Zusammenfassung
Die Phänomenologiel) hat die Aufgabe, die seelischen Zustände, die die Kranken wirklich erleben, uns anschaulich zu vergegenwärtigen, nach ihren Verwandtschaftsverhältnissen zu betrachten, sie möglichst scharf zu begrenzen, zu unterscheiden und mit festen Terminis zu belegen. Da wir niemals fremdes Seelisches ebenso wie Physisches direkt wahrnehmen können, kann es sich immer nur um eine Vergegenwärtigung, um ein Einfühlen, Anschauen, Verstehen handeln, zu dem wir je nach dem Fall durch Aufzählung einer Reihe äußerer Merkmale des seelischen Zustandes, durch Aufzählung der Bedingungen, unter denen er auftritt, durch sinnlich anschauliche Vergleiche und Symbolisierungen, durch eine Art suggestiver Darstellung hingelenkt werden können. Dazu helfen uns vor allem die Selbstschilderungen der Kranken, die wir in der persönlichen Unterhaltung am vollständigsten und klarsten gestalten können, die in schriftlicher, von den Kranken selbst verfaßter Form oft inhaltlich reicher, aber dafür phänomenologisch unklarer, durch tendenziöse Reflexionen entstellt sind. Wer selbst erlebte, findet am ehesten die treffende Schilderung. Der nur beobachtende Psychiater würde sich vergebens zu formulieren bemühen, was der kranke Mensch von seinen Erlebnissen sagen kann. Es ist für den Anfänger erforderlich, sich an der Hand der konkreten Beispiele ein reiches phänomenologisches Anschauungsmaterial innerlich anzueignen. Dies gibt ihm Richtungen und Maßstäbe bei der Untersuchung neuer Fälle2).
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Literatur
Vgl. meinen Aufsatz: Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 9. 1912. S. 391. Dazu: Baade: Über die Vergegenwärtigung von psychischen Ereignissen durch Erleben, Einfühlung und Repräsentation, sowie über das Verhältnis der Jaspers-schen Phänomenologie zur darstellenden Psychologie. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 29. 1915. S. 347. Vgl. das Referat von A. Kronfeld: Über neuere pathopsychisch-phänomenologische Arbeiten. Zentralbl. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 28. 1922. S. 441, (worin jedoch der Begriff der Phänomenologie nicht in dem bestimmten und engen Sinn unseres vorliegenden ersten Kapitels gefaßt wird).
Gute Selbstschilderungen findet man an folgenden Orten (ich zitiere sie später nur mit den Namen der Verfasser der Publikationen):
Baudelaire: Paradis artificiels. Deutsch Minden, o. J. David, J. J.: Halluzinationen, Die neue Rundschau 17 5.874. Engelken: Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 6 S. 586. Fehrlin: Die Schizophrenie. Im Selbstverlag 1910. Forel: All. Zeitschr. f. Psychiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 34 S. 960. Gruhle. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 28. 1915. S. 148. Ideler: Der Wahnsinn, Bremen 1848, S. 322ff., 365ff. usw. Religiöser Wahnsinn, Halle 1848,15.392 ff. Jakobi: Annalen der Irrenanstalt zu Siegburg, Köln 1837, S. 256ff, James: Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit. Deutsch. Leipzig 1907. Janet: Les
obsessions et la psychasthenie. Jaspers: Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 14 S. 158ff. Kandinsky: Arch. f. Psych. u. Nervenkrankh. 11 S.453. Kritische und klinische Betrachtungen im Gebiete der Sinnestäuschungen, Berlin 1885. Kies er: Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 10 5.423. Klinke: Jahrb. d. Psych. u. Neurol. 9. Kronfeld: Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. 35. 1914. S. 275. Mayer-Groß: Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 62 S. 222. Mayer-Groß und Steiner: Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 73 5.283. Meinert: Alkoholwahnsinn, Dresden 1907. Nerval Aurelia. Deutsch. München 1910. Quincey, Th. de: Bekenntnisse eines Opiumessers. Deutsch. Stuttgart 1886. Rychlinski: Arch. f. Psych. u. Nervenkrankh 28 S. 625. Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Leipzig 1903. Schwab’ Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 44. Serko: Jahrb. d. Psych. u. Neurol. 34. 1913. 5.355. Serko: Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 44 S. 21 Staudenmaier: Die Magie als experimentelle Naturwissenschaft, Leipzig 1912. Wollny: Erklärungen der Tollheit von Haslam, Leipzig 1889.
Zur Lehre dieser Sekundärempfindungen vgl. übrigens: Bleuler: Zeitschr. f. Psychol. 65. 1913. S. 1. Wehofer: Zeitschr. f. angw. Psychol. 7. 1913. S. 1. Hennig: Zeitschr. f. Psychotherap. u. med. Psychol. 4. 1912. S. 22.
Zeitschr. f. Pathopsychol. 3. 1917. S. 307.
Österreich: Jahrb. d. Psych. u. Neurol. 8, Janet: Les obsessions et la psychasthenie, Paris 1908, 2. Aufl.
Johannes Müller: Leber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz 1826; Hagen: Allg. Zeitschr f. Psychiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 25 S. L Kahlbaum: Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 23; Kandinsky: Kritische und klinische Betrachtungen im Gebiete der Sinnestäuschungen, Berlin 1885. Ein eingehendes Referat über die Trugwahrnehmungen mit möglichst vollständigen Literaturangaben habe ich geschrieben in Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. Ref. 4 S. 289. Vgl. ferner meine Arbeit „Zur Analyse der Trugwahrnehmungen“, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 6 S. 460. — Neuere Arbeiten: Pfersdorff: Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 19 S. 121. Rülf: ebd. 24 S. 183. Specht: Zeitschr. f. Pathopsychol. 2. Pick, Monatsbl. f. Psych. 37 S. 269.
