Hintergrund und Fragestellung

Ein Drittel der aktuell tätigen Hausärztinnen und Hausärzte ist 60 Jahre und älter und wird innerhalb des nächsten Jahrzehnts aus der Patientenversorgung aussteigen. Nach Berechnungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) beträgt der Abgang aus der hausärztlichen Versorgung aktuell ca. 1700 Personen pro Jahr. Diese Zahl ist seit mehreren Jahren relativ stabil [1] und entspricht dem jährlichen Ersatzbedarf. Gegenüber 1700 Abgängen steht aber ein Zugang an fachärztlichen Anerkennungen im Fach Allgemeinmedizin von ca. 1350 pro Jahr (Durchschnitt 2015–2017). Diese Zahl an ärztlichen Nachwuchskräften kann somit nicht einmal den Ersatzbedarf gewährleisten. Bis 2025 ist nach Berechnungen des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVRG) von einem nicht gedeckten Ersatzbedarf von rund 20.000 Hausärzten und -ärztinnen auszugehen [2]. Brisant ist dies auch vor dem Hintergrund, dass im Jahr 2017 bereits 2600 hausärztliche KV-Sitze nicht besetzt waren [3].

In Deutschland wird die hausärztliche Versorgung als Teilbereich der vertragsärztlichen Versorgung personell aus zwei Quellen gespeist: einerseits aus der Fachgruppe Allgemeinmedizin und andererseits aus der Fachgruppe der allgemeinen inneren Medizin (auch innere Medizin ohne Schwerpunkt). Fachärzte und Fachärztinnen aus letzterer Gruppe sind gemäß § 73 (1a) Sozialgesetzbuch V (SGB V) verpflichtet, bei einer Tätigkeitsaufnahme in der vertragsärztlichen Versorgung zu entscheiden, ob sie haus- oder gebietsärztlich tätig sein wollen. Im Jahr 2017 arbeiteten ca. 56 % der vertragsärztlich tätigen Internisten ohne Spezialisierung im hausärztlichen Bereich. Sie machten damit ca. 30 % aller hausärztlich Tätigen aus [3]. Um die Problembeschreibung nicht zu komplizieren, werden die hausärztlich tätigen Internisten im Folgenden nicht weiter berücksichtigt.

Somit ist die Frage von großer Bedeutung, wie viele Ärzte und Ärztinnen in Weiterbildung (ÄiW) eine spätere hausärztliche Tätigkeit anstreben und welche Vorstellungen diese mit einer hausärztlichen Tätigkeit verbinden. Insbesondere interessiert hier die Frage nach den Folgen der künftigen „Feminisierung“ der hausärztlichen Versorgung. Diese Fragenkomplexe werden in der Studie KarMed – Karriereverläufe und Karrierebrüche bei Ärztinnen und Ärzten während der fachärztlichen Weiterbildung, die am Institut und Poliklinik für Allgemeinmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf seit 2008 durchgeführt wird, längsschnittlich untersucht. KarMed ist – soweit bekannt – bis dato die einzige prospektive und multizentrische deutsche Untersuchung zu ärztlichen Berufsverläufen in allen Fachrichtungen der Weiterbildung [4]. Die detaillierten Ergebnisse bezüglich der Weiterbildungsverläufe in der Fachrichtung Allgemeinmedizin wurden jüngst veröffentlicht [5, 6].

Methodik

Die KarMed-Studie basiert auf einer Kohorte von Studierenden im praktischen Jahr, die an sieben medizinischen Fakultäten in den Jahren 2008/09 rekrutiert und über sechs Jahre Weiterbildung, d. h. über sieben Messzeitpunkte, verfolgt wurde [4]. Von den ursprünglich kontaktierten 2107 Studierenden Im praktischen Jahr kamen 1012 Fragebögen zurück (Rücklaufquote zu T0: 48 %). Im Jahr danach (T1) wurden nur die 1009 Probanden, die ihre Einverständniserklärung für die erneute Teilnahme zurückgesandt hatten, wieder angeschrieben. Diese Prozedur wurde in den folgenden Jahren wiederholt. In den Befragungen von T1 bis T5 betrug die Rücklaufquote im Vergleich zum Vorjahr stets 85 % und mehr. In der T6-Befragung wurde „lediglich“ eine Rücklaufquote von 77 % erreicht.

Die KarMed-Ergebnisse werden in der vorliegenden Arbeit mit den Statistiken und Positionspapieren der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) und der Bundesärztekammer (BÄK) verglichen.

