“En trois siècles, la science, fondée par le postulat d’objectivité, a conquis sa place dans la société: dans la pratique, mais pas dans les âmes.”(Monod 1970: 185)Footnote 1

Kaum ein Begriff dürfte heute eindeutiger negativ konnotiert sein als der des „Szientismus”, und zwar weltweit und in allen Sprachen, wie beispielsweise scientism, scientisme oder scientismo. Das lässt sich leicht im Internet testen, wo man sofort auf eine Fülle von Beiträgen und Definitionen stößt, die sich alle dadurch auszeichnen, dass sie den „Szientismus” ablehnen, wenn nicht gar regelrecht denunzieren: als Gefahr, als Bedrohung, als Alptraum, wobei nicht selten Aldous Huxleys Buchtitel Brave New World (Schöne neue Welt) von 1931 das Horrorszenario einer „szientistischen” Zukunft gleichsam ironisch auf den Punkt bringen soll. Und wem das noch nicht reicht, der kann auf Webseiten wie Satirizing Scientism.com zugreifen, die sich in Wort und Bild über „scientism, evolutionism and the arrogance of the Academy“ mokieren, wofür ein Autor namens Stinging Horsefly [Stechende Stechfliege, sic] verantwortlich zeichnet.Footnote 2

Kritik, Abwehr, Widerstand

Doch es gab und gibt auch ernsthaftere Kritiken. Eine der frühesten und bekanntesten – und sicher einflussreichsten – stammt von Friedrich August Hayek, der während des Zweiten Weltkriegs in Aufsätzen und später in einem Buch mit dem Titel The Counter-Revolution of Science jenen blinden Wissenschaftsoptimismus attackierte, welcher sich von der Aufklärung – etwa bei Turgot und Condorcet – über Saint-Simon und Comte, dann weiter über Hegel, Feuerbach, Marx und Engels bis hin zum Wiener Kreis fortentwickelt und in der Konsequenz zu sozialistischer Planwirtschaft und sowjetischem Totalitarismus geführt habe (Hayek 1955).

Eine andere Variante expliziter Szientismus-Kritik findet sich in den Schriften eines weiteren Emigranten, Eric Voegelin, der bereits das Leitbild objektiver Wissenschaft, ob im Sinne der französischen Aufklärung oder Comtes oder auch späterer Denker wie Marx und Darwin, als Symptom der „Entgöttlichung”, der Entfremdung und Entmenschlichung deutete, so dass sich etwa für Deutschland ein direkter, wenn auch krummer Weg vom Monismus eines Haeckel oder Ostwald zum Nationalsozialismus eines Hitler nachzeichnen lasse (Voegelin [1964] 2006).Footnote 3

Und schließlich ließe sich aus dem französischen Zusammenhang auch noch die neuere Studie von Tzvetan Todorov anführen, die unter dem Titel Mémoire du mal, tentation du bien. Enquête sur le siècle die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht bloß als Konfrontation zwischen Demokratie und Totalitarismus, sondern auch zwischen Humanismus und Szientismus interpretiert (Todorov 2000).Footnote 4 Dass der Autor dabei ohne Zögern den Marxismus in all seinen Deutungen mit der stalinistischen Variante von Wissenschaft gleichsetzt, so wie Hayek oder Voegelin den Szientismus des 19. Jahrhunderts mit dem Positivismus in all seinen Formen, zeigt allerdings schon das Dilemma dieser Art von Geistesgeschichte, der es eher auf große Linien und scharfe Gegensätze ankommt als auf historische Genauigkeit. Sonst hätte nämlich auffallen müssen, dass sich alle sogenannten totalitären Bewegungen nicht nur vehement gegen ein westliches Denken, sondern auch gegen den westlichen Positivismus abgrenzten, der als gefährliche, objektivistische Philosophie stigmatisiert wurde, das heißt als das genaue Gegenteil der im Nationalsozialismus oder im Stalinismus gewünschten parteilichen Wissenschaft (Josephson 1996). Kurzum, man merkt schon an diesen allzu groben Oppositionen, in denen der Szientismus als Feindbild figuriert, dass da irgendetwas nicht stimmen kann.

Dabei habe ich eine weitere Variante der philosophischen Kritik am Szientismus noch gar nicht erwähnt, wie sie uns in den Schriften der Frankfurter Schule entgegentritt: Denken wir nur an die von Horkheimer und Adorno verfasste Dialektik der Aufklärung von 1944 oder an Horkheimers Eclipse of Reason von 1947 sowie an spätere Publikationen, etwa von Marcuse oder Habermas, wo immer wieder durchscheint, dass schon der bloße Fortschrittsglauben mit seinen praktischen Folgen im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft zur Entfremdung, ja – so wurde es eine Zeitlang prophezeit – in den Faschismus führen müsse.Footnote 5 Kurzum, mit dem Begriff SzientismusFootnote 6 und einer Reihe von begleitenden Reizwörtern wie Positivismus, Naturalismus oder Objektivismus wurde und wird, ohne dass in der Regel eine genaue Spezifizierung erfolgt und meist auch ohne dass Autoren genannt werden, ein Szenario an die Wand geworfen, das jeden aufrechten, kritischen Intellektuellen erschaudern lässt und zu einer geradezu reflexhaften Abwehr veranlasst: Das will ich auf keinen Fall!

Aber weiß man wirklich, wogegen man sich so heftig wehrt? Eine simple Antwort könnte lauten: gegen die Hybris oder gar die Tyrannei der Wissenschaft. Aber dann läge der Verdacht nahe, hier werde von einer reaktionären, antiintellektuellen Position aus – und gemäß der klassischen Rhetorik der Sinnverkehrung, wie sie Albert Hirschman (1991: 20–50) treffend analysiert hat – gegen jede Aufklärung und Wissenschaft opponiert, womöglich aus religiösen Gründen. Das kann es offenkundig nicht sein. Oder geht es nur um einen spezifischen „Mißbrauch und Verfall der Vernunft“, um auch noch den deutschen Titel des Buches von Hayek zu zitieren? Also um eine illegitime Überschreitung bestimmter Grenzen? Das setzte allerdings voraus, dass man solche Grenzen überhaupt zu ziehen vermag.

