Mathematiker in der Praxis um 1800

1773 veröffentlichte der Pädagoge und Nationalökonom Johann Georg Büsch (1728–1800) ein Lehrbuch der Mathematik. Bemerkenswert ist dabei, dass er sich auf der Titelseite weder als Mathematiker vorstellte, noch beabsichtigte, Mathematiker oder Mathematiklehrer auszubilden. Er schreibe hauptsächlich „zum Nutzen derjenigen, die sich den Wissenschaften nicht ausdrücklich widmen wollen“, so Büsch, und fuhr fort:

Daß meine Arbeit überhaupt vornehmlich für Ungelehrte bestimmt sey, ist aus der Art, wie sie entstanden ist, klar. Doch ist die erste Abtheilung deren Gebrauche vorzüglich gewidmet. Ich halte es für durchaus zuträglich, der grossen Zahl derer, die in bürgerlichen Geschäften die Mathematik zu nutzen so häufige Veranlassung haben, auf eine solche Art zu Hülfe zu kommen, daß sie ohne ein zusammenhängendes Studium der ganzen Wissenschaft dasjenige, was sie am meisten brauchen, einsehen und practisch anwenden können. (Büsch 1773: ix)

Damit lässt sich für Ende des 18. Jahrhunderts festhalten, dass sowohl zwischen Arten mathematischer Kenntnisse als auch Nutzergruppen unterschieden wurde. Vor diesem Hintergrund ist von verschiedenen ‚Mathematik‘-Verständnissen auszugehen, die auf jeweils unterschiedliche Teilbereiche Bezug nahmen. Die Geschichte der Mathematik neigt immer noch dazu, hauptsächlich die gelehrte Mathematik zu untersuchen, also die wissenschaftliche und akademische Disziplin.Footnote 1 Dabei müssen wir uns vergegenwärtigen, wie fragmentarisch die mathematischen Kenntnisse des durchschnittlichen Studierenden an einer deutschen Universität tatsächlich waren. Hier kann noch einmal Büsch als ironischer Beobachter seiner Zeitgenossen herangezogen werden:

Ich bin gewiß, daß unter zehn deutschen Gelehrten, die alle wenigstens ein Collegium über die reine Mathematik gehört haben, sich kaum einer findet, der die Quadratwurzel geläufig ausziehen könnte, wenn er bey Untersuchung eines Bauanschlages es nöthig hat, oder der den Circul scharf genug zu berechnen fähig wäre, wenn er in einem Policey-Collegio, und in diesem eine Untersuchung der Landüblichen Getreide und andrer Maassen vorkömmt. (Büsch 1773: xii)

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit einer spezifischen Nutzergruppe, den mathematical practitioners.Footnote 2 In Deutschland waren dies Personen, die Mathematik beruflich im so genannten bürgerlichen Leben nutzten. In diesem Sinne geht es damit auch um die Wechselwirkungen zwischen Mathematik und anderen Bereichen (Bergbau, Mineralogie, Architektur, Kunst). Wir bewegen uns folglich im Bereich der berufsorientierten Kenntnisse und deren Vermittlung.Footnote 3 Festzuhalten ist außerdem, dass sich die Art und Weise, wie diese ‚praktische Mathematik‘ systematisch gelehrt und beruflich genutzt wurde, zwischen 1760 und 1830 grundlegend änderte.

Ab Mitte des 18. Jahrhundert begann sich das Konzept einer Mathematisierung allmählich zu etablieren; Hélène Vérin folgend verstehen wir unter Mathematisierung eine Strategie, wonach „die Mathematik […] die Entdeckung der Forschungsrichtung ermöglichen kann, um die zweckmäßigste Lösung“Footnote 4 eines technischen Problems zu finden. In diesem ersten Sinn bedeutet Mathematisierung die Verfahrensweise, ein technisches Problem ohne übermäßige Vereinfachung mathematisch auszudrücken und erfolgreich zu behandeln. Bis ins 18. Jahrhundert nutzten nur wenige Ingenieure, etwa im Festungsbau, tatsächlich mathematische Lösungsansätze. Laut Vérin „erkannten die Gelehrten die praktische Unbrauchbarkeit ihrer Wissenschaften“, wie Fallbeispiele aus dem Schiffbau oder der Hydrotechnik verdeutlichen (Vérin 1993: 357; Rammer & Steinle 2007). Daher war es bis dahin noch weitgehend neu und gewagt, eine grundlegende Mathematisierung in Anwendungsfeldern vorzuschlagen, gleichwohl sind im letzten Drittel des Jahrhunderts in verschiedenen Gebieten wie der Meteorologie, den Forstwissenschaften oder der Chemie vermehrt Versuche zu verzeichnen.Footnote 5 Diese Auffassung sollte im 19. Jahrhundert weiter an Einfluss gewinnen: „The rapid progress of the quantifying spirit during the last three decades of the Ancien Régime indicates wide social support“ (Frängsmyr et al. 1990: 22). Daneben findet sich in der Literatur des 18. Jahrhunderts ein zweiter Weg der Mathematisierung: Die mos geometricus, die wie die Euklidische Geometrie eine stufenweise Ordnung nach aristotelischer Logik vollzieht. Bei letzterer handelt es sich vor allem um eine seit dem 17. Jahrhundert philosophisch erörterte Darstellungsweise, mit der ein wissenschaftliches System formuliert und schriftlich oft in Lehrbuchform aufbereitet wurde (Arndt 1971). Eine mathematische Behandlung praktischer Problemfelder kann also einerseits zur Entwicklung und Bewertung von Lösungsszenarien und andererseits zur Systematisierung der Sachlage überhaupt beitragen – etwa um diese didaktisch vermitteln zu können.

Im frühen 19. Jahrhundert wurde der mathematische Ansatz zur Bewältigung komplexer Probleme quasi normal, und mitunter auch zu einem rhetorischen Argument in den akademischen und berufspraktischen Professionalisierungsdebatten. Mathematik wurde nach und nach zu einem wichtigen Lehrgegenstand für die berufliche Aus- und Weiterbildung, wenngleich nicht im bis dato bereits üblichen Sinne als Theorie für die Praxis, sondern als Instrument für die Alltagstätigkeit.

An Hand der Lehrmeinungen zweier Personen, Johann Andreas Scheidhauer (1718–1784) und Carl Friedrich Steiner (1774–1840), sollen hierher zwei Positionen in der Ausbildung von Praktikern exemplarisch dargestellt werden. Beide wurden in erster Linie praktisch, das heißt ‚auf dem Feld‘ ausgebildet, absolvierten in ihrer Ausbildungsphase aber darüber hinaus auch akademische Lehrkurse an Universitäten. Ihre Profession als ‚Praktiker‘ würde sie heute kaum mehr als Mathematiker ausweisen: Scheidhauer war als Bergmeister in Freiberg tätig, während Steiner Architekt in Weimar war. Sie waren beide beruflich in Verwaltungsstrukturen und in Ausbildungszweige eingebunden, die nur zum Teil institutionalisiert waren.

Scheidhauer versuchte Ende des 18. Jahrhunderts technische Aufgaben als analytische Probleme zu formulieren, zu einer Zeit als die Mathematik bei den Praktikern noch keine anerkannte Sprache war. Obwohl Universitätsprofessoren gern über praktische Mathematik schrieben (etwa zu Hydraulik oder Architektur), galt die Unbrauchbarkeit solcher Kenntnisse als offenes Geheimnis (Kühn 1988: 56–63; Rammer & Steinle 2007: 16–22). Zwei Generationen später zitierte Steiner die Mathematisierung als Arbeits- und Kommunikationssprache, eine zu diesem Zeitpunkt in den französischen Ingenieurwissenschaften etablierte Methode, doch griff zugleich nur auf das alte Darstellungskonzept zurück. Diese Entwicklungen spiegeln den Stand der mathematischen Professionalisierung, die im 18. Jahrhundert noch nicht ausgereift, aber in den 1830er bereits in vollem Gang war (Schubring: 1983). Die Professionalisierung lässt sich auch am zunehmenden beruflichen Selbstbewusstsein der Ingenieure ablesen sowie in der Gründung vieler höheren technischen Anstalten in den deutschen Staaten.Footnote 6

Dieser Artikel soll also dazu beitragen, die Entwicklung der praktischen Mathematik in einer bestimmten Phase ihrer Institutionalisierung zu verstehen. Grundsätzlich wird also danach gefragt, inwiefern sich hier Mathematisierung und Wissenschaftlichkeit einerseits als Argumente zur Legitimierung von Wissensinhalten verbinden und andererseits ihre Darstellungen mit Anwendungsbereichen. Zu vermuten sind dabei Übergangsphasen, die denen vor der Spezialisierung ein Moment der Komplexität stand, in dem sich Praxis und Wissenschaft neu zu justieren begannen.Footnote 7

Der folgende Beitrag gliedert sich in drei Teile: die Positionen Scheidhauers und Steiners werden zunächst in eigenen Abschnitten vorgestellt, bevor im dritten Teil eine Synthese versucht wird, die den Komplex ‚praktische‘ Mathematik für die Zeit um 1800 zu bestimmen sucht.