Für die Analysen wurden deskriptive statistische Methoden verwendet. Zur Untersuchung ausgewählter Parameter wurden lineare bzw. logistische Regressionen gerechnet. Die Datenanalysen hatten explorativen Charakter. P-Werte werden rein deskriptiv berichtet und ein p-Wert < 0,05 als Grenzkriterium für Signifikanz gewählt. Die Berechnungen wurden mit der Software IBM SPSS für Windows Version 25.0 erstellt.

Wenn im Folgenden vom „Bedarf“ an Hausärzten und -ärztinnen die Rede ist, so ist dabei zu unterscheiden zwischen:

  • Ersatzbedarf = die Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die nötig ist, um eine zu einem definierten Zeitpunkt in einem Land oder in einer Region vorgefundene Hausarztdichte (z. B. Hausärzte pro 1000 Einwohner) aufrechtzuerhalten. Es ist evident, dass eine solche Maßzahl in der Regel kleinräumigere Disparitäten nicht erfasst.

  • Zusatzbedarf = die Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die nötig ist, um personelle Defizite in der Hausarztdichte in einem Land oder einer Region zu kompensieren, um ein früheres, als erforderlich angesehenes Niveau zu erreichen.

  • Erweiterungsbedarf = die Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die nötig ist, um eine aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen zusätzlich entstandene Nachfrage nach hausärztlichen Leistungen (z. B. aufgrund der Überalterung der Bevölkerung und/oder neuer diagnostischer bzw. therapeutischer Möglichkeiten) zu befriedigen.

Alle Fragen, die mit Bedarf und Nachfrage nach ärztlichen Berufsangehörigen bzw. Leistungen zusammenhängen, sind sehr komplexer Natur [7]. Dies gilt insbesondere für die Erweiterungsbedarfe, die aber im Folgenden nicht betrachtet werden.

Die Attraktivität einer Fachrichtung in der Weiterbildung wird definiert als der Anteil derjenigen, die angaben, diese Fachrichtung zum Zeitpunkt der jeweiligen Erhebung als erste Priorität für ihre fachärztliche Anerkennung gewählt zu haben.

Ergebnisse

Demografie des hausärztlichen Bereichs

Die KarMed-Untersuchung ergab im Längsschnitt, dass die Attraktivität der Fachrichtung Allgemeinmedizin bei den ÄiW, gleich mit welchem Fachziel sie die Weiterbildung begonnen hatten, im Verlauf der Weiterbildung deutlich zunahm – von 7 % der Gesamtkohorte zu Weiterbildungsbeginn auf 11 % nach sechs Jahren (+57 %). Diese Entwicklung fand aufgrund der Veränderungen bei den Ärztinnen statt. Bei den Ärzten hingegen fand sich im Gegenteil eine leichte Abnahme der Attraktivität der Allgemeinmedizin [5].

Nach den Ergebnissen der KarMed-Untersuchung [2] sowie auch nach der Statistik der Bundesärztekammer (BÄK; [8]) gehen ca. zwei Drittel der fachärztlichen Anerkennungen in der Allgemeinmedizin seit mehreren Jahren an Ärztinnen. Gemäß den KarMed-Daten nahm die Dissoziation zwischen den Geschlechtern im Laufe der Weiterbildung immer mehr zu: Zu Beginn (T0) wurden hinsichtlich der Wunschdisziplin Allgemeinmedizin bzw. des Berufsziels „hausärztliche Versorgung“ keine signifikanten Unterschiede zwischen beiden Geschlechtern gefunden. Zwei Jahre später (T2) zeigte sich, dass Geschlecht und Fachrichtungswahl statistisch abhängig geworden waren. Nach sechs Jahren Weiterbildung (T6) wurde das Fach Allgemeinmedizin schon doppelt so häufig von Ärztinnen im Vergleich zu Ärzten bevorzugt (13 % vs. 6 %; [2]). Und Ärztinnen mit Kind wählten fast doppelt so häufig das Fach Allgemeinmedizin im Vergleich zu kinderlosen Ärztinnen [6]. Unter den künftigen Hausärztinnen lag der Anteil mit Kind zu T6 – d. h. für die Mehrzahl noch vor Abschluss der Weiterbildung – bereits bei 67 % [6].