Diesen Eindruck gewinnt man in der Tat, wenn man die üblichen Lexika durchsieht, die alle den „Szientismus” als eine problematische Übertragung von Theorien oder auch nur von Methoden der Naturwissenschaften – verstanden als „exakte“ Wissenschaften – in den Bereich der sogenannten Geisteswissenschaften, der Philosophie oder auch in die soziale Lebenswelt definieren. So heißt es zum Beispiel im Großen Brockhaus (1980, Bd. 11: 235, Hervorhebungen im Original):

Szientismus, Scientismus, Szientifismus, meist abwertend für eine wissenschafts-theor. Position, die quantifizierende, den Naturwiss. unkritisch entlehnte Methoden (v. a. in den Geistes- und Sozialwissenschaften) allein als wissenschaftlich gelten lassen möchte.

Ähnlich lesen wir im Grand Robert (1985, Bd. 8: 638, Hervorhebung im Original):

Scientisme. Attitude philosophique du scientiste qui soutient que la connaissance scientifique suffit à résoudre les problèmes philosophiques.

Wobei als Beleg ausgerechnet ein Zitat von Bergson, einem heftigen Gegner des Szientismus, angeführt wird. Und schließlich lesen wir im Oxford English Dictionary (1989, Bd. 14: 651, Hervorhebung im Original):

Scientism. 1. The habit and mode of expression of a man of science. […]

2. A term applied (freq. in a derogatory manner) to a belief in the omnipotence of scientific knowledge and techniques; also to the view that the methods of study appropriate to physical science can replace those used in other fields such as philosophy and, esp., human behaviour and the social sciences.

Gewiss, was Lexika sagen, ist immer vereinfachend, schematisch und liefert lediglich eine Momentaufnahme. Man könnte auch noch Wikipedia zitieren – sogar in verschiedenen Sprachen –, aber das würde das Bild kaum ändern. Besonders symptomatisch scheint jedenfalls die Einmütigkeit zu sein, mit welcher der Szientismus überall und von vornherein negativ präsentiert wird, wobei der Eindruck entsteht, es handle sich um eine reale, womöglich mächtige Strömung und als würden die inkriminierten Thesen tatsächlich und aktuell von wichtigen Leuten vertreten. Falls es überhaupt Literaturangaben gibt, fällt spätestens bei diesen – ich denke hier an das Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe (Speck 1980, Bd. 3: 621 f.) und an die Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie (Mittelstraß 1995, Bd. 4: 194 f.) – auf, dass die „Szientisten“ offenbar kaum eigene Texte produzieren. Denn einer Fülle von Kritiken stehen so gut wie keine Bücher aus szientistischer Feder gegenüber.Footnote 7

Haben wir es womöglich mit einem jener Gespenster zu tun, die die akademische Geistesgeschichte – und zumal die Philosophie – so gerne heimsuchen? Wovor hat man hier eigentlich Angst? (Devereux 1967, Passeron 2000) Und warum reicht das Spektrum der Anti-Szientisten von den konservativsten Theologen bis zu den progressivsten Kulturwissenschaftlern und von ganz Rechts bis ganz Links? Oder anders gefragt: Wie kommt es, dass sich so gut wie niemand selbst als Szientist bezeichnet? Wie wir noch sehen werden, gab und gibt es ein paar Ausnahmen, doch im Allgemeinen gilt die Devise: Szientist ist immer der andere! So wie man in früheren Zeiten immer der Marxist oder Materialist oder, noch früher, der Spinozist ein anderer war. Man hat also den Eindruck, dass der Begriff des Szientismus häufig nur als intellektuelle Attrappe fungiert oder gar als Hammer, den man immer dann hervorholt, wenn es mit dem eigenen Wissenschaftsanspruch etwas brenzlig wird.Footnote 8 Wenn man es recht überlegt, hat diese heftige emotionale Opposition von Szientismus und Antiszientismus zur Konsequenz, dass man eigentlich über das eine nur vernünftig reden kann, wenn man gleichzeitig bereit ist, auch über das andere nachzudenken. Eine Studie über den Szientismus müsste in der Perspektive also nicht bloß den Wissenschaftsoptimismus der einen Seite, sondern auch den Wissenschaftspessimismus der anderen in den Blick nehmen, um die Abwehr und den Widerstand zu verstehen, die die Gefahren des Szientismus offensichtlich auslösen.

Auch der Szientismus hat eine Geschichte

Im Mittelpunkt meines Beitrags stehen zwei Thesen, die zunächst vielleicht etwas banal klingen, sich aber keineswegs von selbst verstehen: Erstens hat auch der Szientismus eine Geschichte und zweitens hat es Szientisten tatsächlich gegeben, und es gibt sie noch heute. Ich gehe also davon aus, dass der Szientismus kein Gespenst und keine bloße Projektion ist, sondern sich historisch erforschen lässt. Wie jede andere intellektuelle Strömung sollte man ihn mit dem Instrumentarium der Geschichtswissenschaft möglichst genau analysieren, also ohne ständig die eigene Ablehnung vorwegzunehmen, ohne Tunnelblick oder Scheuklappen. Sonst dürfte es kaum möglich sein, einem so umstrittenen Forschungsgegenstand etwas abzugewinnen.Footnote 9 Dazu sollen im Folgenden zunächst einige begriffsgeschichtliche Präliminarien und dann einige historische Zusammenhänge skizziert werden, wobei ich mich im Detail vor allem auf französisches Material aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentriere.

Wie kann man sich dieser Geschichte nähern? Schaut man auf die oben erwähnten Lexikonartikel oder auf die vergleichsweise spärliche Sekundärliteratur – am eindrucksvollsten sind hier die Aufsätze des früh verstorbenen Casper Hakfoort (1992, 1995), ferner sind die Bücher von Dominique Pestre (1984), François Bouyssi (1998), Richard Olson (2008), Paul Ziche (2008) und Thomas Schmidt-Lux (2008) sowie ein neuerer Aufsatz von Anastasios Brenner (2009) zu nennenFootnote 10 –, fällt auf, dass bereits die Begriffs- und Wortgeschichte äußerst mysteriös ist. Mit Ausnahme von Bouyssi und Brenner macht sich kein Autor Gedanken darüber, ständig einen Begriff zu verwenden, der irgendwie vom Himmel gefallen zu sein scheint.Footnote 11 So schreibt etwa Olson eine breit angelegte Geschichte des Szientismus, die schon bei den Vorsokratikern beginnt, obwohl es in der Antike kein entsprechendes Wort und auch keine vergleichbare Problematik gab. Das erinnert an gewisse ältere Geschichten des Sozialismus, die auch schon in der Antike einsetzten und dabei Begriffe und Probleme des 19. Jahrhunderts auf Griechenland und Rom projizierten. Historiker wissen aber seit langem, dass es wichtig ist, wie ein Phänomen in seiner Epoche genannt oder als Problem wahrgenommen wurde (Bloch [1949] 2002: S. 173–193). Daraus ergibt sich zwar noch keine direkte Erklärung, wohl aber eine Eingrenzung und Differenzierung. Wer also hat zuerst vom Szientismus gesprochen, warum und in welchem Kontext?