J. A. Scheidhauer: Mathematisierung und Methode im Bergbau

Johann Andreas Scheidhauer wurde 1718 im Johanngeorgenstadt (Erzgebirge) geboren.Footnote 8 Er stammte aus einer Familie von Bergbeamten: sein Vater war Bergschreiber und sein Großvater war Bergmeister in Marienberg. Über seine schulische Ausbildung ist nichts bekannt, bis er sich am 19. Mai 1738 an der Universität Leipzig einschreiben ließ (Erler 1909: 350).Footnote 9 Als Sohn eines höheren Bergbeamten war es damals üblich, Jura zu studieren, während Mathematik als eigenständiges Fach an den Universitäten noch marginal und vor allem auf das philosophische Propädeutikum beschränkt war. Den Vorlesungsnotizen in seinem Nachlass ist jedoch zu entnehmen, dass er angewandte Mathematik studiert hatte.Footnote 10 Spätestens 1743 kehrte Scheidhauer nach Johanngeorgenstadt zurück, nahm eine unbezahlte Stelle als Adjunkt seines Vaters an und wurde zwei Jahre später Vize-Bergschreiber.Footnote 11 Als sein Vater 1753 starb, übernahm er dessen Nachfolge. Es ist nicht genau bekannt, wie und bei wem Scheidhauer die ‚Markscheidekunst‘ – heute würde man die Ausübung dieser Kunst einem Vermessungstechniker im Bergbau zuweisen – gelernt hat, obwohl er anscheinend die meisten Bergwissenschaften als Adjunkt seines Vaters erlernen konnte.Footnote 12 Aus seinen Handschriften ist ersichtlich, dass er über breite wissenschaftliche Kenntnisse verfügte, und außerdem die Sprachen Latein, Französisch und Italienisch lesen und schreiben konnte. Die bescheidene Zahl erhaltener Briefe aus den 1750er Jahren zeigt, dass er gelehrte Kontakte im deutschsprachigen Raum pflegte: Ein anonymer Korrespondenzpartner aus Berlin berichtete 1751 beispielsweise in einem Brief an Scheidhauer, wie hydrodynamische Experimente über Wasserräder mit einer Maschine des Hof-Schlösser Schröders in Anwesenheit Leonhard Eulers (1707–1783) vorgestellt wurden.Footnote 13 Seine mathematische Expertise entwickelte sich vor allem seit den 1750er Jahren. Anhand seines Nachlasses ist zu verfolgen, wie er unter anderem die sphärische Trigonometrie aus einem Werk Eulers sowie die höhere Mathematik mit Hilfe einer handschriftlichen Kopie der Instituzioni analitiche der Maria Gaetana Agnesi (1718–1799) studierte.Footnote 14 Im Erzgebirge fanden seine technischen und wissenschaftlichen Fähigkeiten offensichtlich Anerkennung, da er bereits 1765 zum Bergmeister in Freiberg ernannt wurde.Footnote 15 Gerade zu dem Zeitpunkt, als die bergmännische Ausbildung 1765 mit Gründung der Bergakademie in Freiberg institutionalisiert wurde, trat Scheidhauer an die Spitze der dortigen Bergverwaltung.Footnote 16

Zuvor hatte es keine öffentliche formalisierte Ausbildung für Bergbeamte gegeben, sie hatten entweder an einer Universität studiert, oder in den meisten Fällen ein Bildungsstipendium durch die örtlichen Machthaber für die Erlernung der Markscheidekunst oder Probierkunst bei einem Ausübenden erhalten (Sennewald 2002: 407–429). Die Markscheidekunst, also die Geometria subterranea, wurde grundsätzlich auf dem Feld, das heißt während der praktischen Ausübung, vermittelt, indem ein vereidigter Markscheider seinen Nachfolger in einem Meister-Lehrlingsverhältnis unterrichtete (Morel 2015b; Morel 2017). Dieses Ausbildungsprinzip war stabil und im Einklang mit der institutionellen Lage im Erzgebirge, im Harz oder in Niederungarn (heute Slowakei). Vor allem für die Bergverwaltung war dies vorteilhaft, denn die Verbreitung des Wissens war kontrolliert und auf einen kleinen Personenkreis beschränkt, und ein Zertifikatsystem gewährleistete praktische Effizienz. Nachteilig war jedoch die dadurch bedingte einseitige Ausbildung der Aspiranten. Sie mussten keine Vorkenntnisse der Mathematik nachweisen und da so zum Beispiel die Vertrautheit mit der Infinitesimalrechnung oder sogar der Buchstabenrechnung nicht vorausgesetzt werden konnte, war die Mathematisierung technischer Angelegenheit deutlich erschwert, und die Lösung neuer technischer Probleme auf diesem Wege nachhaltig verhindert.

Die Geometria subterranea war ein sehr aktiver Wissensbereich, dessen Ergebnisse allerdings nur selten veröffentlicht wurden. Im 18. Jahrhundert war es üblich, Wissen und Fachkenntnisse per Handschriften zirkulieren zu lassen, ohne es für ein breiteres öffentliches Publikum gedruckt zu publizieren (Morel im Druck).Footnote 17 Markscheider wie August Beyer (1677–1753) hatten zur Entwicklung der Disziplin maßgeblich beigetragen, und 1749 schrieb der Berghauptmann Friedrich Wilhelm von Oppel (1720–1769): „Mit einem Wort, die Mathematik und Naturlehre, wovon die Mineralogie einen von andern hierher gehörigen Theil ausmachet, sind die Tragestempel, auf welchen der ganze Schrot aller Bergmännischen Wissenschaften ruhet“ (von Oppel 1749: 28–29). Trotzdem blieben Versuche, die Gesamtstruktur von Grund auf zu erneuern, erfolglos. Aufgrund fehlender disziplinärer Vernetzungen waren der wissenschaftliche Ansatz und die Anwendung mathematischer Methoden vor der Gründung der Freiberger Bergakademie in der Praxis kaum umsetzbar.

Auch nach 1765 änderte sich dies an der Bergakademie zunächst wenig, da die praktische Ausbildung an der in den Händen des traditionellen Markscheiders Carl Ernst Richter (?–1779) lag. An der Bergakademie Freiberg bestand also im mathematischen Bereich die Kluft zwischen den gelehrten Professoren und dem Markscheider fort, was bislang in der historischen Forschung zu wenig Beachtung fand (Morel 2015b: 38–78). So ist erklärbar, warum die anspruchsvolle geometrische und analytische Ausbildung durch die Vorlesungen der Professoren der Mathematik Johann Friedrich Wilhelm von Charpentier (1738–1805) und Johann Friedrich Lempe (1757–1801) in der Praxis kaum Spuren hinterließ. Vierzehn Jahre nach der Gründung der Bergakademie schrieb Charpentier:

Sobald ich die Trigonometrie geendiget haben werde, wünschte ich wohl die Markscheidekunst öffentlich vortragen zu dürfen. Denn so sehr nüzlich auch der praktische Unterricht beym dem Markscheider Hn. Richter allemahl seyn kan, so finde ich doch auch eine nähere theoretische Kenntniß der Markscheide Kunst überaus nötig, um nicht nur jungen Leute, die Anwendung der Mathematik beym Markscheider zu zeigen, und sie auf Fehler, die man bey gründlicheren Kenntniß vermeiden kan, aufmerksam zu machen.Footnote 18

Da Charpentier jedoch überlastet war und außerdem oft dienstliche Reisen unternehmen musste, kamen diese Vorlesungen nicht zustande. Ab 1780 übernahm der Markscheider Carl Friedrich Freiesleben (1747–1807) die praktische Ausbildung, behielt aber das alte Handschriftensystem bei (Beck 1781: 232).

Die Erneuerung der Markscheidekunst am Ende des 18. Jahrhunderts wird oft Lempe allein zugeschrieben.Footnote 19 Dieser Schluss liegt nahe: Immerhin war Lempe ein bedeutender Mathematiker, ein aktiver Publizist und Herausgeber eines Magazins für die Bergbaukunde, das über die Markscheidekunst in den 1780er umfassend publizierte (Morel 2015b: 56–63). Doch, obwohl sein Anteil in diesem Prozess entscheidend war, begriff sich Lempe selbst explizit als Schüler Scheidhauers – ohne dass jener institutionell in die Bergakademie eingebunden war. So verweisen Lempes Werke systematisch auf Methoden oder mathematische Formeln, die er von Scheidhauer übernommen hatte. Die Einleitung seines ersten Lehrbuches endet demgemäß mit den Worten: „Übrigens ergreife ich diese öffentliche Gelegenheit dem Herrn Bergmeister Scheidhauer für einen gütigen Unterricht der Markscheidekunst und andere Lehren gehorsamsten Dank abzustatten“ (Lempe 1781: Vorrede).

In diesem Sinne sollte die Historiographie der ersten Jahrzehnte der Bergakademie Freiberg neu justiert werden, um die mathematische Entwicklung erfassen zu können. Denn einerseits war die theoretische Ausbildung vom praktischen Unterricht getrennt und andererseits spielte Scheidhauer eine bedeutendere Rolle als bisher bekannt war.Footnote 20

Aber warum hat Scheidhauer nie offiziell an der Bergakademie gelehrt? Warum erfährt sein Beitrag zur Mathematisierung der Geometria subterranea so wenig Anerkennung? Schon 1782 stellte Dominicus Beck fest, dass Scheidhauer eine neue Methode eingeführt habe, um „einen Grubenzug, ohne Kompaß und Zuleginstrument, blos durch Rechnung der Länge und Breite jedes Winkels in Grundriß zu zeichen“. Das ist ein klares Beispiel der Mathematisierung: Ein zuvor mit dem Instrument gelöstes Problem sollte nun mit analytischen Formeln genauer und schneller behandelt werden. Der reisende Bergbeamte fuhr fort, „so hat Herr Scheidhauer in 1773 seine Erfindung bekannt gemacht, und einigen Akademisten gezeigt“ (Beck 1781: 341, 344). Anscheinend bestand das Hauptproblem darin, dass Scheidhauer weder Professor noch Markscheider an der Akademie war. Die einzige Erwähnung seiner Tätigkeiten im Archiv der Bergakademie verdeutlicht seine Bedeutung und zugleich auch, wie problematisch seine Stellung war:

Die von dem Bergmeister Scheidhauer, wegen der ihm zugegebenden Akademisten nöthig befundenen Einschränkung, und habt ihm demselben, wie ihm solchergestalt zu denen von ihm angeführten – auch andern dergleichen außergerichtlichen und Privat Verrichtungen, sich einen oder den andern derer Berg Akademisten, so oft er es gut findet, jedoch daß selbige dadurch bey ihren Akademischen Hauptverrichtungen und Arbeiten nicht zu sehr distrahiret werden, zu erwahlen gestattet sey, zu erröffnen.Footnote 21

Warum war die Lehrtätigkeit Scheidhauers überhaupt so wichtig? Die kurze Antwort ist, dass er analytische Methoden entwickelt hat, die viel effizienter als bestehende Verfahren waren. In seinem Nachlass finden sich Dutzende Hefte, die sich mit der Mathematisierung des Bergbaus beschäftigen. Scheidhauer erweist sich in diesen Schriften nicht nur als sachkundiger Bergmeister, sondern auch als erfinderischer Ingenieur und Mathematiker. Er forschte zur Theorie der Wasserräder, der Barometer, der Hydrodynamik und vor allem der Markscheidekunst. Allerdings veröffentlichte er kaum eine der tausenden von Seiten, die er verfasst hat (siehe Abb. 1 für das Titelblatt eines unveröffentlichten Lehrbuchs).

