaben von etwa 1990 an geschaffen. Im ersten Forschungsprojekt EVA (Erfassung der Vergiftungsfälle und Auswertung in den Giftinformations- und Behandlungszentren für Vergiftungen in der Bundesrepublik Deutschland, 1991 bis 1995; [24]) stand die Einführung einer standardisierten Falldokumentation im Vordergrund, im zweiten Projekt TDI (Toxikologischer Dokumentations- und Informationsverbund, 1999 bis 2006; [25,26,27]) waren es Elemente und Technik der Produktstandardisierung. Das Forschungsprojekt EVA kann als Beginn der Umstellung der Falldokumentation auf die elektronische Datenverarbeitung auf breiter Basis verstanden werden, mit dem Ziel einer weitgehenden Harmonisierung der Informationssysteme zwischen den GIZ und den BGA-Nachfolgeinstituten. An dem Forschungsverbund waren zunächst die vier GIZ Berlin, München, Mainz und Freiburg sowie das BGA beteiligt [24, 28]. Ausgangspunkt für das Vorhaben waren die immer noch bestehenden Dokumentationsdefizite bei Vergiftungen in Deutschland [29].

Das Folgeforschungsprojekt TDI hatte eine große Bedeutung für die Zusammenarbeit von BfR, den deutschen GIZ und der deutschen Industrie [26]. Es ging um die Entwicklung standardisierter Datenaustauschformate und -protokolle als Basis für den Transport von Produktrezepturen. Das wesentliche Projektziel waren der Aufbau einer leistungsfähigen zentralen Produktdatenbank im BfR und die Versorgung der GIZ mit den Informationen zu industriell hergestellten Produkten für die Beratungstätigkeit. Das TDI-Projekt wurde 2006 abgeschlossen. Neben den Fortschritten in der Produktdokumentation liegt nunmehr auch ein einheitliches Kategoriesystem zur Beschreibung der bestimmungsgemäßen Verwendung der Produkte vor, welches das erste im Forschungsvorhaben EVA erarbeitete Verwendungskategoriesystem ergänzt und vervollständigt [25,26,27]. Neben den beiden großen Forschungsvorhaben (EVA, TDI) sind auch bedeutende Fortschritte bei der harmonisierten Dokumentation von exemplarischen Kasuistiken bei Vergiftungen entsprechend dem US-amerikanischen National Poison Data System (NPDS) gemacht worden [29]. Für die exakte Dokumentation eines wissenschaftlich bedeutenden Vergiftungsfalles (Todesfall, seltene Vergiftung, Vergiftung mit einem sehr toxischen Stoff, Erstvergiftung mit einem neu produzierten Stoff, Fallserien nach komplexer Exposition nach Industriestörfällen/Umweltbelastungen u. v. m.) reichen Daten eines Kerndatensatzes zur wissenschaftlichen Analyse oft nicht aus. Dazu bedarf es einer weiteren Dokumentation in einem strukturierten Freitextformat, wie sie z. B. in den NPDS-Jahresberichten oder zukünftig auch bei Dokumenten im Rahmen der Zulassung bestimmter chemischer Stoffe oder Produkte verwendet werden.

Diskussion

Seit Ende der 1970er-Jahre wurden in der Bundesrepublik Deutschland Anstrengungen unternommen, um eine gesetzliche Grundlage für die Dokumentation und Auswertung von Vergiftungen zu schaffen. Aufgrund ihrer politischen Struktur war die DDR frühzeitig in der Lage, eine zentrale Institution zur Vergiftungsberatung und Auswertung des Vergiftungsgeschehens zu schaffen.

In beiden deutschen Staaten gab es Anstrengungen, von chemischen Stoffen ausgehende Gefahren zu mindern und neue Erkenntnisse zur Diagnostik und Behandlung von Vergiftungen zu gewinnen. Wesentliche Vorarbeiten erfolgten in der BRD schon in den 1980er-Jahren mit verschiedenen Forschungsvorhaben, die letztlich alle wichtigen Voraussetzungen für die Installation eines dem NPDS vergleichbaren Systems erarbeiten sollten. Eine wichtige Erkenntnis aus diesen Bemühungen war, dass neben ausreichenden technischen und finanziellen Voraussetzungen vor allem praktische toxikologische Erfahrungen notwendig sind, um im Einzelfall auf der Basis vorliegender Daten eine Risikobewertung vornehmen zu können. Diese praktischen Erfahrungen sind in den deutschen GIZ vorhanden. Hier werden die eingehenden Daten überprüft und von medizinisch-toxikologisch erfahrenem Personal ein intensives Follow-up durchgeführt. Mit Fehlern behaftete Daten müssen frühzeitig als solche erkannt und korrigiert werden, um zuverlässige Auswertungen zu erlauben. Das sind Arbeiten, die nicht durch Computer geleistet werden können.