Genealogie eines Begriffs

Im Oxford English Dictionary (1989, Bd. 14: 651) steht die Behauptung, das Wort scientism sei eigentlich erst 1921 geprägt und eingeführt worden, und zwar von keinem geringerem als George Bernard Shaw, der in seinem Stück Back to Methusela ironisch-abwertend von einer „iconography and hagiology of Scientism“ gesprochen habe (Shaw [1921] 1990: 57). Glaubwürdig ist das aber nicht, denn Shaw war viel zu belesen, um hier einen Neologismus prägen zu wollen. In Wahrheit erfolgte die Erweiterung von science zu scientist schon im frühen 19. Jahrhundert, etwa bei William Whewell (Ross 1962),Footnote 12 und auch das Wort scientism kam schon im 19. Jahrhundert auf, allerdings in einem anderen Zusammenhang: als Bezeichnung für die von Mary Baker Eddy begründete Christian Science, eine nordamerikanische religiöse Bewegung, die sich bald auch in Europa ausbreiten sollte (Gottschalk 1973). Deshalb bezeichnete im Deutschen das Wort „Szientismus“ zunächst jahrzehntelang die Weltanschauung dieser Sekte (Holl 1917, Waldschmidt-Nelson 2009).Footnote 13 Daraus erklärt sich wohl, warum etwa Max Scheler in seiner Wissenssoziologie 1926 nicht von Szientismus, sondern von „Scientifismus“ spricht und auch andere deutschsprachige Autoren ihm darin gefolgt sind.Footnote 14

Doch der eigentliche, heute gebräuchliche englische Begriff scientism scheint – soweit ich das bislang ermitteln konnte – aus der Rezeption der französischen Debatten hervorgegangen zu sein, die seit den 1880er Jahren über die Rolle der Wissenschaft in der modernen Gesellschaft geführt wurden. Im Hintergrund stand dabei vor allem das Œuvre von Ernest Renan (1823–1892), dem angesehenen Orientalisten und Religionshistoriker, der zwar selbst nicht von scientisme sprach, aber mit seinem Versuch einer wissenschaftlichen Jesus-Biographie (1863) und mit seinem programmatischen Buch L’Avenir de la science (1890) – einem 1848 verfassten Manuskript, das er kurz vor seinem Tod dann doch veröffentlichte oder vielmehr zu veröffentlichen wagte (van Deth 2012: 456) – eine ungeheure Wirkung erzielte. In diesem Buch, das übrigens nie ins Deutsche übersetzt wurde, entwarf Renan das Programm einer wissenschaftlich organisierten, einer nur noch wissenschaftlich organisierten Welt: „Die Menschheit wissenschaftlich zu organisieren (organiser scientifiquement l’humanité), das ist […] das letzte Wort der modernen Wissenschaft, das ist ihr kühner, jedoch legitimer Anspruch“ (Renan [1890] 1995: 106, Hervorhebungen im Original).Footnote 15 Mag sein, dass hinter dieser Formulierung, bis hin zur medizinischen Organisationsmetapher, ursprünglich eine Anspielung auf sozialistische Reformkonzepte wie die Organisation sociale (1825) von Saint-Simon oder die Organisation du travail (1845) von Louis Blanc gestanden hat. Im Kontext der Dritten Republik und der 1890er Jahre war ihre Wirkung aber eine ganz andere.Footnote 16 Jetzt erschien das Buch als ein Kompendium republikanischer, also gleichsam staatstragender Wissenschaftsphilosophie und galt in den Augen von Spöttern wie Charles Péguy als eine Art Katechismus (bréviaire) aller Wissenschaftsgläubigen (Péguy 1959: 1014). Bis zum Ersten Weltkrieg bildete daher die Frage, ob man für oder gegen Renan sei, eine der Gretchenfragen des intellektuellen und vor allem des akademischen Alltags. Dabei waren die Bruchlinien interessanterweise nicht ganz dieselben wie jene, die das Land aufgrund der Dreyfus-Affäre in zwei Lager spaltete: Während so gut wie alle Anti-Dreyfusianer zugleich Renan-Gegner waren, konnte man durchaus Dreyfusianer sein und dennoch Renans Wissenschaftsoptimismus ablehnen. In späteren Jahren wechselten allerdings gerade diese linken Renan-Gegner, wie etwa Sorel oder Péguy oder auch der junge Jacques Maritain, die sich alle in den Vorlesungen von Bergson wiederfanden (Maritain 1941, Azouvi 2007), ins Lager eines neuen Nationalismus, der die französische Zivilgesellschaft endlich mit Militär und Kirche wieder versöhnen wollte. Das war dann auch das Milieu, in dem sich erstmals ein expliziter und geradezu militanter Antiszientismus artikulierte, für den beispielhaft die beiden Bücher des Pseudonymus „Agathon“ (für Henri Massis und Alfred de Tarde) stehen mögen: L’Esprit de la Nouvelle Sorbonne von 1911 (Agathon 1911) und Les jeunes gens d’aujourd’hui von 1913 (Agathon [1913] 1995).Footnote 17 Beides waren heftige, durchaus raffinierte Attacken gegen das demokratisch-rationalistische Establishment der Sorbonne (heute würde man es als „linksliberal“ bezeichnen), darunter Émile Durkheim, Gustave Lanson und Charles Seignobos, und letztlich gegen die spätestens seit der Trennung von Staat und Kirche 1905 mit dem Katholizismus überworfene Republik.