Es wird deutlich, dass die hausärztliche Versorgung der Zukunft somit überwiegend weiblich sein wird und die überwiegende Mehrzahl der hausärztlich Tätigen schon vor Abschluss der Weiterbildung Eltern geworden sind.

Die Mehrzahl dieser Ärztinnen hat deutlich andere Vorstellungen von Arbeitsort und Arbeitsbedingungen als ihre männlichen Kollegen, die eher das traditionelle Modell einer Hausarztpraxis anstreben. Ungefähr zwei Drittel suchen eine Teilzeittätigkeit (vorzugsweise in einem Team) und ungefähr die Hälfte bevorzugt eine Anstellung anstelle einer Niederlassung [3]. Bei den Ärztinnen stehen die Lebensbedingungen der Familie bei der Präferenz für eine hausärztliche Tätigkeit im Vordergrund. Aber auch die männlichen ÄiW ziehen in Bezug auf dieses Motiv langsam nach, auch wenn diesen die finanziellen Aussichten noch wichtiger sind. Dies gilt für alle Ärzte, ob mit oder ohne Kinder [5, 6, 9,10,11]. Die Allgemeinpraxis der Zukunft dürfte sich also von einer typisch weiblichen Fachrichtung zu einer elterndominierten Disziplin bzw. einem „Familienunternehmen“ entwickeln.

Vergleichbare Tendenzen der „Feminisierung“ und „Familisierung“ des ärztlichen Personals in der hausärztlichen Versorgung finden sich in nahezu allen OECD-Staaten (z. B. Schweiz [11], Großbritannien [12], Kanada [13], Niederlande [14, 15] sowie Japan und Skandinavien [16], um nur einige zu nennen).

Es gibt für Deutschland mehrere aktuelle Studien, die die KarMed-Ergebnisse im Ganzen oder in Einzelheiten bestätigen, jedoch keine, die den KarMed-Ergebnissen widersprechen [9, 10, 17,18,19,20,21,22,23].

Im Folgenden wird untersucht, ob dieser Zuwachs an Attraktivität der Allgemeinmedizin bei den Ärztinnen bzw. bei Elternteilen in Anbetracht a) der vorliegenden Daten über den künftigen hausärztlichen Bedarf und b) der Selbstangaben der Ärztinnen über ihr künftiges berufliches Handeln in der KarMed-Studie ausreicht, um eine angemessene hausärztliche Versorgung in der Bundesrepublik zu gewährleisten. Hierzu wurde auf der Basis vorliegender Daten aus der KarMed-Studie sowie anderer Quellen, insbesondere der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und deren Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi), eine Abschätzung des zu erwartenden beruflichen Leistungsumfangs vorgenommen.

Abschätzung der Versorgungsleistung der zukünftigen Ärztinnen für Allgemeinmedizin

Welche Folgen kann die sich verändernde Professionsstruktur für die hausärztliche Versorgung haben? In Tab. 1 sind diejenigen Faktoren aufgeführt, die bei der Bestimmung des Arbeitsvolumens künftiger Hausärztinnen unter Berücksichtigung deren eigener Vorstellungen zu ihren Arbeitsbedingungen eine Rolle spielen. Die Kombination der dargestellten Faktoren ergibt eine Abschätzung, die in Abb. 1 dargestellt ist. Demnach entspräche das Vollkräftevolumen (VK) des weiblichen Nachwuchses ungefähr der Hälfte des realen Arbeitsvolumens einer mit einem Hausarzt besetzten Solopraxis. Dies bedeutet, dass bei Schätzungen des Ersatz- bzw. Mehrbedarfs an ärztlichen Arbeitskräften von einem Faktor von ca. zwei neuen Ärztinnen für eine VK alten Typs auszugehen ist. Diese Quote ist deutlich höher als die vom SVR berechnete Quote von 1:1,5 [2].

Tab. 1 Abschätzung des zukünftigen Arbeitsvolumens angehender Hausärztinnen. Einflussfaktoren und Auswirkungen
Abb. 1
figure 1

Künftiges Arbeitsvolumen in der hausärztlichen Versorgung bei Hausärztinnen. VK Vollkräfte

Gemäß der obigen Abschätzung müsste der oben beschriebene Minimumersatzbedarf von 1700 Personen pro Jahr also auf ca. 3500 steigen, wenn 75 % der künftig hausärztlich Tätigen Ärztinnen sein würden. Diese Zahl entspräche mehr als einem Drittel der gesamten Zahl an Absolventen und Absolventinnen des Medizinstudiums (n = ca. 11.200). Die Absolventenzahl, die hausärztlich tätig werden will, liegt aber real bei ca. 9–11 %.

