Zusammenfassung
1894 erwarb das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg ein Instrument, welches einem Beinharnisch ähnlich sieht. Über seitliche Gewinde konnten damit steife Beine gebeugt oder gestreckt werden. Dem Ätzdekor nach zu urteilen stammt es aus der Kunstkammer Kurfürst Augusts von Sachsen (1526–1586). Ein Vergleich mit zeitgenössischen Beinharnischen legt nahe, dass die Beinschiene bereits ursprünglich als orthopädisches Instrument hergestellt wurde. Sie komplettierte die Sammlung chirurgischer Instrumente des sächsischen Regenten in Dresden. Vermutlich war der Plattenharnisch in vielen Eigenschaften eine technologische Bedingung für derartige Orthesen und Prothesen.
Abstract
In 1894, the Germanisches National Museum in Nuremberg acquired an instrument resembling a leg harness. Stiff legs could be bent or stretched with it by means of lateral threads. Judging by the etched decoration, it comes from the collection of Elector August of Saxony (1526–1586). A comparison with contemporary leg harness reveals that the piece was originally made as an orthopaedic instrument. It completed the collection of surgical instruments in Dresden. Presumably, the plate harness was a technological condition for such orthoses and prostheses in many characteristics.
Notes
Das Leder ist weich, faserig und beige, sodass es sich um sämisch gegerbtes Leder von Wildtieren handeln könnte. Eine chemische Untersuchung fand nicht statt.
Den Grundstock bildeten die gebrauchten „schlechten“ (= schlichten) Instrumente des 1577 verstorbenen Nürnberger Anatomen Dr. Volcher Coiter (Sächsisches Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden, 10024 Geheimer Rat, Loc. 8523/2, fol. 345v, dazu Nagel 2017: 22), zu denen das hier vorgestellte Instrument bedingt durch seinen Dekor jedoch nicht gehören kann.
Einen Überblick über die heute noch erhaltenen Harnische der Albertinischen Linie in Dresden bieten Schobel (1985: 19–76) und Schuckelt (2019). Zu den sächsischen Waffen der Ernestinischen Linie, welche bis zum Zweiten Weltkrieg auf der Wartburg ausgestellt waren, vgl. Diener von Schönberg (1912). Weitere Stücke des Hauses Sachsen-Weimar befinden sich etwa in den Kunstsammlungen der Veste Coburg (Geibig 2009: 24f. und Tafel 1) und im GNM (Inv.-Nr. W3065, siehe dazu Neuhaus 1937).
Literatur
Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums (1894 H. 5).
Armor and Arms mainly European, XV–XVII century. 1928. New York: American Art Association.
Becher, Charlotte, Ortwin Gamber und Walter Irtenkauf 1980. Das Stuttgarter Harnisch-Musterbuch 1548–1563. Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien (76): 7–96.
Bernt, Walther 1977. Altes Werkzeug. 2. Aufl. München: Callwey.
Bimbenet-Privat, Michèle (Hg.) 2012. Le banc d’orfèvre de l’électeur de Saxe. Les cahiers du musée national de la Renaissance. Bd. 8. Paris: Réunion des Musées Nationaux – Grand Palais.
Biz, Carlo, Alessandro Brunati, Elisa Belluzzi, Pietro Ruggieri, Stefano Masiero und Maurizio Rippa Bonati 2020. Girolamo Fabrici d’Acquapendente and the Oplomochlion: The Several Applications of an Effective Rehabilitation Tool. The American Journal of the Medical Sciences (359 H. 1): 1–7.
Burns, Robert Ignatius 1972. The Medieval Crossbow as Surgical Instrument: An Illustrated Case History. Bulletin of the New York Academy of Medicine (48): 982–989.
Diener von Schönberg, Alfons 1912. Die Waffen der Wartburg. Berlin: Histor. Verl. Baumgärtel.
Döring, Oscar 1901. Des Augsburger Patriciers Philipp Hainhofer Reisen nach Innsbruck und Dresden. Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Neuzeit N. F. Bd. 10. Wien: Graeser.
Forrer, Robert 1900–1902. Karl Gimbel †. Zeitschrift für historische Waffenkunde (2): 391–393.
Gazzaniga, Valentina und Silvia Marinozzi 2015. Ortopedia e protesi nella chirurgia di Girolamo Fabrizio d’Acquapendente. Giornale Italiana di Ortopedia e Traumatologia (41): 41–45.