Den weithin vernehmbaren Startschuss zu dieser jahrelangen ideologischen Konfrontation, die sich bald auf den verschiedensten Ebenen (Schule, Hochschule, Politik, Militär) und in jeweils eigenen Formen äußerte, gab 1895 (aus heutiger Sicht: erstaunlicherweise, aus damaliger Sicht: kaum zufällig) ein Aufsatz in der konservativen Publikumszeitschrift Revue des Deux Mondes mit dem unscheinbaren Titel „Après une visite au Vatican“. Verfasser war der Chefredakteur, Fernand Brunetière, zugleich Lehrbeauftragter an der École Normale Supérieure und seit kurzem auch Mitglied der Académie Française (Compagnon 1997). Zielscheibe seiner Kritik – und darin nahm er „Agathon“ vorweg – war die liberale, allzu „wissenschaftliche“ Bildungspolitik der Republik, die er vor allem auf den schädlichen Einfluss von positivistischen Denkern wie Renan und Taine zurückführte – sowie natürlich auf die Lumières des 18. Jahrhunderts (Brunetière 1895).Footnote 18 In der Tat war allgemein bekannt, dass die Erziehungspolitik eines Jules Ferry von Comte und seinem Nachfolger Lafitte inspiriert war.Footnote 19 Noch vor kurzem, meinte Brunetière, habe fast jeder Gebildete geglaubt, dass die Religion durch die Wissenschaft überwunden werde, ja schon überwunden sei. Doch jetzt erkenne man endlich, dass die Wissenschaft ihr Versprechen, alle Rätsel dieser Welt zu lösen, gar nicht einhalten könne:

Die Naturwissenschaften haben uns versprochen, das ‚Mysterium’ abzuschaffen. Aber es ist ihnen nicht nur nicht gelungen, es abzuschaffen, sondern wir sehen sogar deutlich, dass sie es niemals erhellen werden. Sie sind völlig unfähig, nicht nur es aufzulösen, sondern die einzig wichtigen Fragen angemessen zu stellen: die Fragen, die sich auf den Ursprung des Menschen, das Gesetz seines Verhaltens und sein künftiges Schicksal beziehen. Uns umgibt das Unerkennbare, es hält uns umschlungen und umklammert, und die Gesetze der Physik oder die Ergebnisse der Physiologie liefern uns keinerlei Mittel, darüber etwas zu erfahren. (Brunetière 1895: 99)Footnote 20

Trotz Darwin, Haeckel, Renan und aller empirischen Forschung könnten die modernen Naturwissenschaften dem Menschen niemals sagen, „woher er kommt“ und „wohin er geht“. Und weil das immer so bleiben werde, meinte Brunetière, könne man legitimerweise von einem Versagen, einem „Konkurs“ (faillite), ja einem „Bankrott der Wissenschaft“ (banqueroute de la science) sprechen (ebd.: 98). Dieses dramatische Wort von der faillite de la science wurde dann schnell zum Schlagwort, das sich im gesamten wissenschaftsskeptischen Milieu, auch außerhalb Frankreichs, verbreitete (Paul 1968).Footnote 21 Noch zwanzig Jahre später kehrte es im Ersten Weltkrieg aus der Feder eines ehemaligen Mitarbeiters von Brunetière in radikalisierter Form und mit doppelter Stoßrichtung – sowohl gegen Renan als auch gegen die science allemande, als deren Anhänger Renan schon immer denunziert wurde – als „banqueroute du scientisme“ (Giraud 1916) wieder.

Der französische Szientismus und seine Feinde

Man könnte und müsste diesen ganzen diskursiven Raum, in dem einflussreiche Publizisten wie Brunetière und andere agierten, noch weit genauer ausleuchten. Vor allem das Dickicht der unzähligen Zeitungen und Zeitschriften, also das Äquivalent zu den heutigen Massenmedien, wäre im Blick auf die Formierung und Einprägung ideologischer Stereotypen und Gegnerschaften zu untersuchen. Besonders wichtig wäre auch die literarische Produktion (Bridenne 1951). Man braucht nur an einen Erfolgsroman wie Le Disciple (Der Schüler) von Paul Bourget ([1889] 1929) zu denken, in dem – gegen Taine gerichtet – ein menschenverachtender Wissenschaftler und Philosoph bloßgestellt wird, welcher am Ende reumütig zur Religion zurückkehrt.Footnote 22 Aus dem anderen Lager wäre dagegen – neben den populären Wissenschaftsromanen von Jules Verne – an Jean Barois von Roger Martin du Gard zu erinnern, den Camus später bewundernd als den „einzigen Roman des szientistischen Zeitalters“ bezeichnete (Camus 1955).Footnote 23 Hier bleibt der Protagonist seinem rationalistischen Weltbild treu, auch wenn darüber seine Ehe zerbricht und ihm überall das Schlagwort vom „Versagen der Wissenschaft“ entgegenschallt. Im Delirium empfängt er zwar die letzte Ölung, aber sein Testament beweist, dass er diese kurze Schwäche schon vorausgeahnt und ihr im Voraus widersprochen hatte (Martin du Gard [1913] 1955).

Interessant ist in unserem Zusammenhang, dass weder Bourget noch Martin du Gard das ominöse Wort scientisme verwendeten, obwohl es schon damals zirkulierte. So tauchte es 1898 in einem Schauspiel von Romain Rolland auf, das den Titel trug: Les Loups (Die Wölfe). Darin treffen ein Volkstribun à la Danton und ein kühler Intellektueller à la Saint-Just aufeinander, und der eine wirft dem anderen an den Schädel: „Vergiss nicht, Bürger, dass eine Aristokratie des Gehirns genauso hassenswert ist wie die andere Aristokratie. Wir haben genug der Szientisten. Wir sind alle gleich.“ (Rolland 1926: 81)Footnote 24 Man kann sich denken, wessen Kopf am Ende rollen wird.

Neueren Philosophiehistorikern zufolge kam das Wort erst durch dieses Theaterstück in Umlauf.Footnote 25 Dagegen wird in der älteren Literatur – wohl aufgrund eines entsprechenden Eintrags im philosophischen Wörterbuch von Lalande, dem bis heute immer wieder aufgelegten Vocabulaire technique et critique de la philosophie von 1926 – auf einen anderen Urheber verwiesen, den Biologen Félix le Dantec, der den Begriff 1911 geprägt haben soll.Footnote 26 Tatsächlich ist das Wort jedoch älter, und Le Dantec war nur einer von mehreren Autoren, die sich, wie wir gleich noch sehen werden, zu Beginn des 20. Jahrhunderts selbst als Szientisten bezeichneten. Keiner von ihnen war jedoch der Erfinder des Begriffs, der vielmehr aus dem Lager der Kritiker des Szientismus kam. Wie einst die verunglimpften „Jakobiner“ versuchten Le Dantec und andere lediglich, ein Schimpfwort ins Positive zu wenden.