Anfangs lag das Interesse der Giftberatung und Giftdokumentation darin, die Beratung in den GIZ durch das Sammeln und vornehmlich noxenbezogene Ablegen von (hauptsächlich akuten) Vergiftungsfällen für Referenzzwecke zu verbessern. Deshalb entwickelte jede Einrichtung ihr eigenes, in Qualität und Vollständigkeit sehr heterogenes Dokumentationssystem. Die notwendigen Schritte für eine Vereinheitlichung der Dokumentation (gemeinsame Monografien, Beratungsempfehlungen, Kategorisierung u. v. m.) wurden erst auf Initiativen des damaligen BGA, der eingesetzten Kommission, der Arbeitsgemeinschaft Giftnotruf e. V. (AGGN), besonders dann durch die Gesellschaft für Klinische Toxikologie e. V. (GfKT) unternommen und damit die notwendigen Voraussetzungen für wissenschaftliche Auswertungen geschaffen [28, 30].

Fazit

Die acht deutschen GIZ, die BfR-Kommission „Bewertung von Vergiftungen“ mit ihrer „Erfassungs- und Bewertungsstelle § 16e“ und die Gesellschaft für Klinische Toxikologie e. V. haben seit der Wiedervereinigung große Schritte hin zu einer einheitlichen Dokumentation, einer adäquaten Behandlung von Vergiftungen und einer wissenschaftlichen Auswertung des Vergiftungsgeschehens in Deutschland unternommen. Erfahrungen aus der eigenen Beratungstätigkeit in verschieden Zentren über lange Jahre zeigen, dass ein Großteil der Beratungen mit einer effektiven Hilfe für den anrufenden Arzt oder Laien mittlerweile innerhalb von 3–5 min abgeschlossen werden kann. Im Zeitalter der absoluten telefonischen Erreichbarkeit stellt dies eine kaum zu übertreffende Hilfe im Vergiftungsfall dar. Die Beratungstätigkeit und die Qualität der Behandlung von Vergiftungen stehen auf einem weltweit geachteten hohen Niveau. Das zeigen nicht nur die vielen wissenschaftlichen Beiträge (z. B. Toxikovigilanzstudien) auf den internationalen Kongressen der European Association of Poison Centres an Clinical Toxicologists (EAPCCT; [31]) bzw. dem North American Congress of Clinical Toxicology (NACCT; [32]), sondern auch zwei deutsche, viel genutzte Standardwerke zur Behandlung von Vergiftungen [22, 23].

Deutsche GIZ erbringen eine sehr fachspezifische medizinische Leistung und therapeutische Versorgung und tragen zur Risikoerkennung und -minimierung bei. Dies gilt insbesondere bei Vergiftungen im Kindesalter. Trotzdem wird dieser spezielle Teil der Krankenversorgung immer noch nicht ausreichend honoriert, obwohl der monetäre Nutzen (Vermeidung unnötiger Arztbesuche, Krankenhausbehandlungen, falscher Therapie) und der Wert der GIZ bei der adäquaten Gesundheitsversorgung bereits 1991 durch eine erste systematische Auswertung des Vergiftungsgeschehens dargestellt werden konnte [33]. Dies wird bis heute in der Gesundheitsversorgung nicht ausreichend berücksichtigt.

Mit entsprechender technischer und personeller Ausstattung auf gesetzlicher Basis ist es heute möglich, das Vergiftungsgeschehen in Deutschland umfassend, richtig und repräsentativ zu dokumentieren und damit für eine regelmäßige Gesundheitsberichtserstattung verfügbar zu machen. Die Grundlagen und technischen Voraussetzungen sind – auch in internationaler Hinsicht – in vielfacher Weise geschaffen worden. Der bestehende politische Auftrag, ein nationales Monitoring zum Vergiftungsgeschehen zu errichten, kann hier für eine Toxikovigilanz in Deutschland wegweisend sein, vergleichbar mit der etablierten Pharmakovigilanz, die unerwünschte Nebenwirkungen von Arzneimitteln systematisch und erfolgreich erfasst.