Ein dem Ersatz- und Mehrbedarf entsprechender Anteil von Anerkennungen in der Fachrichtung Allgemeinmedizin an allen fachärztlichen Anerkennungen von ca. einem Drittel wäre in vielen OECD-Staaten keine auffällige Größenordnung. In Belgien liegt die gesetzlich vorgegebene hausärztliche Weiterbildungsquote bis 2022 bei 40–45 % der Approbierten [24], in den Niederlanden bis 2024 bei 38 % [25] und in Frankreich bei 39 % in 2018/19 [26]. In diesen drei genannten demokratischen Staaten sind diese Quoten gesetzlich vorgeschrieben. In der spezialistenorientierten Versorgungslandschaft Deutschlands jedoch würde eine solche Größenordnung als illusorisch bzw. von vielen als nahende „Katastrophe“ für die Versorgung angesehen werden.

Selbstredend handelt es sich bei den obigen Angaben um eine längst nicht alle Faktoren genau berücksichtigende Schätzung. Einige der Annahmen, die in diese Berechnung eingegangen sind, kann man dementsprechend kritisieren bzw. anders gewichten. Bei gewissen Variationen der Annahmen in der Schätzung wurden allerdings keine bedeutenden Veränderungen des Ergebnisses festgestellt.

Zehn prioritäre Lösungsansätze

Es ist bereits abzusehen, dass die Sicherstellung der hausärztlichen Versorgung zunehmend zum gesellschaftlichen Problem werden wird. Die ersten Insuffizienzzeichen füllen schon die Spalten der regionalen Tageszeitungen und bestimmen zunehmend die Aktivitäten der Kassenärztlichen Vereinigungen. Eine Vielzahl von Instrumenten ist bereits im Umlauf: Werbekampagnen bei Studierenden, finanzielle Niederlassungsbeihilfen, „Landarztquoten“ bei der Zulassung zum Medizinstudium etc. Auffällig ist jedoch, dass an zwei Faktoren nicht gerüttelt wird:

  • Die Bedingungen der Weiterbildung Allgemeinmedizin haben sich in der 2018 verabschiedeten neuen Muster-Weiterbildungsordnung der BÄK im Vergleich zu ihrer Vorgängerin 2003/2011 nicht wesentlich geändert. Es dürfte also bei der real übermäßig langen Weiterbildung von 9–11 Jahren bleiben [5]. Zynisch gesprochen: Eine effektivere Möglichkeit, sich der Feminisierung des ärztlichen Berufes zu widersetzen, lässt sich nicht denken. Fordern statt Fördern ist weiter angesagt. Alle (gesetzlichen) Maßnahmen zur Förderung der Weiterführung bzw. Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit von Frauen, aber auch solche, die die Rollenbilder von Mann und Frau und die damit zusammenhängenden Gleichstellungsfragen im privaten Bereich fördern, werden diese Hürde nicht beseitigen.

  • Der Primat der Freiheit bei der Berufsentscheidung, soweit dies im Rahmen der GKV-Bedarfsplanung möglich ist. Dies hat zur Folge, dass es beim Ärzteangebot deutliche fachspezifische und regionale Ungleichheiten gibt. Das Problem ist aber nicht nur numerisch, sondern auch inhaltlich: Ärzte und Ärztinnen können sich „spezialisieren“, d. h. nicht (mehr) die ganze Breite der Fachrichtung anbieten, sondern Teil- und Sonderangebote (z. B. Allergiebehandlung und Ernährungslehre in der Kinderheilkunde bzw. Naturheilverfahren und Psychotherapie in der hausärztlichen Versorgung). Auch können sie die Inanspruchnahme ihrer Praxen auf vielfältige Weise steuern.

Wenn die hausärztliche Versorgung mit qualifiziertem Personal weiterhin als gesellschaftliche Notwendigkeit begriffen wird [27,28,29,30], können nur noch Maßnahmen helfen, die diese beiden bisher „unberührbaren“ Grundsätze tangieren. Es ist spätestens jetzt notwendig, grundlegendere und nachhaltigere Maßnahmen zu ergreifen als bisher. Die Versorgungsstrukturen, das aktuelle Personalrekrutierungskonzept und die Aus- bzw. Weiterbildung gehören gemeinsam auf den Prüfstand. Die für die Allgemeinmedizin zuständigen Organisationen (DEGAM und Hausärzteverband) sollten schonungslos die aktuelle innere Verfassung der hausärztlichen Versorgung – auch im Vergleich mit unseren Nachbarländern – beschreiben und die daraus abzuleitenden Vorschläge mit Nachdruck im öffentlichen und politischen Raum vertreten. So lange aber das Bewahren und Beschönigen [31, 32] im Vordergrund stehen, wird die Ausdünnung des hausärztlichen Angebots voranschreiten, bis dieses verblasst und der Nostalgie anheimfällt.