Abb. 1
figure 1

Titelblatt der Beyträge zur Markscheidekunst. (J. A. Scheidhauer, unveröffentlicht, TU BAF-UB Nachlass Scheidhauer, 300m (m1))

In seinen Handschriften setzte sich Scheidhauer für eine grundlegende Mathematisierung bestehender Praktiken ein. Mit anderen Worten, er wollte erstens das fragmentarische Vorgehen seiner Zeitgenossen vereinheitlichen. Zweitens ging es ihm darum, die Genauigkeit und Umstellbarkeit zu erhöhen, indem er die zeichnerische Konstruktionsmethode durch analytische Formeln und Berechnungen ersetzte. In einem 1775 geschriebenen, unveröffentlichten Lehrbuch der Markscheidekunst erklärte er:

Dieselbe [Abhandlung] wird von dem in den zeither bekannten Markscheider Bücher enthaltenen Vortrag darinnen abgehen, daß man in solcher die Auflösung der meisten und wichtigsten Aufgaben nach andern, bey den Markscheidern zeither nicht gewöhnlichen Methoden, die theils bequemer theils richtiger und zuverläßiger sind, theils auch auf einen größeren Umfang sich erstrecken, zeigen, bey dem allen aber, oben schon gedachter Absicht ein Gnügen zuthun suchen und lehren wird, wie der Markscheider, die von ihm erforderte Aufgaben statt solche aus denen in den meisten Fällen, sonderlich beym Gebrauch des Compaßes, als welcher bloß auf den Markscheiderzug einzuschräncken, vieler Unzuverläßigkeit und Fehlern abzunehmen, durch einen richtigen und zuverlässigen Calculum bestimmen solle.Footnote 22

Scheidhauer war also der Ansicht, dass die Markscheidekunst seiner Zeit reformbedürftig war, was er in einem anderen, ebenfalls unveröffentlichten Text, Beiträge zur Markscheidekunst, weiter ausführte:

Die Hauptabsicht dieser Beyträge, gehet eigentlich dafür, die Bestimmung aller Angaben, die von einem Markscheider gefordert werden können, durch Rechnung zu finden; was zu denn vornehmlich erfordert wird, daß man sich von der Markscheidekunst einen richtigen geometrischen Begriff zu machen und dasjenige, war bey einem Markscheider Problemate more geometricum ist, von denen zufälligen Umständen, die sich aufm Bergbau beziehen, abzusondern wiße. Eben diese Hauptabsicht aber wird auch Gelegenheit geben, mancherley andern, denen Markscheidern wenig oder gar nicht bekannten, obwohl auf bloße Berechnung sich nicht allemal gründende Auflösungen einigen Markscheider Problematum mit beyzufügen, auch hin und da Betrachtungen mit einzuschalten, die auf Verbeßerung der Markscheidekunst, mithin auch auf Erweiterung der Bergwerkwissenschafften überhaupt abziehen.Footnote 23

Als Bergmeister zielte Scheidhauer vor allem auf Effizienz und Optimierung. Da er diese Beiträge nur unter seinen Studenten zirkulierte und nie veröffentlichte, kann man davon ausgehen, dass sein Diskurs nicht bloß Rhetorik war. Trotzdem traf sein Bestreben, mathematische Verfahren in der Markscheidekunst intensiver zu nutzen, auf ein Hindernis: Die bereits bestehende Theorie genügte den meisten Praktikern, denn am Ende des 18. Jahrhunderts kam es zu keinen Krisen oder technischen Engpässen, deren Bewältigung ein neues System erfordert hätte.

Von einem modernen Standpunkt aus bilden Scheidhauers Beiträge zur Markscheidekunst eine deutliche Ausweitung und Systematisierung des bestehenden Wissensstands. Die Vorkenntnisse und Anpassungen waren allerdings für viele Praktiker offensichtlich zu anspruchsvoll, um die Trägheit des technischen Systems zu überwinden. Der 1782 reisende Beobachter musste enttäuscht feststellen, „den alten Markscheidern, nach Voigtel und Bayer gebildet, behagte die Metode [sic] nicht“ (Becher 1782: 344–345). Dieser Widerstand der Markscheider gegen Scheidhauer war umso bemerkenswerter, als dass er selbst ein Bergmeister war. Daher überrascht es wenig, dass auch die Professoren der Bergakademie nicht imstande waren, sich mit ihren Lehrmeinungen rasch durchzusetzen und die praktische Ausbildung umzugestalten.

J. F. Lempe an der Bergakademie in Freiberg

Die wissenschaftliche Tätigkeit Lempes und sein Einsatz für eine Neugestaltung der Markscheidekunst müssen also im Lichte dieser Auseinandersetzung neu kontextualisiert werden. Als Professor der Mathematik war Lempe bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts tätig. Zwischen 1781 und 1785 verfasste er zahlreiche Artikel und Bücher über die Markscheidekunst, unter anderem einen Kommentar zu Kästners Anfangsgründe der Mathematik sowie eine zweite Ausgabe von Beyers Gründlicher Unterricht vom Berg-Bau (Lempe 1781; Lempe 1785). Die Anzahl seiner Publikationen an sich ist beeindruckend, lässt sich aber nicht eindeutig ausdeuten. Ende des 18. Jahrhunderts über die praktische Mathematik zu schreiben hieß nicht nur, neue Rechenmethoden oder Formeln zu veröffentlichen. In einem Bereich, in dem die Mathematisierung noch grundsätzlich diskutiert wurde, war die performative Dimension dieser Texte wichtig. Grundsätzlich zielte Lempe auf eine Weiterentwicklung der Markscheidekunst im Sinne Scheidhauers. Obwohl er in diesem Fach nicht unmittelbar in die Lehre eingreifen konnte, weil die praktische Ausbildung in die Zuständigkeit von Johann Friedrich Freieslebens (1747–1801) fiel, war er darum bemüht, die Mathematisierung voranzutreiben. Während Scheidhauer als Bergmeister seine Werke nicht veröffentlichte, sondern diese nur intern zirkulieren ließ, versuchte Lempe als Mathematikprofessor eine öffentliche Debatte zu eröffnen.

Auch wenn es ein methodologischer Fehler wäre, Lempes Lehrbücher der Markscheidekunst schlicht als Spiegel zeitgenössischer Praktiken zu interpretieren, werden zwischen den Zeilen bestimmte Haltungen deutlich. Zentral ist hier aus heutiger Perspektive die Neuherausgabe August Beyers Gründlichem Unterricht vom Berg-Bau, dessen erste Ausgabe von 1749 vergriffen war (Beyer 1749). In der Neuausgabe, die durch Lempe „durchgängig vermehrt und verbessert“ worden war, wurde Scheidhauers Absicht hervorgehoben, Beyers Methoden durch neue, analytische zu ersetzen. Ein ausführlicher Vergleich der beiden Ausgaben ergibt, dass Lempe die Neuausgabe als Mittel benutzte, um Beyer herabzusetzen und seine eigenen modernen Ansichten einzuführen.Footnote 24 In einer erstaunlichen Vorrede behauptete Lempe, dessen Namen natürlich nicht auf dem Titelblatt erschien:

Es giebt vielleicht noch einige practische Markscheider, die sich ganz an die erste Ausgabe des Beyerschen Buchs, oder wenigstens an eine der dort vorgetragenen ähnlichen Art, die Markscheidekunst auszuüben, gewöhnt haben, und nicht gerne was Neues lernen, wenn es auch besser ist, als was sie schon wissen. Diesen dürfte freylich der itzige Beyer unbrauchbar scheinen; allein er wird ihnen sehr viel Nutzen schaffen, wenn sie nur die Gewogenheit haben wollen, darinn zu studiren. (Lempe 1785: Vorrede der zweyten Aufgabe)

Lempes Laufbahn und seine Lehrtätigkeit können also in einem anderen Licht betrachtet werden, wie auch die Geschichte der Mathematisierung Bergwissenschaften Ende des 18. Jahrhunderts. Scheidhauer erweist sich als eine Schlüsselfigur, ein Bergbeamter und Praktiker mit ausführlichen wissenschaftlichen Kompetenzen. Er setzte sich für die Einführung analytischer Methoden in die Markscheidekunst ein, weil er davon überzeugt war, dass eine allgemeinere Behandlung bestehender Probleme langfristig positiv sein würde. Andere Institutionen haben im letzten Drittel des 18. Jahrhundert ähnliche Bestrebungen verfolgt, wie etwa die École royale du génie de Mézières in Frankreich, und später die École polytechnique (Taton 1964; Belhoste 2003). Seine sehr vorsichtigen Vorstöße in die publizistische Öffentlichkeit stehen im Gegensatz zu Lempes Vorgehen. Als Mathematikprofessor versuchte Lempe zunächst, die praktische Ausbildung der Markscheider unmittelbar, das heißt mit Hilfe von Lehrbüchern und Artikeln zu modernisieren. Offenbar wurden seine akademischen Erwartungen hier jedoch nicht erfüllt, denn später setzte Lempe sich für die Neugestaltung der praktischen Ausbildung der Markscheider ein, die jedoch erst im Jahre 1795 umgesetzt wurde, wie aus diesem Gutachten ersichtlich wird:

Der Markscheidekunst setzt eine recht gründliche Kenntniß der reinen Mathematik und besonders eine recht fertige Anwendung öfters verwickelten trigonometrischen Sätze und Aufgaben voraus; und diese haben unsere jetzigen praktischen Markscheider nicht; sie können daher auch ihren Lehrlingen die Markscheidekunst nicht mit der erforderlichen Vollständigkeit die einschlagenden Lehrsätze und dazu nöthigen Beweise vortragen und gehörig faßlich machen […] Die Markscheidekunst sollte theoretisch von dem Professor der Mathematik gelehrt werden, als welcher alle hinzu gehörigen Vorkenntniße hat und haben muß, um sie nach ihrem ganzen Umfange zu können und zu beurtheilen; und keiner der Stipendiaten sollte dazu gelassen werden, der nicht vorher hinlängliche Proben der gründlich erlernten reinen Mathematik abgelegt hatte.Footnote 25

Ab 1795 bot Lempe eine Vorlesung zur theoretischen Markscheidekunst an. Sein explizites Ziel war es, die grundlegende Mathematisierung der Vermessungstechnik im Bergbau umzusetzen, das heißt eine analytische Lösung aller technischen Problemen zu ermöglichen. Was als Erfolg der praktischen Mathematik betrachtet werden könnte, relativiert sich jedoch dadurch, dass nach dem Tod Lempes der theoretische Teil der Markscheidekunst wieder in Hintergrund getreten zu sein scheint. Anfang des 19. Jahrhunderts erreichten die Professoren und die Markscheider einen Kompromiss, da von nun an analytische und geometrische Methoden gleichermaßen gelehrt wurden und die Wahl einer Methode vor allem von ihrer Effizienz in der jeweiligen Situation abhing (Hecht 1829: Vorrede). Diese pragmatische Ausrichtung war an der Bergakademie relativ verbreitet, wie aus einem 1825 geschriebenen Gutachten hervorgeht:

Das Eigenthümliche und Wesentliche des praktischen Unterrichtes besteht darin, daß man den Gegenstand, auf welchen Anwendung von den, was die Wissenschaft lehrt, gemacht werden soll, genau kennen lernt. Ist diese geschehen, und ist dem wirklich etwas Anwendbares von wissenschaftlichen Kenntnissen verfunden, so wird die Anwendung von selbst schon folgen.Footnote 26

Die von Scheidhauer angestrebte Verwissenschaftlichung der praktischen Mathematik erwies sich als ein eher langwieriger Prozess, der bis zum Erscheinen von Julius Weisbachs (1806–1871) Neuen Markscheidekunst 1851 andauerte. Die Markscheidekunst bildet in dieser Hinsicht ein interessantes, aber keinesfalls einzigartiges Beispiel für die Entwicklung der praktischen Mathematik dieser Epoche.

Carl Friedrich Steiner: Géométrie descriptive für Handwerker?

Jeder Erfahrene legt sich unstreitig eine Theorie zu Grunde; aber der Empiriker hat das im Griffe, womit sich der Theoretiker im Kopfe quält.

Dieses Zitat findet sich in Carl Friedrich Steiners (1774–1840) Lehrbuchprojekt Reißkunst und Perspectiv (Géométrie descriptive) für Künstler, Gewerke; für das Haus und für das Leben: Vollständiger theoretisch-praktischer und populärer Unterricht, zur Entwicklung aller geometrischen und perspectivischen Darstellungen durch Linien; Ein Lehrbuch zum Selbst- und Lehrunterrichte (1828–1835). Damit gab Steiner seinem Lehrkursus eine spezifische Ausrichtung, die im Folgenden exemplarisch als eine Zwischenlösung beschrieben werden soll, um damit eine Art Symptom oder flüchtigen Status in der Wissenschaftsgenese der praktischen Mathematik zu charakterisieren. Die Ausdifferenzierung und Spezialisierung dieses Feldes führte zu einer Hierarchisierung einzelner Wissens- und Kenntnisbereiche. So wurde zunehmend zwischen handwerklichen Handlungswissen und ingenieurwissenschaftlichen Verfahren unterschieden und die verknüpften Wissensbestände und Praktiken wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts differenzierteren Wissensräumen und Berufsfeldern zugeordnet.Footnote 27

Steiners Lehrkursus wird in diesem Beitrag einerseits als ein Versuch interpretiert, das durch diese Entwicklungen in Frage gestellte Verhältnis von Erfahrung und Theorie zu verhandeln, und andererseits, sich wissenschaftlicher Verfahrensweisen zu bedienen und die so erschlossenen Wissensbestände für eine handwerkliche Praxis verfügbar zu machen. Mit seiner Professionalisierung war Steiner selbst – wie auch Scheidhauer – Kind einer Übergangsphase und in diesem Sinne ein „wissenschaftlich-technischer Experte“ (Klein 2016: 87) Er wurde von seinem Vater, Hofbaumeister Johann Friedrich Rudolph Steiner (1742–1804), während des Wiederaufbaus des Weimarer Schlosses als Baumeister ausgebildet. Ab April 1795 war Steiner für vier Semester an der Landesuniversität in Jena immatrikuliert, wo ihm ein Gebührenerlass honoris causa gewährt wurde. Es ist anzunehmen, dass sich seine Ausbildung auf die mathematischen Fächer konzentrierte, Fächer, die für eine Laufbahn etwa als Baukontrolleur am Hofe (als Nachfolger seines Vaters) qualifizierten (Heinemann 2009: 199 f.). Aber er sollte nicht nur an Vorlesungen teilnehmen, sondern auch die Vorlagen für seinen Unterricht an der Zeichenschule vorbereiten, da er als Nachfolger für Kammerregistrator Johann Friedrich Lossius (1735–1796) als Geometrielehrer an der Weimarer Freyen Fürstlichen Zeichenschule vorgesehen war, die er zunächst selbst als Schüler besucht hatte.

Die Weimarer Zeichenschule war in den 1780er Jahren nach einem Entwurf von Friedrich Justin Bertuch (1747–1822) entstanden. Bertuch hatte 1774 Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar und Eisenach (1739–1807) nahegelegt: „Eine freie Zeichenschule ist fast die erste und einzige Quelle, woraus die Verbesserung der Künstler und Handwerker in einem Lande abzuleiten ist“ (Bertuch 1789: 35, Hervorhebung des Autors). Gemäß Bertuchs Konzeption wurde der komplette Unterrichtsbetrieb durch den Weimarer Hof finanziert und zwar aus der Privatschatulle des seit 1775 regierenden Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar und Eisenach (1783–1853), so dass der Unterricht „frey“, das heißt kostenlos von allen Einheimischen besucht werden konnte. Die Zeichenschule diente fortan gleichzeitig kultur-, bildungs-, und wirtschaftspolitischen Zielen und wurde für die kleine Residenzstadt zu einem Prestigeprojekt, das auch überregional Beachtung fand und sich innerstädtisch zu einer festen Bezugsgröße etablierte (Klinger 2013).

Carl Friedrich Steiner wurde 1816 zum Hofbaumeister ernannt und trat damit verspätet die Amtsnachfolge seines 1804 verstorbenen Vaters an, dessen Zeichenschulunterricht in der Architektenklasse er bereits früher übernommen hatte. Ab 1817 führte Steiner den Titel „Baurat“. Steiner war damit einerseits klassisch im Sinne einer handwerklichen Ausbildungstradition bei seinem Vater in die Lehre gegangen, hatte aber andererseits über die berufspraktischen Unterweisungen hinausgehende Kenntnisse an der Zeichenschule und an der Jenaer Universität erworben. Sein späteres Erwerbsleben verband wiederum die Berufspraxis als Architekt und Bauaufseher mit der Lehrtätigkeit an verschieden Weimarer Schul- und Weiterbildungseinrichtungen.

Im damaligen Weimar war es üblich, dass die Hofbediensteten mehrere Ämter ausübten: Schon Steiners Vater hatte im Nebenberuf seit den 1780er Jahren die Professionisten, das heißt Bauhandwerker in Architektur an der Zeichenschule unterrichtet, worüber Bertuch 1789 berichtete:

Abends von 6–7 Uhr unterrichtet ein Architect die sämtl. Handwerksgesel[len] und Lehrjungen aus der Stadt, welche dann theilnehmen wollen, z. E. Zimmerleute, Tischler, Dreher, Maurer, Steinme[tze], Schloßer, Gürtler, Sattler pp in der Architectur, wobey im Sommer auch von den Tischlern und Zimmerleuten modelliert wird. Der Saal zu dießem Unterrichte ist von jenen beyden [Zeichenschulklassen der männlichen Schüler] abgesondert, und im alten Schloße. (Bertuch 1789: 2–5)

1797 trat Carl Friedrich Steiner seinen Dienst an der Weimarer Zeichenschule an. Dessen Tätigkeit beschrieb Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), der in Weimar die Oberaufsicht über die Anstalten über Wissenschaft und Kunst (zu denen die Jenaer Universität wie die Zeichenschule gehörten) führte, 17 Jahre später: „Der Baumeister Steiner gibt Unterricht in der Geometrie und Architectur. Wie manches hier in dieser letzten Kunst geleistet worden, bedarf keiner Erwähnung, da das Innre des Schlosses genugsames Zeugniß hiervon ablegt“ (Goethe 1827–1830: I.53, S. 510).