Verfolgt man die Geschichte der französischen Wörter scientisme, sciencisme, scientifisme oder scientificisme etwas genauer, ergibt sich in der Tat eine überraschend lange Reihe von Belegen. Sie reichen mindestens bis in die Juli-Monarchie zurück und dokumentieren ein semantisches Spektrum, das sich erst allmählich verdichtete, um seine eindeutig negative Färbung zu erlangen. So definiert das Dictionnaire des mots nouveaux von 1845 das Wort „scientifisme“ zunächst noch quasi neutral: „système de scientification; ce qui présente une grande, vaste science: c’est du scientifisme“ (Radonvilliers 1845: 542). Unter „Szientifismus“ wäre also der allgemeine Vorgang, das „System der Verwissenschaftlichung“ unserer Welt zu verstehen, sowie überhaupt eine große wissenschaftliche Gelehrsamkeit.Footnote 27 Erst in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts taucht dann das Wort scientisme auf, und zwar lediglich, wie erwähnt, als Synonym für Christian Science.Footnote 28 Bald werden jedoch scientifisme und scientisme nicht nur parallel, sondern auch analog verwendet und jeweils negativ bewertet. Als Kritiker und gleichsam Gegenredner profilieren sich dabei zum einen der organisierte Spiritismus und zum anderen die römisch-katholische Kirche.

Der (bislang) früheste Beleg für scientisme findet sich 1880 in einer polemischen Schrift des spiritistischen und freimaurerischen Philosophen Charles Fauvety (1813–1894) gegen zwei prominente Psychologen, den Deutschen Wilhelm Wundt und den Franzosen Jules Soury, denen der Autor wegen ihrer Spiritismus-Kritik einen „unverschämten Szientismus“ vorwirft, der sich seiner Ignoranz nicht einmal bewusst sei („l’outrecuidance d’un scientisme qui ne se rend pas même compte de ses ignorances“) und der „ohne jede Methode, ohne Prinzip und ohne sprachliche Genauigkeit“ darauf abziele, „die Köpfe im Namen der Wissenschaft zu beherrschen, so wie andere im Namen des Glaubens“. Damit hätte auch die Wissenschaft ihre Inquisition! (Fauvety 1880: 8)Footnote 29 Schon in dieser Polemik stoßen wir also auf die später typische Gegenüberstellung von freiem Denken auf der einen Seite (= Antiszientismus) und Inquisition, Orthodoxie, Dogmatismus und dergleichen (= Szientismus) auf der anderen. Ähnliche Ausfälle lassen sich in spiritistischen Publikationen immer wieder beobachten. 1882 heißt es beispielsweise im Bulletin de la Société scientifique d’études psychologiques:

Egal ob man von einem außerweltlichen Gott ausgeht oder Gott gänzlich abschafft, nie wird man der menschlichen Logik und dem gesunden Menschenverstand jenen merkwürdigen Widerspruch vermitteln können, auf dem noch der heutige Szientismus beharrt, wonach aus einem maschinenartigen Universum alles Leben, alle Empfindung, alles Gefühl, alle Vernunft und alles Bewusstsein zu entfernen ist!Footnote 30

Auch wenn der 1857 von Allan Kardec begründete französische Spiritismus amerikanische Wurzeln hatte – denn bekanntlich fand das erste öffentliche Stühlerücken und Anklopfen von Geistern 1848 in Rochester (New York) statt, worüber in der ganzen Welt berichtet wurde (Monroe 2008, Hauser 2004: 245–252) –, verstand sich die französische Bewegung weit weniger als erweiterte Religion wie im protestantischen Nordamerika, denn als erweiterte Wissenschaft (Parot 2004, Lachapelle 2011).Footnote 31 Umso wichtiger war ihr daher die Anerkennung durch seriöse Wissenschaftler und umso ärgerlicher eine Kritik, die sich auf allgemeingültige Kriterien von Objektivität und Experiment berief, statt dem Spiritismus als „science de l’esprit“, als „Geisteswissenschaft“, einen entsprechenden Freiraum einzuräumen (Monroe 2008, Hauser 2004: 276–280).

Sehr empfindlich reagierte einige Jahre später auch die katholische Kirche. Ob an ihren Universitäten von Paris oder Löwen, ob in Zeitschriften wie Le Correspondant, der Revue Thomiste, der Revue catholique et royaliste oder den Annales de la jeunesse catholique, ob in Büchern oder Broschüren, überall wurde die Gefahr des scientifisme, des scientisme oder sciencisme Footnote 32 beschworen, der als Symptom des moralischen Verfalls und als besonders auffälliges Anzeichen für Materialismus und Atheismus zu deuten sei. Vor allem Claudius Piat, Dekan der philosophischen Fakultät des Institut Catholique – der kirchlichen Privatuniversität von Paris –, ergriff häufig das Wort, um den Gegensatz zwischen wahrer Wissenschaft und Szientismus hervorzuheben, denn letzterer sei lediglich „eine Karikatur von Wissenschaft“.Footnote 33 In seinem 1905 publizierten Buch über christliche Moral betonte Piat dann auch, dass sogar die Wissenschaftler selbst mittlerweile einen strikten Determinismus ablehnten, weshalb sich allenfalls noch „Scharlatane des Wissens“ darauf berufen könnten: „Glauben Sie mir“, versicherte er seinen Lesern,

was dem Christentum wirklich schadet, ist nicht die Wissenschaft, sondern der Szientismus, dieser Bastard aus Erfahrung und Philosophie. Fast hinter jedem Gelehrten steht ein Magister mit feierlicher Miene und schwerer, schwarzer Brille, der ihm bei der Arbeit über die Schulter schaut, mit hämischem Blick jede seiner Bewegungen verfolgt und sich plötzlich umdreht, um dem großen Publikum zuzurufen: ‚Gefunden, wir haben’s gefunden! Es gibt keinen Gott, keine Vorsehung, kein künftiges Leben. Die Religion ist nichts weiter als ein Märchen für Kinder’. (Piat 1905: 18 f., Hervorhebung im Original)Footnote 34

Wie einst Mephisto schaut hier also der Szientist als schwarzer Magister dem wahren Gelehrten über die Schulter, um anschließend seine Forschungen schändlich zu missbrauchen.