Geibig, Alfred 2009. Gefährlich und Schön. Eine Auswahl historischer Waffen aus den Beständen der Kunstsammlungen der Veste Coburg. 2. Aufl. Coburg: Kunstsammlungen der Veste Coburg.
Gerßdorff, Hans von 1517. Feldbůch der wundtartzney. Straßburg: Schott.
Greitermann, Bernhard und Detlef Kokegei 2018. Orthesen. In: ders. und René Baumgartner (Hg.). Technische Orthopädie. Stuttgart/New York: Georg Thieme Verlag: 60–155.
Grieb, Manfred H. (Hg.) 2007. Nürnberger Künstlerlexikon. 3 Bde. Nürnberg: Saur.
Gurlitt, Cornelius 1889. Deutsche Turniere, Rüstungen und Waffen des XVI. Jahrhunderts. Archivalische Forschungen. Dresden: Gilbers’sche Königl. Hof-Verlagsbuchhandlung.
Heide, Mareike 2019. Holzbein und Eisenhand. Prothesen in der Frühen Neuzeit. Disability History. Bd. 7. Frankfurt/New York: Campus Verlag.
Hilden, Wilhelm Fabry von 1652. Längst begehrte vollkommene Leib- vnd Wund-Artzney. Aus dem Lateinischen in hoch Teutsch Sprach vbersetzet durch Friderich Greiffen. Frankfurt am Main: Beyer.
Holländer, Eugen (Hg.) 1906. Katalog zur Ausstellung der Geschichte der Medizin in Kunst und Kunsthandwerk. Zur Eröffnung des Kaiserin-Friedrich-Hauses 1. März 1906. Stuttgart: Enke.
Kahlow, Simone 2009. Prothesen im Mittelalter – ein Überblick aus archäologischer Sicht. In: Cordula Nolte (Hg.). Homo debilis. Behinderte – Kranke – Versehrte in der Gesellschaft des Mittelalters. Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters. Bd. 3. Korb: Didymos-Verlag: 203–223.
Keil, Gundolf 2005. Ryff, Walther. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 22: 310–311.
Kellermann, Rudolf und Wilhelm Treue 1962. Die Kulturgeschichte der Schraube. 2. Aufl. München: Bruckmann.
Königer, Ernst 1958. Aus der Geschichte der Heilkunst. Von Ärzten, Badern und Chirurgen. Bibliothek des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg zur deutschen Kunst- und Kulturgeschichte. Bd. 10. München: Prestel.
Krause, Stefan 2011/2012. Der Augsburger Druckgraphiker Daniel Hopfer (1471–1536) als Waffendekorateur. Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien (13/14): 53–75.
Krause, Stefan 2015. Eine Arbeitsskizze zu einem Küriss für Kurfürst August von Sachsen (1526–1586). Waffen- und Kostümkunde – Zeitschrift für Waffen- und Kleidungsgeschichte (57 H. 1): 1–18.
Löffler, Liebhard 1984. Der Ersatz für die obere Extremität. Die Entwicklung von den ersten Zeugnissen bis heute. Stuttgart: Enke.
Marx, Barbara 2014. Auf dem Weg zur frühbarocken Kunstkammer. Eine Annäherung. In: Barbara Marx und Peter Plaßberg (Hg.). Sehen und Staunen. Die Dresdner Kunstkammer von 1640. Berlin/München: Deutscher Kunstverlag: 9–116.
Maué, Hermann 2003. Quasi centrum Europae – Europa kauft in Nürnberg. 1400–1800. Korrekturen und Ergänzungen. Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums (2003): 105–122.
Minning, Martina 2012. Die Auflösung der königlich-sächsischen Kunstkammer im Jahr 1832. In: Dirk Syndram und dies. (Hg.). Die kurfürstlich-sächsische Kunstkammer in Dresden. Geschichte einer Sammlung. Dresden: Sandstein: 152–165.
Nagel, Christine 2017. Chirurgische Instrumente. Dresdner Kunstblätter (2017 H. 2): 18–27.
Neuhaus, August 1937. Ein Prunkturnierharnisch im Germanischen Nationalmuseum. Leipzig: Haag-Grugulin.
Patijn, Maria 2014. The Medical Crossbow from Jan Yperman to Isaack Koedijck. In: Anne Kirkham und Cordelia Warr (Hg.). Wounds in the Middle Ages. Farnham u. a.: Ashgate: 197–214.
Post, Paul und Alexander von Reitzenstein 1957. Eisenätzung. In: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte. Bd. 4: 1075–1103.
Ryff, Walther 1545. Die groß Chirurgei oder volkommene Wundtartzenei. Frankfurt am Main: Egenolph.