In weitgehender Übereinstimmung mit einer Studie von Norbert Schmacke aus dem Jahr 2013 [33] müsste in Richtung der folgenden 10 Maßnahmen gedacht werden.

1. Einführung eines Primärarztsystems

Beim Primärarztsystem schreibt sich jeder Versicherte bei einem Hausarzt ein und der Zugang zu Spezialisten wird über den Hausarzt geregelt [34]. Ohne eine solche Regelung würde die Mixtur von Primär- und Sekundärversorgung durch niedergelassene Spezialisten weiter angetrieben, was vermutlich zu mehr spezialistischer Diagnostik und Therapie sowie Weiterüberweisungen unter Spezialisten führt, die den Patienten nur zu einem kleinen Teil nutzen. Über- und Fehlversorgung sowie Ressourcenvergeudung wären/sind die Folgen [35,36,37,38]. Die beobachteten langen Wartezeiten bei Spezialisten würden im Übrigen verschwinden, wenn deren Tätigkeit auf Patienten beschränkt sein würde, die die Qualifikation von Spezialisten wirklich brauchen. Als Beispiel kann die Inanspruchnahme der Pädiater durch latent überforderte Eltern bei alltäglichen Erkrankungen ihrer Kinder gelten. Die Einführung eines Primärarztsystem würde allerdings eine intensive Aufklärung im Sinne einer Darstellung des Nutzens eines gegliederten Versorgungssystems für die Patienten und für die Gesellschaft seitens Politik, Kostenträger und Ärzteverbände voraussetzen.

2. Verbindlichkeit des hausärztlichen Leistungskatalogs

Es braucht eine verbindliche Definition der hausärztlichen Tätigkeit im Sinne der Festlegung eines Minimumportfolios an hausärztlichen Leistungen, die in allen hausärztlichen Praxen qualifiziert und in einem ausreichenden Stundenumfang angeboten werden. Das Erlernen dieses Leistungsspektrums müsste in der Weiterbildung (vgl. Lösungsansatz Nr. 9) sichergestellt werden. Dies wäre eine Garantie gegenüber den Versicherten. Die Berechtigung zur hausärztlichen Tätigkeit wäre somit nicht mehr automatisch an das Zertifikat „Facharzt bzw. Fachärztin für Allgemeinmedizin“ gekoppelt. Eine solche Definition des Leistungsspektrums hätte auch Konsequenzen für die Bedarfsplanung (siehe Vorschlag 4.8).

3. Multiprofessionelle Zentren der Primärversorgung

Durch die Schaffung moderner Angebotsstrukturen im Sinne von multiprofessionellen Zentren der Primärversorgung könnte den Vorstellungen der jüngeren Generation Rechnung getragen werden. Die überwältigende Mehrheit der künftigen hausärztlichen Fachkräfte (Hausärztinnen, aber auch zunehmend Hausärzte) strebt Teilzeit- und andere Formen flexibler Arbeitszeiten an, möchte in einem Team von angestellten Kolleginnen und Kollegen arbeiten und Möglichkeiten der Kommunikation und Fortbildung innerhalb der Arbeitszeit nutzen. Die Entwicklung der Informationstechnologie könnte die Kommunikation untereinander, das gemeinsame Lernen sowie auch eine Flexibilisierung der Arbeitsorte (Homeoffice) und -zeiten ermöglichen.

Diese Bedingungen sind mit den vorherrschenden Praxen mit maximal zwei Inhabern in der Regel nicht realisierbar. Hierbei würde es sich um Zentren handeln müssen, die Behandlung „aus einem Guss“ anbieten, d. h. hausärztliche Versorgung, Basisversorgung von Spezialdisziplinen (Augenheilkunde, Gynäkologie, Pädiatrie etc.) ebenso Pflege- und Physiotherapieleistungen sowie Case-Management. Als Beispiel für Deutschland können die „maisons de santé pluridisciplinaires“ (MSP) in Frankreich gelten [39].