Derselbe teuflische Topos findet sich immer wieder: „Der Szientist“, heißt es etwa in der Wochenzeitung La Paix sociale,

steht zum wahren Gelehrten wie der Alchimist, der Astrologe oder der Scharlatan zum Chemiker, zum Astronomen oder zum Professor der Chirurgie. Was ist ein Szientist? Ein Herr, der unter dem Vorwand sich für die Wissenschaften zu interessieren oder wie er sagt: für ‚die Wissenschaft‘, nur ein einziges Ziel kennt: die religiösen Überzeugungen zu bekämpfen. (Bayard 1910, Hervorhebung im Original)Footnote 35

In seinem langen Gedicht von 1912, La Tapisserie de Sainte Geneviève et de Jeanne d’Arc, hat Charles Péguy diese allgemeine Klage sogar in Alexandriner gefasst (Péguy 1962: 64):

Les armes de Satan c’est la jobarderie,

C’est le scientificisme et c’est l’artisterie,

C’est le laboratoire et la flagornerie […] Footnote 36

Der antimoderne Außenseiter Péguy – Philosoph, Dichter und Mystiker, ehemaliger revolutionärer Syndikalist und radikaler Dreyfusianer, wiedergeborener Katholik und kriegsbegeisterter Nationalist – kann zu diesem Zeitpunkt als typische Figur der intellektuellen Konversion betrachtet werden (Compagnon 2005: 214–252). Dabei ging es der Kirche, der er sich wie so viele ehemals kritische Geister wieder angeschlossen hatteFootnote 37, mittlerweile um weit mehr als nur einen relativierenden Begriff von Wissenschaft. Für sie stand ihr ganzes Verhältnis zum französischen Staat auf dem Spiel, der seit Jahren die Religion aus dem öffentlichen Leben und vor allem aus Schulen und Universitäten zu verdrängen suchte – bekanntlich wurden schon 1885 die theologischen Fakultäten geschlossen –, bis es schließlich 1905 zur unwiderruflichen Trennung von Staat und Kirche kam.Footnote 38

Wer waren die Szientisten?

Der schon erwähnte Félix le Dantec (1869–1917) erscheint demgegenüber als Antipode. Innerhalb von nur zwanzig Jahren publizierte dieser als genial geltende Schüler von Pasteur, der ab 1899 an der Sorbonne lehrte, mehr als dreißig Bücher sowie zahllose Zeitschriftenartikel, in denen er auf der Grundlage einer neolamarckianisch verstandenen Biologie eine weitausgreifende Philosophie der Wissenschaft und des Lebens entwarf.Footnote 39 Für seine Zeitgenossen war er zweifellos der bekannteste Szientist.Footnote 40 Trotz mancher verbaler Zugeständnisse – es kam sogar zu einem öffentlichen Dialog mit Bergson, doch er und Le Dantec sprachen nicht dieselbe SpracheFootnote 41 –, war sein Weltbild durch und durch deterministisch und atheistisch. Die Wissenschaft, la Science mit einem großen S, war für ihn das Maß aller Dinge, und zwar, wie er ausdrücklich betonte, in einem ganz „unpersönlichen und außermenschlichen“ Sinne („impersonnelle et extrahumaine“). (Le Dantec 1907: 3) Etwas beiläufig hatte er sich schon 1908 als „scientiste“ bezeichnet („ohne es zu wollen, bin ich ein unbeugsamer Szientist“, 1908: 312), doch ein paar Jahre später machte er daraus eine Proklamation:

[Die Wissenschaft] trägt keinerlei Spuren ihrer menschlichen Herkunft. Sie hat […], was auch immer die meisten unserer Zeitgenossen denken mögen, einen absoluten Wert. Eigentlich hat nur die Wissenschaft diesen Wert, und deshalb bezeichne ich mich als Szientist! (1912: 68, Hervorhebung im Original)Footnote 42

Bedenkt man den Kontext und auch, dass Le Dantec seine Thesen mit missionarischem Eifer vertrat, im Hörsaal und als Publizist, verwundert es nicht, dass er entweder heftig verehrt oder befehdet wurde. Auch das Ehepaar Jacques und Raïssa Maritain gehörte anfangs zu seinen begeisterten Hörern (Maritain 1941: 96–99), und der Romanheld von Martin du Gard, Jean Barois, liest selbstverständlich die Bücher von Le Dantec (Bouyssi 1998, I: 665).Footnote 43 Es wäre reizvoll, einmal geradezu tabellarisch die beiden Philosophien – oder Diskurse – von Le Dantec und Bergson, also den beiden Gurus von diesseits und jenseits der Rue Saint-Jacques, Wort für Wort miteinander zu vergleichen.Footnote 44

Le Dantec war jedoch nicht der einzige, der nach der Jahrhundertwende das Wort Szientismus auf seine eigene Philosophie anwandte. So erschien 1908 ein weiteres Buch, in welchem der Autor sich bereits im Vorwort als Szientist bezeichnete, um, wie er sagte, sich von den „reinen und wahren Positivisten“ im Sinne von Comte zu unterscheiden:

Dieses neue Wort [Szientist] hat den Vorteil, jedes Missverständnis zu vermeiden. Wenn ich vom heutigen Positivismus spreche, wenn ich mich zum Positivismus bekenne, dann nicht in der Absicht, Comtes Doktrin zu übernehmen, sondern lediglich […] alle Ergebnisse der positiven Wissenschaft. (Rey 1908: 6)Footnote 45

Auch im Schlusskapitel betont der Autor, Abel Rey, dass er mit Szientismus eine eigentümliche und kritische Haltung bezeichnen will:

Man könnte die philosophische Haltung, die in diesen kurzen Studien skizziert wurde, als rationalistischen Positivismus oder absoluten Positivismus oder auch als Szientismus bezeichnen. Um aber jedes Missverständnis zu vermeiden, wäre es vielleicht besser sie ‚Experimentalismus’ zu nennen. (ebd.: 367)Footnote 46

Darunter sei eine Philosophie zu verstehen, die ganz auf Erfahrung und zwar auf „kontrollierter Erfahrung im Sinne eines wissenschaftlichen Experiments“ beruhe.