In der Plenarsitzung des Stadtrates vom 28. September 1827 beschrieb Steiner im Rahmen der Beratungen zur geplanten Einrichtung einer Sonntagsschule für Handwerker seine ‚Schule‘ für Bauhandwerker: Seit etwa 30 Jahren unterrichte er in seiner Privatwohnung mit Unterstützung seiner eigenen Söhne. In zwei Klassen würden sowohl Lehrlinge und Gesellen als auch Meister der Bau- und anderer Gewerke in den Anfangsgründen der Geometrie sowie im Rechnen, architektonischen Zeichnen, Handzeichnen und Modellieren unterwiesen. Für den Unterricht nutze er seine privaten Bücher, Instrumente und Modelle. Früher habe er außerdem die Elemente der Geometrie und Perspektive vom Katheder doziert – dies habe er jedoch wegen seiner schlechten Augen aufgeben müssen (Heinemann 2009: 37).

Zwar kann der Status von Steiners privater Schule im Verhältnis zur Zeichenschule nicht mehr eindeutig rekonstruiert werden, aber noch im selben Jahr regte der Weimarer Oberbaudirektor Clemens Wenzeslaus Coudray (1755–1845) beim Weimarer Stadtrat an, eine öffentliche Gewerkeschule nach diesem Vorbild einzurichten. Damit sollte die mehr oder weniger private Einrichtung auf eigenständige institutionelle Füße gestellt werden. Goethe unterstützte diese Initiative maßgeblich und plante in seinem Konzept zur Gründung der Gewerkeschule Steiner fest als Lehrkraft ein (Klinger 2014: 250 f.), die 1829 in Weimar eröffnet wurde. Steiners Aufgabe war es, in jeweils einer Stunde die erste Klasse in „Reißkunst II. Theil, Perspektive“ und die zweite Klasse in „Reißkunst I. Theil, Projectieren“ zu unterrichten.Footnote 28

Das 1828 von Steiner begonnene Lehrbuchprojekt zur Reißkunst kann daher sowohl als Resümee seiner 30-jährigen Dienstzeit als auch als Programm für die zukünftige Gewerkschule gelten. Im Duktus der Zeit richtete er im Vorwort sein Kompendium „Reißkunst und Perspectiv“ explizit an seine Schüler. Er verkündete zuversichtlich, seine Bücher vermögen es, an die Stelle des Lehrers zu treten, weshalb sie auch für Anfänger ohne Vorkenntnisse geeignet seien.

Mit dem Titelzusatz Géométrie descriptive setzte er sein Lehrwerk in einen anspruchsvollen Rahmen – mit diesem Begriff verwies er auf die von Gaspard Monge (1746–1818) in Paris etablierte projektive Geometrie (Monge 1779).Footnote 29 Anders als zuvor für Scheidhauer und die Markscheidekunst beschrieben bzw. von Monge für die darstellende Geometrie etabliert, ging es Steiner in seiner Géometrie descriptive jedoch nicht um eine rechnerische Fundierung, sondern um eine auf empirischen Befunden aufbauende graphische Beschreibung von Objekten. Er verknüpfte seine Erläuterungen zur geometrischen Konstruktion mit eigenen Überlegungen und experimentell bestätigten Vorgaben zu idealer Bildfläche und -komposition.

Doch warum sollten die Bauhandwerker, Steiners Schüler, überhaupt zeichnen können? Steiner war der Auffassung, dass es mit gefälligen zeichnerischen Darstellungen besser gelänge, die Fragen potentieller Auftraggeber zu beantworten. Wie Goethe vertrat er die Meinung, dass ein Gegenstand nur mittels geometrischer Konstruktion in korrekter Perspektivdarstellung und Schattenlegung angemessen darzustellen sei (Klinger & Müller 2008). Goether führte – unter lobender Erwähnung von Steiners Lehrbuch – zur Unterrichtskonzeption an der Weimarer Gewerkeschule aus:

Sie erhielten Unterricht in geometrischen Anfängen, in Bezug auf das was in der neuern Zeit Reißkunst, Géometrie déscriptive genannt wird; und also nicht nur die rein-mathematischen Elemente würden ihnen überliefert, sondern auch die vielfachen Anwendungen derselben zum Behuf einzelner Handwerker. Auf Reinlichkeit der Linearzeichnungen, wäre besonders zu sehen, wie die Berliner Vorlageblätter das den verschiedenen Zweigen des Handwerks nöthig ist, schon genugsam einleiten und anweisen.Footnote 30

In diesem Sinne verwendeten Steiner und Goethe den Terminus géométrie descriptive schlicht für geometrisch konstruierte Zeichnungen von Gegenständen. Doch im Sinne Gaspar Monges (1746–1818) und seiner Schüler war mit dem französischen Begriffspaar die mathematische Bestimmung von geometrischen Objekten gemeint. Mit diesem Projektionsverfahren war es möglich geworden, technische Dinge bildlich und mathematisch so zu beschreiben, dass sie beispielsweise arbeitsteilig produziert werden konnten, wobei es um umsetzbare Baupläne und weniger um ansprechende Zeichnungen ging. Dieses Verständnis fasst die Geometrie, wie sie Johann Georg Krünitz (1728–1796) in seiner „Oekonomischen Enzyclopaedie“ als Unterrichtsfach der polytechnischen Schule in Frankreich bestimmte:

Die beschreibende Geometrie, als der erste Theil der figürlichen Entwickelung der Gegenstände, zerfällt in drei Haupttheile: die Wissenschaft der Stereometrie, die bürgerlichen Arbeiten, die Befestigungskunst. Die Stereometrie beschäftiget sich mit den Gesetzen und Methoden der beschreibenden Geometrie, angewandt auf Steinhauerei, Zimmerhandwerk, Schatten der Körper, Linien- und Luftperspective, Landkarten- und Planzeichnen, Ebnen, einfache und zusammengesetzte Maschinen. Die bürgerlichen Arbeiten umfassen die Anlegung und Unterhaltung der Kunststraßen, der Brücken, der Kanäle und Häfen, den Bergwerksbau, die Baukunst, die Anordnung öffentlicher Feste. Die Befestigungskunst erstreckt sich auf die Anlage von festen Posten, Plätzen und Gränzorten[sic], und auf ihre Angriffs- und der Verteidigungsarten. Die Zeichenkunst, als der zweite Theil der figürlichen Entwickelung der Gegenstände, beschäftigt sich mit dem Nachbilden runder Körper, Zeichnungen nach der Natur, mit den Grundsätzen des Geschmacks, bei dem Studium der Werke über Komposition. (Krünitz 1828: 410)

Steiner behandelte in seinem Lehrbuchprojekt nicht die mathematischen Projektionsmethoden der Stereometrie, sondern gefällige perspektivische Darstellungen und die Schattierung von architektonischen Objekten – also die Zeichenkunst –, für die er im Tafelteil Beispiele demonstrierte (siehe Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Figurentafel aus Steiner 1828. (Entnommen aus: Klinger 2009: 271)

Auch wenn es nahe liegt, Steiners Verwendung des Terminus technicus Géometrie descriptive als Irrtum oder als Marketinginstrument (um seine Bücher besser verkaufen zu können) zu interpretieren, könnte sie auch schlicht in eine Phase der semantischen Unbestimmtheit und Verschiebung fallen, in der beide Begriffsbedeutungen gleichermaßen virulent waren.Footnote 31 In Georg Simon Klügel’s Wörterbuch der Reinen Mathematik wird der Terminus wie folgt definiert:

Geometrie, descriptive, (Géométrie descriptive), beschreibende Geometrie, ist ein neuer Anbau der Geometrie, welcher seine Entstehung und seine Vollständige Ausbildung ganz dem berühmten Monge und seinen Schülern verdankt. Sie hängt genau mit der Theorie der Projection zusammen und hat den Zweck, Gegenstande dreier Dimensionen auf einer Ebene so dazustellen, daß man aus der Zeichnung sogleich die gegenseitige Lage der einzelnen Theile und die wahren Dimensionen der dargestellten körperlichen Gegenstände genau erkennen kann, weshalb sie für die Kriegs- und bürgerliche Baukunst, für das Maschinenwesen, überhaupt für alle die Künste, bei denen Darstellungen körperlicher Gegenstände in genauen Zeichnungen auf einer Ebene häufig in Anwendung gebracht werden müssen, von der größten Wichtigkeit ist. (Klügel 1836: 367)

Die Änderung des Titelzusatzes in der zweiten Auflage von Steiners Lehrbuchprojekt bestätigt die erfolgte semantische Verschiebung hin zu Géometrie descriptive als Projektionsverfahren. In den 1850er Jahren verzichtete der Herausgeber August Wilhelm Hertel, Direktor der Königlichen Gewerbeschule zu Naumburg, mit folgender Begründung auf den Titelzusatz:

Es lag nicht in dem Plane des Verfassers, eine „beschreibende Geometrie“ aufzustellen, in der Ausbildung wie sie die neuere Mathematik aufgebaut hat. Die heutige beschreibende Geometrie (Geometrie descriptive) – namentlich von den Franzosen und Engländern ausgebildet – macht einen vollkommen abgerundeten Theil der Mathematik aus, von dem die Perspektive eine Ableitung ist. […] Wir haben daher uns für berechtigt gehalten, die von dem Verfasser dem Titel beigesetzte Benennung „Geometrie descriptive“ in der neuen Auflage wegzulassen. Die Urschrift ist – wie schon der Titel besagt – ein theoretisch-praktischer und populärer Unterricht der Anwendung der geometrischen Elementarsätze auf das lineare Zeichnen; soll mehr den Handwerker und Gewerbetreibenden, der vielleicht kaum die ersten geometrischen Elemente begriffen hat, befähigen, seine Ideen bei technischen Ausführungen klar auf Papier zu bringen. (Hertel 1853: VIII f.)