Der Vergleich verschiedener ausländischer Konzepte zeigt, dass es eine Vielzahl von Umsetzungen gibt, die den jeweiligen regionalen Gegebenheiten angepasst sind [39,40,41,42,43]. Wenn es künftig an immer mehr Orten immer weniger hausärztliche Praxen geben wird, werden die Entfernungen zwischen Patientenwohnung und hausärztlicher Versorgungseinrichtung zunehmen. Aufgefangen werden kann dieses Problem dadurch, dass die kranken Menschen zu den primärversorgenden Zentren gebracht und zurückgebracht werden, was abgestimmte, intelligente Verkehrsbestellsysteme und Terminplanungen voraussetzt. Umgekehrt können auch digitalisierte mobile Dienste Abhilfe leisten. Es ist denkbar, dass die kommende Digitalisierung des Verkehrs hierfür bald praktikable Angebote vorstellen wird. Ein spezielles Problem dürfte die Rekrutierung von ärztlichem Personal in dünner besiedelten Regionen werden. Hierzu hat der SVRG vorgeschlagen, leistungs- und qualitätsabhängige „Landarztzuschläge“ einzuführen [44].

4. Einsatz nichtärztlicher Gesundheitsberufe

In solchen Zentren der Primärversorgung sollten auch qualifizierte Pflegekräfte und Personen aus anderen Heilberufen für ambulante Aufgaben eingesetzt werden, für die ärztliches Personal nicht unbedingt erforderlich ist (z. B. Anteile von Patientenberatung bzw. Betreuung von DMP-Patienten, Case-Management, Praxismanagement, Dokumentation). Die (wenigen) Ärzte und Ärztinnen sollen sich auf das medizinische Kerngeschäft konzentrieren können [45,46,47]. Die hierzulande geführte Diskussion um Delegation versus Substitution wird dann obsolet, weil in solchen kooperativen Zusammenhängen qualifiziertes Krankenpflegepersonal autonome Entscheidungen treffen kann, selbstverständlich in Abstimmung mit dem hausärztlichen Personal. Das Umsetzungsproblem dabei ist, dass solche Aufgaben einen Fachhochschulabschluss voraussetzen und Pflegekräfte für eine solche ambulante Tätigkeit in Deutschland bisher kaum ausgebildet werden.

5. Effektive ärztliche Personalrekrutierung und -steuerung

Die aktuell fehlende Regulierung der „Produktion“ von Fachärztinnen und Fachärzten wird bis dato kaum als Problem beschrieben. Es gilt das Prinzip der Freiheit der Wahl der Facharztsparte, vorausgesetzt man findet eine entsprechende Stelle bei einem Weiterbildungsbefugten. In diesem liberalen Modell gibt es de facto eine enge Relation zwischen der Zahl der disziplinspezifischen Stellen für ÄiW in den Krankenhäusern und der Größe des fachärztlichen Angebots in anderen Sektoren der Versorgung, insbesondere im ambulanten Bereich, soweit die Bedarfsplanung dies zulässt (vgl. Lösungsvorschlag Nr. 8). Dieser allgemeine Zusammenhang wird in Abb. 2 dargestellt.

Abb. 2
figure 2

Zusammenhang zwischen Produktion von Fachärztinnen und -ärzten im Krankenhaus sowie Tätigkeitsmöglichkeiten nach der fachärztlichen Anerkennung

6. Aufgabenbezogene Qualifizierung der Vertragsärzte und -ärztinnen

Das in Abb. 2 dargestellte „Überlaufmodell“ führt dazu, dass die Krankenhausspezialisten, die irgendwann (siehe Lösungsvorschlag Nr. 7) in der ambulanten Versorgung landen, dort mit einer Morbidität und mit Problemstellungen konfrontiert werden, für die sie einerseits unter-, andererseits über- bzw. fehlqualifiziert sind. Überzeichnet gesprochen: Die Bevölkerung ist „leider“ nicht genügend schwer krank, um alle diese Spezialisten adäquat einzusetzen. Aus diesen Gründen müssen viele niedergelassene Spezialisten in großem Umfang de facto hausärztliche Versorgung betreiben. Das Beispiel der Orthopädie möge genügen: Die häufigsten ambulanten Konsultationsanlässe in dieser Fachrichtung verteilten sich (in 2015) wie folgt (Mehrfachnennungen möglich): Rückenschmerzen (41 %), angeborene Deformitäten der Füße (19 %), Arthrose des Kniegelenks (16 %) und Arthrose der Wirbelkörper (15 %; [52]). Für diese Art von Beschwerden wird in vielen Ländern kein Bedarf an niedergelassenen Orthopäden gesehen, für solche ist allein der Hausarzt zuständig und qualifiziert. Für vergleichbare Verhältnisse in anderen Disziplinen reicht ein Blick in die ICD-Diagnoselisten der vertragsärztlichen Versorgung [48].