Abel Rey (1873–1940) war damals Professor an der Universität von Dijon. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er an die Sorbonne berufen – auf den ersten Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie (Braunstein 2006). Er war also der direkte Vorgänger von Bachelard und Canguilhem. Theoriegeschichtlich hat er eine nicht unerhebliche Rolle gespielt: zum einen durch seine Thèse d’État über die Theorie der Physik bei den modernen Physikern, die 1907 auf Französisch herauskam und sofort ins Deutsche übersetzt wurde, so dass sie, nach dem Zeugnis von Philipp Frank, eine wichtige Rolle in den frühen Diskussionen des ersten Wiener Kreises spielte (Frank 1949: 2–4). Zum anderen gehörte Rey, ein eingetragener Sozialist, auch zum Umkreis der Revue de Synthèse historique, die seit der Jahrhundertwende von Henri Berr herausgegeben wurde, welcher seinerseits eine wissenschaftsoptimistische Philosophie vertrat (Biard/Bourel/Brian 1997, Brian 2010).Footnote 47 In den 1920er Jahren betrieb Berr deshalb zusammen mit seinen Stellvertretern Abel Rey, Lucien Febvre und Paul Langevin die Umwandlung der Revue de Synthèse in ein neuartiges Theorieorgan, das sowohl Geistes- als auch Naturwissenschaften umfassen und den Wissenschaftsdualismus tendenziell überwinden sollte. Als Träger fungierte eine Stiftung mit dem Namen Pour la Science.Footnote 48 Interessanterweise wurde die Revue de Synthèse dann einige Jahre später zur wichtigsten Drehscheibe für die französische Rezeption der Philosophie des Wiener Kreises.Footnote 49

Mit dem Stichwort Wiener Kreis gelangen wir zum dritten und letzten Beispiel. Hier geht es um einen professionellen Physiker, einen Schüler von Paul Langevin und Georges Urbain, namens Marcel Boll (1886–1971). Ähnlich wie Rey benutzte er das Etikett des Szientismus zur besseren Beschreibung einer Zwischenposition, die sich keiner der bestehenden Schulen oder Strömungen zurechnen ließ. Vor allem zwischen den 1920er und 1940er Jahren hat Boll sehr viel veröffentlicht: rund 70 Bücher und Hunderte von Artikeln, oft populärwissenschaftlicher Art (Schöttler 2010, 2012). Heute ist er weitgehend vergessen, obwohl er der wichtigste Vermittler des Wiener Kreises in Frankreich war (auch wenn sein Beitrag später überschattet und verdeckt wurde durch das unheilvolle Wirken von Louis Rougier [Schöttler 2005, Bonnet 2006]). Zudem bildete er eine Art Kettenglied zwischen dem logischem Positivismus auf der einen Seite und dem traditionellen, Comte‘schen Positivismus auf der anderen. Boll wurde buchstäblich in die Comte’sche Bewegung hineingeboren und war jahrzehntelang Mitglied der Société Positiviste. Er nahm an deren Festen und Ritualen teil, und veröffentlichte in der Revue Positiviste Internationale. Doch in den 1920er Jahren ging er auf Distanz und wurde zum Anhänger des Wiener Kreises, weil sich die positivistische Orthodoxie, wie er sagte, noch im „vergangenen Jahrhundert“ bewege. Deshalb gehörte er auch 1930 zu den Gründern und ersten Aktivisten der Union Rationaliste, einer (bis heute existierenden) Vereinigung, die sich explizit für eine wissenschaftliche Weltauffassung, für die Freiheit der Wissenschaft und eine strikte Trennung von Staat und Kirche einsetzte.Footnote 50 Ihr erster Vorsitzender war der Mediziner Henri Roger, die treibende Kraft jedoch der Physiker Langevin. Andere prominente Mitglieder waren die Physiker Perrin und das Ehepaar Joliot-Curie oder der Mathematiker Hadamard. Auch viele Humanwissenschaftler, wie etwa die Philosophen Alain (Pseudonym für Émile Chartier), Rey oder Lévy-Bruhl sowie Schriftsteller und Künstler gehörten dazu. Geschäftsführer war der Surrealist Philippe Soupault.

In diesem Rahmen und im Hausverlag der Union Rationaliste publizierte Boll 1939 ein programmatisches Buch unter dem Titel Les Quatre faces de la physique, in dem er das ihm so vertraute Drei-Stadien-Schema von Comte (Theologie – Metaphysik – Wissenschaft) zu modifizieren vorschlug und zwar sowohl aufgrund der veränderten Problemlage als auch der neueren humanwissenschaftlichen Reflexion. Interessanterweise griff er dabei auf den Mentalitätsbegriff von (Lucien Lévy-Bruhl ([1922] 1976) zurück, der zur selben Zeit auch in den Geschichts- und Sozialwissenschaften rezipiert wurde. Künftig sollte man unterscheiden zwischen dreierlei: erstens dem Stadium der mentalité primitive (im Sinne Lévy-Bruhls), zweitens dem des bon sens (im Sinne des gesunden Menschenverstands und Realismus) und drittens dem des esprit scientifique (im Sinne Bachelards).Footnote 51 Eben dieses dritte Stadium des wissenschaftlichen Geistes aber, das mit dem Übergang vom mechanistischen Denken zum statistischen Denken (wie der Relativitätstheorie oder der Quantenmechanik) angebrochen sei, bezeichnete Boll „mangels eines besseren Ausdrucks“ als das der Objektivität oder des Szientismus: objectivité-scientisme (Boll 1939: 20). Dafür gab er folgende Begründung: „Das Wort ‚Objektivität‘ erinnert an die Notwendigkeit einer Entanthropomorphisierung“, an einen „persönlichen Verzicht […], eine möglichst vollständige Eliminierung aller Störungen, die vom Beobachter ausgehen.“ (Ebd.) Unter Berufung auf den Psychologen Théodule Ribot fordert Boll also eine Ausblendung aller Subjektivität. Und dann heißt es weiter: „Das Wort ‚Szientismus‘ wird zwar leider häufig falsch verstanden“, und hier verweist er auf die amerikanische Christian Science, aber es „bringt am besten zum Ausdruck, dass Geist und Methode der Wissenschaften auf alle Bereiche des Denkens ausgeweitet werden müssen, ohne jede Ausnahme oder mentale Beschränkung.” (Ebd.) Gerade die vollständige Erneuerung aller Grundlagenprobleme im Laufe der letzten Generation habe gezeigt, „dass jede Frage letzten Endes von der Wissenschaft zu beantworten ist: genau darin besteht der Szientismus“ (ebd.: 30).Footnote 52

Szientismus als Denkstil

Damit breche ich diese Skizzen ab. Sie sollten lediglich demonstrieren, dass der fast immer leichtfertig-pauschal oder gar polemisch verwendete Begriff Szientismus einer genaueren Betrachtung bedarf, und dass sich hinter ein und demselben Wort sehr unterschiedliche Profile verbergen können, die jeweils historisch-konkret zu rekonstruieren sind. Und dies nicht zuletzt deshalb, weil man sich heute immer erst von den Vorurteilen befreien muss, die das Wort Szientismus umgeben.