Sachs, Michael 2001. Geschichte der operativen Chirurgie. Bd. 2: Historische Entwicklung des chirurgischen Instrumentariums. Heidelberg: Kaden.
Scalini, Mario 1996. L’Armeria Trapp de Castel Coira – Die Churburger Rüstkammer – The Armoury of the Castle of Churburg. Udine: Magnus Ed.
Schmid, Joseph 1697. Instrumenta chirurgica. 2. Aufl. Augsburg: Weh.
Schobel, Johannes 1985. Prunkwaffen: Waffen und Rüstungen aus dem Historischen Museum Dresden. 5. Aufl. Leipzig: Edition Leipzig.
Schönherr, David 1880. Ein Harnisch Erzherzog Ferdinands von Tirol in der Ambraser Sammlung. Mitteilungen der K. K. Zentral-Kommission zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und Historischen Denkmale N. F. (6): 84–89.
Schuckelt, Holger 2019. Harnische, Helme & Schilde in den Dauerausstellungen der Dresdner Rüstkammer. Schätze des Dresdner Residenzschlosses / Schloss Dresden. Bd. 3: Rüstkammer. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König.
Scultetus, Johannes 1673. Anhang vom Chirurgischen Kuraß. In: Hieronymi Fabricii von Aquapendente, Wund-Artznei […] in Teutsche Sprach übersetztet durch Johannem Scultetum. Nürnberg: Johann Daniel Tauber.
Sensfelder, Jens 2017. Die „geschraubte Armbrustwinde“: eine Sonderkonstruktion. Waffen- und Kostümkunde – Zeitschrift für Waffen- und Kleidungsgeschichte (59 H. 2): 155–186.
Spira, Freyda 2009. „Wie man schrifft vn gemalde auf stäheline eysene Waffen etzen soll“. Daniel Hopfer und die geätzte Dekoration von Rüstungen. In: Christof Metzger (Hg.). Daniel Hopfer – ein Augsburger Meister der Renaissance. Eisenradierungen – Holzschnitte – Zeichnungen – Waffenätzungen. Katalog zur Ausstellung der Staatlichen Graphischen Sammlung München 5. November 2009 bis 31. Januar 2010. Berlin/München: Deutscher Kunstverlag: 68–85.
Syndram, Dirk 2012. Die Anfänge der Dresdner Kunstkammer. In: ders. und Martina Minning (Hg.). Die kurfürstlich-sächsische Kunstkammer in Dresden. Geschichte einer Sammlung. Dresden: Sandstein: 14–45.
Syndram, Dirk und Martina Minning 2010. Die Kurfürstlich-Sächsische Kunstkammer in Dresden. Das Inventar von 1587, bearbeitet von Jochen Vötsch. Dresden: Sandstein.
Vandenbulcke, Filippo, Kevin Ashmore, Sergio Cialdella, Alberto Giuffrida, Elizaveta Kon, Maurillo Marcacci, Berardo Di Matteo 2020. The Iron Man of the Renaissance: The contribution of Girolamo Fabrizi. International Orthopedics (44): 399–402.
Vollmuth, Ralf 2001. Traumatologie und Feldchirurgie an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Exemplarisch dargestellt anhand der „Großen Chirurgie“ des Walther Hermann Ryff. Stuttgart: Steiner.
Welker, Manfred 2002. Die Reichsstadt Nürnberg, ein Zentrum des Schmiedeeisen verarbeitenden Handwerks. In: Quasi centrum Europae. Europa kauft in Nürnberg. 1400–1800. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, 20. Juni bis 6. Oktober 2002. Nürnberg: Verlag des Germanischen Nationalmuseums: 116–136.
Wickersheimer, Ernest 1964. Gersdorff, Hans. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 6: 322–323.
Witte, Wilfried 1992. Die medizinhistorische Instrumentensammlung im Kaiserin-Friedrich-Haus in Berlin (1907–1947). Zeitschrift für ärztliche Fortbildung (86): 571–583.
Wozel, Heidrun 1990. Turniere. Exponate aus dem Historischen Museum zu Dresden. 2. Aufl. Berlin: Brandenburgisches Verlagshaus.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Additional information
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Brenker, F. Ein orthopädisches Harnischinstrument zum Strecken krummer Beine aus der Dresdner Kunstkammer Kurfürst Augusts von Sachsen (1526–1586). N.T.M. 30, 89–107 (2022). https://doi.org/10.1007/s00048-022-00323-0
Accepted:
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s00048-022-00323-0