7. Quotierung des Zugangs zur Spezialistenweiterbildung

Zu einer effektiveren Personalsteuerung ist eine Quotierung des Zugangs zur Spezialistenweiterbildung unausweichlich. Weder Staat noch Kostenträger noch Ärzteverbände fühlen sich bisher für die Frage zuständig, wie viele Spezialisten in den unterschiedlichen Fachrichtungen „produziert“ werden. Deutschland ordnet diese Frage – im Gegensatz zu vielen Nachbarländern – der Freiheit der Berufswahl unter. Eine Alternative sind Quoten für einzelne bzw. für alle Fachrichtungen [24,25,26], wie z. B. in Frankreich, wo die vorab festgelegten Bedarfszahlen pro Disziplin und Region aufgrund des Rankings nach einem nationalen Examen („concours“) vergeben werden.

Das künftige Angebot an Ärzten und Ärztinnen sollte in erster Linie aus Berechnungen über den Bedarf an den diversen Disziplinen in den verschiedenen Versorgungssektoren abgeleitet werden. Es gibt kein Grundrecht auf eine Berufsausübung als ärztlicher Spezialist, wohl aber eines der Bevölkerung auf eine auch regional ausgewogene ärztliche Versorgung.

Seit Jahrzehnten [49] wissen wir, dass die Steuerung über die subjektive Nachfrage zu dem Missverhältnis von ca. 10 % Hausärzten und 90 % Spezialisten führt [1,2,3]. Im Übrigen kann nur über eine nationale Steuerung das ärztliche Personal für die hausärztliche Versorgung sowie auch für andere Fachsparten und Sektoren (Psychiatrie, Chirurgie, Arbeitsmedizin, Geriatrie, Medizin der Bundeswehr, öffentliches Gesundheitswesen etc.) sichergestellt werden.

8. Bedarfsplanung mit regionaler Verteilungswirkung

Es ist davon auszugehen, dass die ca. 11.500 jährlich neu anerkannten Fachärztinnen und Fachärzte (ohne Allgemeinmedizin) letztendlich das Krankenhaus verlassen (müssen), wenn sie nicht eine leitende Stelle oder eine andere unbefristete Stelle im Krankenhaus erhalten. Weil fachärztliche Arbeitsmöglichkeiten außerhalb von stationärer und vertragsärztlicher Versorgung sehr begrenzt sind, ist es naheliegend anzunehmen, dass die neu anerkannten Fachärzte und -ärztinnen in die vertragsärztliche Versorgung drängen werden. Zwar ist das Resultat dieses Drängens durch die Kassenärztliche Bedarfsplanung begrenzt [50], die – im Prinzip – Niederlassungen nur noch in Fachsparten und Regionen zulässt, die unterversorgt sind. Dennoch ist die Zahl der Fachärzte und Fachärztinnen in der vertragsärztlichen Versorgung gemäß BÄK-Statistik von 1990 bis 2016 um 65 % gestiegen (= + 16.000 „Köpfe“). An der Nachwuchsproblematik in der hausärztlichen Versorgung hat die bisherige Bedarfsplanung kaum etwas geändert [51].

9. Reform der allgemeinmedizinischen Weiterbildung

Eine grundlegende Reform der allgemeinmedizinischen Weiterbildung im Sinne einer Verkürzung und Flexibilisierung und einer stärkeren Ausrichtung an den erforderlichen Kompetenzen für die hausärztliche Arbeit erscheint in diesem Kontext dringend notwendig. Die postgraduale Ausbildung dauert für die Allgemeinmedizin nicht fünf Jahre, wie in der MWBO festgelegt, sondern real acht bis elf Jahre [6]. Eine derart lange Dauer ist mit den Bedürfnissen der jüngeren (weiblichen) Generation inkompatibel. Es ist auch fachlich nicht einzusehen, wenn etwa 16 Jahre (6,5 Jahre Studium und geschätzt 9,5 Jahre Weiterbildung) zur Qualifizierung für die hausärztliche Tätigkeit „benötigt“ werden. Allein schon diese Tatsache verlangt nach einer gründlichen Reform von Struktur und Inhalt der Weiterbildung. Diesbezüglich sind konkrete Vorschläge seitens des Autors in Vorbereitung.