Auffällig ist darüber hinaus, dass keiner der vorgestellten Gelehrten (und ich hätte noch weitere Beispiele anführen können, natürlich auch aus anderen Ländern) Footnote 53 dem verbreiteten Bild vom Technokraten (Jordan 1994, van Laak 2012) oder gar des amoralisch-verrückten Dr. Frankenstein, Dr. Jekyll oder Dr. Strangelove (Haynes 1996) entspricht – ganz zu schweigen von einem ebenso diffusen wie banalen Trivialpositivismus, den man sich heute allzu schnell hinzudenkt. Damit will ich nicht behaupten, dass es solche technokratischen oder zynischen Tendenzen nicht gab oder nicht gibt. Die Frage ist nur, ob man sie tatsächlich im engeren Sinne als szientistisch bezeichnen kann und sollte. Denn sobald man den Szientismus historisch genauer einkreist, lassen die technokratischen, amoralischen oder gar totalitären Züge erstaunlich nach: Dann materialisiert sich plötzlich das Gerücht oder Gespenst als der Habitus oder Denkstil von Personen mit konkreten Praktiken und einer analysierbaren Sprache (Diskurs). Doch dieser wissenschaftsoptimistische Denkstil – und darauf reduziert sich letzten Endes eine neutrale Definition des Szientismus – entsprach, wie mir scheint, nur in den seltensten Fällen dem gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Mainstream. Die dystopischen Szenarien in den Romanen von Verne, Wells, Huxley, Orwell oder Asimov können dagegen nicht als empirischer Gegenbeweis gelten. Vielmehr scheinen die sogenannten Szientisten, die selber einen hohen Anspruch und in der Regel auch einen weiten Blick hatten, also eine kleine Elite darstellten (Boll/Boll 1946), in der historischen Wirklichkeit eher interessante Einzelgänger oder Nonkonformisten gewesen zu sein – und keineswegs Vertreter des Establishments und der Macht.

Das aber ist wichtig, wenn wir den Blick auf die Rolle der Wissenschaft in den großen Diktaturen richten, denn neben der bis heute ungebrochenen Szientismus-Kritik der Kirche (Mandet 1931, Sertillanges 1941, Valenta 1998 Footnote 54) nimmt der Vorwurf der Subversion zugunsten einer linken Erziehungsdiktatur noch immer einen breiten Raum ein (Hobbs 1953, Schoeck et al. 1960, Todorov 2004, Hutchinson 2011). Wissenschafts- oder gar Technikbegeisterung allein können aber nicht genügen, um in diesem Zusammenhang von Szientismus zu sprechen – jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem ein Le Dantec, ein Rey oder ein Boll sich selbst als Szientisten bezeichneten.

Ich fasse zusammen und spitze meine Thesen noch ein wenig zu: Erstens, der Szientismus ist nicht bloß ein Spuk. Es hat ihn tatsächlich gegeben. Ob er allerdings je ein breites und massenhaftes Phänomen war oder sein kann, ist durchaus fraglich. Vieles spricht dafür, dass wir es eher mit einem intellektuellen Projekt zu tun haben, das von einzelnen Wissenschaftlern oder Denkern verfolgt wurde, die abseits vom Mainstream standen oder stehen. Ihr Einfluss wurde also entweder überschätzt oder bewusst übertrieben. Auch wenn zweitens das Wort Szientismus fast immer pejorativ konnotiert ist und als ideologische Projektion die historisch Erforschung des gleichnamigen Phänomens durchaus erschwert, sollte man auf den Begriff nicht verzichten, vielmehr versuchen, ihn zu historisieren. Er könnte dann als Indikator dienen für bestimmte intellektuelle Aufbrüche in der neueren Wissenschaftsgeschichte, etwa um 1900 oder nach 1918, nach 1945 und so weiter, wobei die szientistischen Positionen, zumindest auf den zweiten Blick, vielleicht weniger konformistisch waren als das Schlagwort vermuten lässt.

Dennoch stellt sich drittens die Frage, in welchem Maß der szientistische Diskurs oder wissenschaftsoptimistische Denkstil (auch wenn es verschiedene Varianten geben sollte) geradezu zwangsläufig in die Gefahr gerät, einen (wie auch immer definierten) Ersatz bilden zu sollen für das, was offenkundig außerhalb der Wissenschaft liegt, aber dennoch auf sie einwirkt. Das gilt nicht zuletzt für die Religionen. Wie verhalten sich also Szientismus und Religion? Was ergibt sich, wenn aus Wissenschaftsoptimismus eine Vergötterung der Wissenschaft wird? Vermutlich muss man auch diese Fragen historisieren: Wann, wo und von wem wurde Wissenschaft zur Religion erhoben? (Dabei denke ich nicht an Science-Fiction-Romane.) Und gehörten die Szientisten, falls sie Einfluss gewannen, tatsächlich zu den „Anbetern des neuen Baal“ (Arthur Koestler), also zu den Protagonisten jener totalitären Wissenschaftsreligion, die erst in der Sowjetunion und später auch in China und Osteuropa vom Staat propagiert wurde (Hua 1995, Schmidt-Lux 2008)?Footnote 55 Oder gelang es ihnen – falls sie nicht völlig verblendet waren – sich dieser Zumutung zu entziehen, indem sie eine reformorientierte Politik unterstützten, die dem wissenschaftlichen Offenheitsgebot eher entsprach?

Kurzum, das schöne Wort Szientismus ist heute zwar in aller Munde und in allen Medien, aber die konkrete Erforschung des Phänomens ist noch immer ein schwieriges Unterfangen. Es ist halt so wie bei Karl Kraus: „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.“ (Kraus 1962: 11)