Auch in Weimar hatte man im Sinne des Merkantilismus das Potential der französischen Innovation erkannt – Steiners Titelzusatz kann als eine Reaktion auf dieses Interesse verstanden werden. Doch genügte Steiners Expertise wohl nicht, denn der Herzog sandte 1829 mit Karl Georg Kirchner (1802–1858) einen angehenden Architekten eigens nach Berlin, München, in die Niederlande und direkt nach Frankreich um dort zu studieren.Footnote 32 Kirchner war später in der Weimarer Oberbaubehörde tätig und lehrte an der Gewerkeschule géométrie descriptive. Dabei unterrichtete er nach dem Lehrwerk Geometrie und Mechanik der Künste und Handwerke (Paris/Straßburg 1825), dessen Kapitel Charles Dupin (1784–1873), ein Schüler Monges’, als einzelne Vorlesungen konzipierten hatte. Dupins Buch war sehr schnell nach Erscheinen aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt worden. In seiner Anlage steht dieser Lehrkursus durchaus in der Tradition von Musterbüchern, wie sie in den Meisterwerkstätten der Zünfte üblich waren: Die Lehrlinge sollten zum Umsetzen vorgegebener Muster angeleitet werden.

Wie ist also Steiners Ausrichtung zu verorten? In seinem nächsten Umfeld hatten Goethe und Johann Heinrich Meyer (1760–1832), Professor und ab 1807 Direktor der Weimarer Zeichenschule, in ihren kunsttheoretischen Schriften das Programm einer zeichnerisch einzuübenden Geschmacksbildung entwickelt, mit der vor allem eine Wahrnehmungslehre verbunden war. Die Zeichnenden sollten als Rezipienten von Kunst geschult werden; sie sollten durch zeichnerische Nachahmung in ihrem Geschmack geprägt werden. In diesem Sinne ausgebildete Handwerker sollten die ‚richtigen‘ Geschmacksmuster nachzeichnen, um sie dann zu produzieren. Meyer hatte diese Auffassung 1799 wie folgt umschrieben:

Denn indem wir den Handwerker zum Erfinden nöthigen, machen wir ihn zum Pfuscher, weil er den ihm angewiesenen Bezirk überschreiten muß. Er sollte sich bloß mit der mechanischen Ausführung zu beschäftigen haben, nach Vorschriften arbeiten, aber äußerst sauber und genau, gefügig, passend, dauerhaft. Dieses sind unerläßliche Forderungen; um aber solche erfüllen zu können, muß er eine Zeichnung, einen Grund- und Aufriß verstehen, mit Zirkel, Lineal und Winkel umgehen lernen. Deswegen und auf daß ein jeder einigermaßen gebildet werde, Gefühl und Erkenntniß von bessern und schlechtern der Formen, vom Zweckmäßigen, vom Schicklichen erlange, und den Künstler verstehen und schätzen lerne, von dem er Vorschrift und Anleitung zu erwarten hat, soll er im Zeichnen unterrichtet werden. (Meyer 1799: 19)

Dem Handwerker sollten die Praxis der geometrischen Konstruktion und ein intuitives Verständnis ästhetischer und geometrischer Regeln vermittelt werden, ohne dass dabei die mathematischen Gesetzmäßigkeiten, auf denen beispielsweise das Projektionsverfahren basiert, im Einzelnen erläutert werden mussten.

Neben dieser Musterfunktion ergab sich ein weiter Anwendungsfall der Handwerkerzeichnung im Aufeinandertreffen von Handwerker und Auftraggeber. Vor einer Auftragserteilung etwa durch eine Kommune mussten die Handwerker bereits in dieser Zeit eine Art Kostenvoranschlag einreichen, dem oftmals erläuternde Zeichnungen beizufügen waren. Diese Darstellungen trugen Dokumentcharakter und hatten juristische Verbindlichkeit, weshalb sie eindeutig sein mussten (Prass 2005). Ein verwandter Anwendungsbereich bildete sich mit der Etablierung des Patentrechts heraus, auch hier sollten Beschreibungen in Text, Bild und Modell einen umfassenden Eindruck von der zu patentierenden Sache vermitteln – ob der Bauplan dabei tatsächlich umsetzbar war, blieb zunächst zweitrangig (Brandt-Salloum 2014).

Steiner offerierte dementsprechend mit seinem Lehrwerk eine Schulung in Darstellungstechniken mit dem Ziel, die Verständigung zwischen Handwerker und Auftraggeber zu erleichtern. Er versprach einen sicheren Lernerfolg, wenn sein „neues System“ von Anfang bis Ende durchlaufen werde. Damit orientierte er sich an den mathematischen Lehrwerken seiner Zeit, die im Sinne der mos geometricus eine kleinteilige Stufenfolge im Stil der euklidischen Axiomatik als die vielversprechendste didaktische Aufbereitung betrachteten. Üblich für den damaligen Buchmarkt war denn auch seine Rechtfertigung, dass sein Lehrbuchprojekt die Fehler der bisherigen korrigiere. Auch die Mängel, die er dabei anführte, waren kaum originell: alte Lehrbücher seien zu weitschweifig und überholt, neuere entweder zu theoretisch oder zu empirisch und zudem immer unvollständig. Steiners Lehrbücher sind als ein Kompendium bzw. Nachschlagewerk zu verstehen, in dem alles Wissenswerte gezielt für eine bestimmte handwerkliche Praxis zusammengestellt worden war. Umso bemerkenswerter ist es daher, dass Steiner seinem Lehrbuchteil ein Zitat des Staatsgelehrten und Publizisten Justus Mösers (1720–1794) voranstellte:

Ein vernünftiger Empiriker wird schwerlich jemals die Theorie selbst verachten, oder auch nur einen Augenblick daran gezweifelt haben, daß dasjenige, was in der Theorie richtig ist, in der Anwendung der Praxis gewiß auch nicht fehlschlagen könne. – Jeder Erfahrene legt unstreitig eine Theorie zu Grunde; aber der Empiriker hat das im Griffe, womit sich der Theoretiker im Kopfe quält. – Kommen, sehen und siegen, ist der Wahlspruch des Empirikers; und das Ueberdenken: wie das möglich gewesen, beschäftigt den Theoretiker. Jener gönnt es dem Letzteren, ihm in seinem Fluge zu folgen, und die Consequenz der einen That aus der andern zu berechnen. (Steiner 1828: 2)

Steiner gab nicht an, wo er diesen Abschnitt entnommen hatte, aber beim Durchsuchen von Mösers Schriften, findet sich dieser in dem Aufsatz „Über Theorie und Praxis“, der postum, 1798 erstmalig veröffentlicht worden war. Möser formulierte darin explizit eine Replik auf einen Aufsatz Immanuel Kants (1724–1804) „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig seyn, sagt aber nichts über die Praxis“, der 1793 in der Berlinischen Monatsschrift erschienen war. Kant formuliert dort folgende Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis:

Man nennt einen Inbegriff selbst von praktischen Regeln alsdann Theorie, wenn diese Regeln, als Prinzipien, in einer gewissen Allgemeinheit gedacht werden, und dabei von einer Menge Bedingungen abstrahiert wird, die doch auf ihre Ausübung notwendig Einfluß haben. Umgekehrt, heißt nicht jede Hantierung, sondern nur diejenige Bewirkung eines Zwecks Praxis, welche als Befolgung gewisser im allgemeinen vorgestellten Prinzipien des Verfahrens gedacht wird. Kant geht grundsätzlich von einem Bindeglied zwischen Theorie und Praxis aus: das ist die Urteilskraft, mit der ein Praktiker entscheidet, ob etwas der Regel entspricht. Dazu braucht der Praktiker Talent. Wenn die Theorie nicht zur Praxis passt, dann war es die falsche oder noch nicht vollständige Theorie und dann muss der Theoretiker neue, passendere Regeln abstrahieren. Wozu es sein kann, dass er auf Versuche und Erfahrungen zurückgreifen muss. Es kann also niemand sich für praktisch bewandert in einer Wissenschaft ausgeben und doch die Theorie verachten, ohne sich bloß zu geben, daß er in seinem Fache ein Ignorant sei: indem er glaubt, durch Herumtappen in Versuchen und Erfahrungen, ohne sich gewisse Prinzipien (die eigentlich das ausmachen, was man Theorie nennt) zu sammeln, und ohne sich ein Ganzes (welches, wenn dabei methodisch verfahren wird, System heißt) über sein Geschäft gedacht zu haben, weiter kommen zu können, als ihn die Theorie zu bringen vermag. (Kant 1977: 127)

Damit referenzierte Steiner in seinem Lehrbuchprojekt einen gelehrten Diskurs und rechtfertigte mit dem Bezug auf Möser in gewisser Weise auch die Vernachlässigung einer bestimmten Form theoretischen Wissens, das in seinen Augen für den Anwendungsbezug seines Lehrwerks keine Rolle spielte. Vielmehr bestimmte Steiner die von ihm vermittelten Wissensbestände als empirisch und nannte – neben anderen einschlägigen Mathematikern und Baumeistern wie etwa Andrea Pozzo (1642–1709) – vor allem Albrecht Dürer (1471–1528) und Isaac Newton (1643–1727) als Gewährsmänner. Steiner ging wie Dürer in der Proportionslehre oder Newton in der Optik von einer theoretischen Bestimmung der Optik aus und unterzog sie einer empirischen Prüfung durch Experimente und versuchte die Theorie so zu bestätigen und zu konkretisieren. Nach diesem Prinzip begründete er sein Lehrprogramm zur Perspektivlehre experimentell mit von ihm ermittelten ‚idealen‘ Sehwinkeln. In seinem Lehrbuch verwies Steiner jedoch nicht bloß auf solche Experimente, sondern beschrieb seine Verfahrensweisen detailliert. Er war also ausdrücklich um Nachvollziehbarkeit bemüht, wollte verstanden werden, und präsentierte den dazugehörigen Entwicklungsgang – seinen „Weg zur Erreichung und Feststellung des neuen Systems und zu dessen mannigfaltigen Anwendungen von Anfang bis Ende“. Steiner charakterisierte die Darstellung mit den Worten: „Sie ist keine von fremder Autorität abhängige Nachahmung, sondern bloß eine aus der Natur und Erfahrung erwachsene Lehre, ein allgemein wohlbegründetes System einer Wissenschaft“ (Steiner 1835: V) und betonte sein induktives Vorgehen: „ein aus sinnlichen Wahrnehmungen gehörig hervorgegangenes und auf Erfahrungen in der Natur gegründetes Verfahren“ (Steiner 1836: VI). Sein „allgemein wohlbegründetes System der Wissenschaft“ (Steiner 1835: V) folgte somit Kants Theorie-Praxis-Bestimmung. Zum Zweck führte Steiner aus:

Überdies steht die darstellende Perspektive dem Architekt wohl mit am nächsten, weil alle seine Schöpfungen sich als perspektivische Bilder in seiner Seele entwickeln, und er es nur höchst selten bloß mit der Außenseite, sondern immer zugleich und vornehmlich mit dem ganzen inneren Wesen seines Gegenstandes zu thun hat, und ihm obliegt mit Hülfe seiner Linien und Zirkel alle Fragen über und durch seinen Gegenstand mit größter Genauigkeit und Wahrheit zu beantworten, weil seine Entwürfe nicht bloß Bilder bleiben, sondern wirklich verkörpert in’s Leben treten und da ganz anders als bloße geometrische Gestalten in die Seele wirken sollen. (Steiner 1835: V)

Hier wird deutlich, in welchem Sinne Steiner architektonische Zeichnungen als Kommunikationsmittel begriff: Der Architekt könne mittels Zeichnung seine Vorstellungsbilder konkretisieren und seinem Auftraggeber offerieren, um mit dieser Veranschaulichung „alle Fragen“ zu beantworten. Steiner war überzeugt, Perspektive bilde das ab, was das „wirkliche Auge“ wahrnehme und so könne die perspektivische Zeichnung eines Gegenstandes in die Seele einwirken, wie dieser selbst. Perspektive meint hier Linearperspektive, die Steiner tatsächlich (das heißt experimentell bestätigt) als empirisch begriff und deren Wahrheitsanspruch er eben darin begründet sah. Zudem werde die Wahrnehmung durch Nachahmung und Erfahrung (als Baumeister) geschult und geschärft. Das hieß, der Architekt müsse erst lernen, wie man wirklich sehe. Steiner definierte das perspektivische Sehen in diesem Sinne als ein ideelles Sehen: „Die Perspektive lehrt das Sehen systematisch und regelmäßig […] und öffnet das Auge dem geistigen Sehen“ (Steiner 1836: IV). Das perspektivische Sehen, war für Steiner jedoch nicht bloß theoriegeleitet, sondern als Praktik reflektiert und überdies experimentell – wissenschaftlich – bestätigt.

Die Architekturzeichnung lässt sich mit Steiner als ein Kontroll- und Kommunikationsmittel im Wechselverhältnis von Architekt und Auftraggeber verstehen. Überdies könne ein Architekt das Zeichnen aber auch für die Erarbeitung eines Entwurfs nutzen, wie Steiner in seinem zweiten Buch zur Perspektive betonte. Der Architekt könne „sich nur durch perspektivische Darstellung seiner Erfindung von der wahren Wirkung, welche sie ausgeführt hervorbringen wird, völlig überzeugen“ (Steiner 1835: V). Die perspektivische Darstellung hilft dem Architekten also, seine Vorstellungsbilder aufs Papier zu bringen und ihre Wirkung als Baukörper zu prüfen, das heißt „vernünftig beurteilen“ (Steiner 1835: V). Die Vorstellungen treten mit der Darstellung für Steiner ins Leben. Das Zeichnen war also nicht im engeren Sinne in den Bauprozess eingebunden, sondern ging ihm als Entwurfsmittel und Verständigungsgrundlage mit dem Auftraggeber voraus.

Resümierend könnte man in Bezug auf Steiner also festhalten: Praktisches Wissen ist experimentell bestätigtes und damit wissenschaftlich begründetes Erfahrungswissen. Die Architekturzeichnung war bei Steiner ästhetisch-phänomenologisch rückgebunden und zwar in Analogie zu Dürer, der seine Proportionslehre mit Einzelbeispielen geprüft hatte, und experimentell verifiziert, wie Newton seine Optik entwickelt hatte. Zwar sprach Steiner in seinem Titel „für Künstler, Gewerke; für das Haus und für das Leben“ zunächst keine spezifische Berufsgruppe an, gleichwohl adressierte er mit der „Architekt“, wie er seinen Leser ansprach, einen Baumeister und weisungsbefugten Praktiker, der die anderen Gewerke zu beaufsichtigen hatte. In Anbetracht der an der Zeichenschule unterwiesenen Bau- und anderen Gewerke – wie die im Titel des Lehrwerks angesprochenen Zimmerleute, Tischler, Dreher, Maurer, Steinmetze, Schlosser, Gürtler, Sattler – wird deutlich, dass Steiner sich überdies auch an eine breitere Leserschaft wendete.

Herauszustellen ist, dass Steiner in mit seinem Lehrbuchprojekt die Wissenshierarchie zwischen Lehrer und Schüler zu überwinden suchte, denn er wollte seine Schüler auf dieselbe Wissensstufe heben, auf der auch er stand – das heißt, sie sollten die Regeln seiner Praktiken verstehen und diese nachprüfen und reproduzieren können. In dieser Hinsicht verfolgte er ein anderes Modell als die französische Ausbildungstradition, die von einem hierarchischen Weisungsverhältnis ausging: Der Ingenieur war der Wissende, der auch die hinter dem Projektionsverfahrenden stehenden mathematischen Operationen beherrschte, der Handwerker hingegen führte bloß aus, und brauchte die technischen Zeichnungen nur zu lesen (d’Enfert 2003; Pircher 2005: 89–91.). Demgegenüber wurde nach Steiners Lehrbuchprojekt der ‚einfache‘ Handwerker – zumindest dem Anspruch nach – in den Stand eines wissenschaftlich reflektierten Praktikers gehoben. Mit seiner Bezugnahme auf Dürer und Newton griff Steiner auf bereits zu seiner Zeit tradierte Paradigmen künstlerischer und naturwissenschaftlicher Praxis zurück – in diesem Sinne ist er geradezu traditionell. Auch, dass einfache Lehrer, wie etwa Volksschullehrer, Lehrbücher publizierten, war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr ungewöhnlich. Was an Steiners Lehrbuchprojekt neu und bemerkenswert war, ist der Anspruch eine zeichnerische Praxis – die der Architekturzeichnung – auf empirisch-experimentell geprüfte und systematisch-theoretisch begründete Füße zu stellen. Da sich auch Goethe mit seinen Experimenten zur Farbenlehre im Umkreis der Zeichenschule bewegte und alle ihm in Weimar zur Verfügung stehenden Ressourcen nutzte, könnte Steiner hier zu seinem Vorgehen angeregt worden sein. Goethe hatte 1823 seine Auffassung zum Experiment im Aufsatz „Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt“ publiziert, wo er resümierend von seinen Unterhaltungen berichtete:

Sobald Menschen von scharfen, frischen Sinnen auf Gegenstände aufmerksam gemacht werden, findet man sie zu Beobachtungen so geneigt als geschickt. Ich habe dieses oft bemerken können, seitdem ich die Lehre des Lichts und der Farben mit Eifer behandle und, wie es zu geschehen pflegt, mich auch mit Personen, denen solche Betrachtungen sonst fremd sind, von dem, was mich soeben sehr interessiert, unterhalte. (Goethe 1823: 312)

Wohingegen die Entwicklungen der modernen Mathematik (mit Ausnahme der traditionellen Darstellungsform des Lehrbuchs nach Art der euklidischen Geometrie) im Falle von Steiners „Reisskunst“ nur auf terminologischer Ebene einen Widerhall fanden.

Systematisierung: Mathematik als Methode und Argument

Mit den Laufbahnen Scheidhauers und Steiners werden zwei unterschiedliche Wege in der Entwicklung der praktischen Mathematik deutlich. In diesem Sinne ist zu betonen, dass die mathematischen Wissenschaften im 18. Jahrhundert noch keineswegs vereinheitlicht waren. Hier gilt es grundsätzlich semantische Verschiebungen zu beachten, die etwa die zeitgenössische Differenzierung zwischen ‚bürgerlichem Rechnen‘, ‚reiner‘, ‚angewandter‘ und ‚praktischer‘ Mathematik im heutigen Sprachgebrauch nivelliert haben. Diese ‚Mathematiken‘ wurden nicht nur von unterschiedlichen Professionen ausgeübt, sondern sie waren auch mit unterschiedlichen Vermittlungsformen und ‑institutionen verbunden. Für das zunehmend unter merkantilen Druck geratene Montanwesen, aber auch im Bau- und Handwerksbereich, wurden effizientere Verfahren notwendig, zu denen die Mathematisierung langfristig einen Schlüssel liefern konnte. Praktische Mathematik bildete bis dahin weniger eine allgemeine Methode bzw. eine anerkannte Sprache der Praktiker, als vielmehr eine detaillierte Liste von Formeln und Aufgaben, auf Erfahrung basiert und durch Erfahrung verbessert, wie Büsch es noch 1773 erklärte: „Ohne tieffsinnige Untersuchungen und Beweise suche ich den Geist der Beobachtung in ihm rege zu machen, führe ihn am liebsten auf das, was ihm in der täglichen Erfahrung vorkommt, und bilde sein Urtheil über eine Menge ihm entstehender Vorfälle“ (Büsch 1773: XV).

Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verwies Scheidhauer darauf, dass eine Mathematisierung technischer Tätigkeiten nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert war. Dieser Übergang von einem gelegentlichen Einsatz mathematischer Formeln zu einem System, in dem Mathematik als ‚Leitwissenschaft‘ gefasst wurde, erwies sich in der Tat schwierig. Trotz ihrer Effizienz wird mit unserem Beitrag deutlich, dass diese Art von Mathematisierung keineswegs unumstritten war. Die Wichtigkeit und Universalität der Mathematik war wohl ein Topos der gelehrten Welt, von Abraham Gotthelf Kästner bis Immanuel Kant. Es gab aber einen beachtlichen Abstand zwischen den akademischen Diskursen und der Ausbildung von Praktikern, oft war eine langwierige Legitimierungsarbeit erforderlich. Als Johann Friedrich Lempe versuchte, nach Scheidhauers Beispiel, in den 1780er ein erheblich mathematisiertes Magazin für die Bergbaukunde herauszugeben, wurde er in den Rezensionszeitungen dafür heftig kritisiert. Die Allgemeine Literatur-Zeitung schrieb zum Beispiel:

Die grösste Hälfte dieses zweyten Theils füllen wiederum mathematische Berechnungen über die Wirkung eines Pferdegöpels, über die Geschwindigkeit des Wassers bey Kunstgräben u. s. w. an. Die Wichtigkeit und den Nutzen von dergleichen Berechnungen wird niemand ableugnen; indessen ist doch gewiss nur dem kleinsten Theile der Leser eines Magazins zur Bergbaukunde damit gedienet, denn die mehresten werden lieber mineralogische und andere weniger abstracte bergmännische Aufsätze darinnen antreffen wollen.Footnote 33

Scheidhauers Vermittlungsrolle kann hier als Fallbeispiel dienen: Er lehrte nicht innerhalb der Bergakademie und wurde bloß toleriert, obwohl er Bergmeister war. Selbst sein Schüler Lempe, der als Professor der Mathematik akademische Legitimität besaß, konnte nicht unmittelbar in die bestehenden Praxen eingreifen. Die relative Eigenständigkeit der Markscheider und die Bewährtheit traditioneller Praktiken machten Kompromisse und Argumentationen erforderlich. In diese Entwicklungslinie ordnet sich ein, dass Scheidhauer kaum publizierte und von Innen wirkte, während Lempe wissenschaftlichen Artikel und Lehrbücher veröffentlichte. Beide Strategien setzten sich nicht sofort durch, was auf die Trägheit der Praxen gegenüber theoretischer Innovation verweist.

Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts erreichte die praktische Mathematik eine viel höhere Stellung. Sie wurde schließlich zum Grundstein der neuen technischen Lehranstalten, die allmählich die höhere Mathematik (also die Differential- und Integralrechnung) einzogen. Die Wirksamkeit der praktischen Mathematik als Sprache der Ingenieure wurde anerkannt, und die technischen Anstalten zu polytechnischen Schulen (Schubring 1983; Morel 2014). Neue technische Anstalten wurden gegründet, wie zum Beispiel Forstakademien und Gewerbeschulen, und die mathematische Ausbildung wurde für die meisten technischen und akademischen Berufen grundlegend (d’Enfert 2003; Schlote & Schneider 2009; Schlote & Schneider 2011; Morel 2015b: 153–170, 201–229). Johann Georg Büsch, dessen Versuch einer Mathematik zum Nutzen und Vergnügen des Bürgerlichen Lebens in diesem Artikel mehrmals zitiert wurde, war selbst Lehrer an der 1767 neu gegründeten Handelsakademie Hamburg.

Exemplarisch kann dies etwa an der Reorganisation des Weimarer Schulwesens in der Zeit zwischen 1770 und 1830 gezeigt werden. In Weimar erfolgte im Rahmen der Schulreformen eine Verständigung über spezifische Bildungsprofile – den verschiedenen Schulformen wurde die Ausbildung bestimmter Berufsgruppen und somit die Vermittlung spezifischer Inhalte zugeordnet –, die sowohl Aspekte der alten ständischen Ordnung als auch die Bedürfnisse der sich bereits ankündigenden Industrialisierung aufnahm (Klinger 2015). Gerade im Bereich des Bauhandwerks wurden mathematische Kenntnisse immer relevanter, was sich etwa in den Aufnahmeprüfungen der Weimarer Baugewerkeschule niederschlug (Klinger 2014: 252).

Die Laufbahn Steiners fällt in diese zweite Phase, dennoch verstand er die Mathematik als Leitwissenschaft in einem weiteren Sinn: für ihn war sie das methodologische Vorbild. Er nutzte die axiomatisch-deduktive Präsentationsform von Lehrinhalten im Sinne der mos geometricus zur die Legitimierung von Wissenschaftlichkeit und systematisierte seine ‚Geometrisierung‘ methodisch. Außerdem agierte Steiner geradezu modern als ‚Naturwissenschaftler‘, indem er seine Lehre zum Architekturentwurf nicht nur wissenschaftlich darstellte, sondern durch nachvollziehbare Experimente fundierte.

Seine ‚Mathematisierung‘ der Geometrie descriptive, auf die Steiner mit seinem Titel verwies, bezog sich also nicht auf Rechenoperationen, sondern auf die Systematisierung einer traditionell beschreibenden Geometrie für Bauhandwerker, die er außerdem auf ein wahrnehmungsphysiologisches Fundament zu stellen versuchte. Im Gegensatz zu Scheidhauer publizierte Steiner relativ umfangreich. Er nutzte seine Schriften, um sich sowohl als inhaltlich eigenständig als auch karrierestrategisch zu positionieren. Mit Steiner liegt also ein umgekehrter Fall vor, was das neue Ansehen der Mathematik widerspiegelt: hier suggeriert das Titelschlagwort Geometrie descriptive eine Mathematisierung, die im Lehrbuch jedoch nicht eingelöst wird.

Die Gemeinsamkeiten von bzw. Unterschiede zwischen den beiden Männern erlauben uns, die konkreten Verwendungskontexte der praktischen Mathematik an Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in den Blick zu nehmen. Die Debatte um die Rolle der Mathematik im so genannten ‚bürgerlichen Leben‘ überschritt systematisch disziplinäre Grenzen. Die Effizienz einer Mathematisierung der Praktiken wurde von den Zeitgenossen sowohl in den gelehrten Zirkeln als auch in den technischen Anstalten vermutet. Noch gab es aber keine unmittelbaren Anwendungsmuster, da die modernen technischen Schulen erst im Entstehen begriffen waren, und vielmehr ließ die Effektivität bestehender Praxen eine Umsetzung der Mathematisierung fragwürdig erscheinen. Scheidhauer und Steiner geben mit ihren mathematischen Praxen einen Einblick in die rasche Entwicklung der mathematischen Disziplin. Grundsätzlich wäre hier weiterhin zu diskutieren, inwiefern sich dabei das Streben auch nach ökonomischer Effizienz mit einem quasi wissenschaftlichen Anspruch verband. Während Scheidhauer durch die Mathematisierung Fortschritte erzielte, dies aber nicht in breite Anwendung überführen konnte, nutzte Steiner die Mathematisierung selbstverständlich und setze dies in seiner Lehrtätigkeit auch um, wenngleich er sich ihr eher als didaktischer Aufbereitungsform (in der Gliederung seines Lehrbuchkompediums) und Verkaufsargument, denn als Umsetzung tatsächlicher Rechenoperationen bediente. Ähnlich waren sich Scheidhauer im Berechnen und Steiner im Experimentieren darin, dass sie ihre bergmännische bzw. handwerkliche Praxis reflektierten und nach naturwissenschaftlicher Systematisierung strebten. Routinisierte und implizite Praktiken wurden so nicht nur explizit, sondern – über Nachahmungsprinzipien hinaus – sprachlich vermittelbar. Worum Scheidhauer noch ringen musste, war zur Zeit Steiners schon selbstverständlich, denn innerhalb weniger Jahrzehnte wurde die Mathematisierung technischer Aktivitäten nicht nur möglich, sondern geradezu notwendig und erstrebenswert.

Ungedruckte Quellen

Wissenschaftlicher Altbestand der Georg Agricola Bibliothek der TU Bergakademie Freiberg (fortan TU BAF-UB) Nachlass Johann Andreas Scheidhauer:

  • TU BAF-UB – NL Scheidhauer, 300 f, Excerpta Mathematica varii generis

  • TU BAF-UB – NL Scheidhauer, 300 q,r,s,t, Elementa Mechanicaes

  • TU BAF-UB – NL Scheidhauer, 300 d, vol. 1, unpaginiert

  • TU BAF-UB – NL Scheidhauer, 300 m, Beiträge zur Markscheidekunst, Vorerinnerung, unpaginiert

Universitätsarchiv Freiberg (fortan UAF):

  • UAF-OBA 181

  • UAF-OBA 242

  • UAF-OBA 10

  • UAF-OBA 14

  • SächsBergAFG 40012 – Bergamt Johanngeorgenstadt – 878.

  • SächsBergAFG 40012 Bergamt Johanngeorgenstadt, 949.

Universitäts- und Landesbibliothek Tirol in Innsbruck:

  • Cod. 1187

Landesarchiv Thüringen, Thüringer Hauptstaatsarchiv Weimar (fortan ThHStAW):

  • ThHStAW, A 11719b, Faszikel des Briefes „An den H. Akademie Secret. Riem in Berlin“

  • ThHStAW, A 11739a

Stadtarchiv Weimar (StAW), Kirchen- und Schulsachen:

  • Ha I–27–84, Bl. 54–57

Danksagung

Die Autoren bedanken sich bei den Archivmitarbeiter*innen, die diese Arbeit ermöglicht haben, und vor allem Angela Kugler-Kießling der Bergakademie Freiberg. Maarten Bullynck hat eine Vorfassung dieses Beitrags gelesen und wichtige Hinweise formuliert. Danke auch an die zwei Gutachter für ihre präzisen und konstruktiven Bemerkungen vor allem zum Konzept von Mathematisierung.