10. Änderung der Zulassungskriterien zum Medizinstudium

Das in Vorschlag Nr. 7 beschriebene 90 %-zu-10 %-Ergebnis der Weiterbildung führt in vielen Bundesländern zu Überlegungen, eine „Landarztquote“ bei der Zulassung zum Medizinstudium vorzusehen. Unabhängig von dieser Maßnahme, die – allerdings erst langfristig – größenordnungsmäßig eine Verdopplung des Outputs an hausärztlichen Arbeitskräften (auf 20 %) führen könnte, stellt sich die Frage, warum darüber hinaus nicht noch weitere Kriterien mit gleicher Zielrichtung bei der Zulassung eingeführt werden. Die vielen internationalen Untersuchungen, die das Problem des Mangels an Ärzten und Ärztinnen in der Primary Care, vor allem in den USA, aber auch in Kanada, Neuseeland, Südafrika etc., behandeln, ergeben im Endeffekt – abgesehen von Kontextfaktoren wie Einkommenshöhe – zwei Gruppen von Faktoren, die einen Einfluss auf eine ländlich hausärztliche Berufswahl haben [52]:

  1. a)

    Persönlichkeitsfaktoren: Hierzu gehören folgende für Deutschland relevante Faktoren: in erster Linie ländliche Herkunft und Schulbildung. Dieser Faktor ist in jeder ausländischen Untersuchung der bedeutsamste. Ob ein solches Auswahlkriterium in Deutschland durchsetzbar bzw. verfassungskonform wäre, müsste geprüft werden. Weitere personenbezogene Faktoren, die in ausländischen Studien eine gewisse Wirksamkeit zeigen, sind: frühere Tätigkeit in Entwicklungsländern oder sonstige soziale Tätigkeiten, niedrigere soziale Schicht und größeres Interesse für soziale Probleme.

  2. b)

    Curriculare Spezifika: Curricula mit einer primärärztlichen Schwerpunktsetzung sowie hohe Anteile an Praktika bzw. Weiterbildungsabschnitte in ländlichen Einrichtungen (Praxen, Krankenhäuser der Grundversorgung, soziale Einrichtungen etc.) führen zu einem überproportionalen Anteil an Absolventinnen und Absolventen, die in ländlichen Regionen tätig werden.

In diesem Zusammenhang soll noch kritisch nach dem Sinn der Forderung der ärztlichen Verbände nach 10 % mehr Studienplätzen für das Fach Humanmedizin gefragt werden. Die Forderung dürfte – wenn undifferenziert gestellt – eine Reihe von Problemen (regionale Ungleichverteilungen, Hausärztemangel) eher verstärken als beseitigen, solange sie nicht mit realistischen Vorschlägen zu einer adäquaten fachlichen und regionalen Verteilung einhergeht.

Fazit

Für alle diese Vorschläge gilt selbstredend, dass sie konkretisiert und in Bezug auf Wirkung und Akzeptanz empirisch geprüft werden müssten. Die Kritik dieser Vorschläge wird vermutlich dennoch vorab an ihrem sogenannten dirigistischen Charakter ansetzen. In der Tat plädieren diese Vorschläge für den Beginn eines geordneten Planungsprozesses der Personalstruktur in der (ambulanten) Versorgung, weil den vorhersehbaren Problemen mit den bisherigen Instrumenten nicht (mehr) beizukommen sein wird. Wenn nur Maßnahmen zur „indirekten Steuerung“ angedacht werden, wird die hausärztliche Versorgung mittelfristig immer mehr ausgedünnt werden. Die obigen Vorschläge stellen aus Sicht des Autors eine letzte Möglichkeit dar, die Sicherung einer Primärversorgung, die den auch international akzeptierten Kriterien entspricht, zu gewährleisten.

Es sei im Übrigen daran erinnert, dass alle diese „Dirigismen“ in anderen europäischen demokratischen Staaten selbstverständlich sind und dort niemand ernsthaft auf die Idee käme, die „gute alte (liberale) Zeit“ wiederherzustellen.