Von Geheimrat T u c z ek, Marburg, der sie freundlichst zur Verfügung stellte.
Der Unterschied von Wahrnehmung und Vorstellung ist seit dem 18. Jahrh. oft behandelt, Einigkeit bis heute nicht erzielt. Aus den letzten Arbeiten: Lind -worsky: Wahrnehmung und Vorstellung, Zeitschr. f. Psychol. 80, Stumpf: Abhandl. der preuBischenAkademie der Wiss. 1918. Vgl. übrigens über die ganze Frage das Referat Kronfelds: Zentralbl. f. d. ges. Neurol. 28. 1922. S. 451–454.
Zeichnungen optischer Halluzinationen siehe bei S erko: Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 44 und bei Morgenthaler: ebda. 45.
Uhthoff: Beiträge zu den Gesichtstäuschungen bei Erkrankungen des Sehorgans. Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol. 5 S. 241, 370.
Cramer: Die Halluzinationen im Muskelsinn, Freiburg 1889.
Ötiker: Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 54. Vgl. auch Kraepelin: Arch. f. Psychiatr. 18 und den Fall bei Schneider: Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 28 S. 90. ‘Cher eine mögliche Beziehung von Erinnerungsfälschung und Traum: Blu me, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 42 S. 206.
Alter: Ein Fall von Selbstbeschuldigung, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 15 S. 470.
Andere Fälle bei Pick: Fortschritte d. Psychol. 2. 1914. S. 204ff.
Vgl. meinen Aufsatz über leibhaftige Bewußtheiten in der Zeitschr. f. Pathopsychol. 2. 1913.
Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 34 S. 252ff.
Ebenda 52.
Hagen: Fixe Ideen, in: Studien auf dem Gebiete der ärztlichen Seelenkunde, Erlangen 1870. — Sandberg: 1. c.
Ausgezeichnete Beispiele scharfsinniger Wahnsysteme enthalten: Wollny: Erklärungen der Tollheit von Haslam, Leipzig 1889, bes. Anmerkung S. 14ff.; Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Leipzig 1903.
Die verständliche Zurückführung der melancholischen Wahnideen auf den Affekt gelingt allerdings nur unter Voraussetzung der vorübergehenden Veränderung des ganzen Seelenlebens, in der sich schwer Melancholische befinden.
Die tiefste Analyse und Abgrenzung der Zwangsvorstellungen hat Friedmann (Monatssch. f. Psych. 21) gegeben. Was alles einmal Zwangserscheinung genannt wurde, lehrt das Buch Loewenfelds (Die psychischen Zwangserscheinungen, Wiesbaden 1904) und kurz die Kritik Bumkes (Alt’s Samml. 6, Halle 1906 ).
Letzterer hat ohne eigentliche Analyse mehr negativ den Begriff im alten, von Westphal zuerst geschaffenen Sinne abgegrenzt und sehr eingeengt. — Neuere Arbeiten: Fried mann: Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 21. 1914. S. 333. Stöcker: ebda. 23. 1914. S. 121. Kritisches Sammelreferat von K. Schneider: Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 1919. Referatenteil.
Hauptwerke: Janet: Les obsessions et la Psychasthenie, 2. Aufl., Paris 1908, Österreich: Die Phänomenologie des Ich, Leipzig 1910.
Janet: 1. c., S. 319–322; Oesterreich: 1. c., S. 422–509.
Bonhoeffer: Klinische Beiträge zur Lehre von den Degenerationspsychosen. Alt’s Samml., 7, Halle 1907.
Besonders Geiger: Arch. f. d. ges. Psychol., 4: Das Bewußtsein von Gefühlen, in Münchener phil. Abhdl., Th. Lipps zum 60. Geburtstag gewidmet; Über Stimmungseinfühlung, Zeitschr. f. Asth. 1911; Külpe: Zur Psychologie der Gefühle, 6. Psychol. Kongr., Genf 1909.
Will man einmal lesen, was über Gefühle insgesamt, ohne tiefergehende Klärung, psychologisch gesagt worden ist, so eignen sich am besten die Lehrbücher der Psychologie von Höffding und Jodl, ferner Nahlowsky: Das Gefühlsleben. 3. Aufl., Leipzig 1907. Ribot: Psychologie der Gefühle, Paris 1896. Deutsch 1903.
Oppenheim und Hoche: Ref. über Pathologie und Therapie der nerv. Angstzustände, in d. Verhandl. d. Ges. dtsch. Nervenärzte 1910, enthalten manches Phänomenologische.
Janet: Psychasthenie I S. 388 ff.
K. Schneider: Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 65. 1921. S. 109.
Gaupp: Über den psychiatrischen Begriff der Verstimmung, Zentralbl. f. Neurol., 27. 1904. S. 441.
K. Schneider: Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 65. 1920. S. 281. Westermann: ebenda 77 S. 391.
VgL Lotze: Mediz. Psychol., S. 287–325. Wer sich hier und inWundts Grundriß über das Einfachste orientiert hat, kann sich an die schwierigeren, aber äußerst feinen Analysen von Lipps wagen: Vom Fühlen, Wollen und Denken, 2. Aufl., Leipzig 1907. Eine flüssig geschriebene, zusammenfassende Darstellung, durch die man die übrige Literatur leicht findet, bietet: Else Wentscher: Der Wille, Leipzig 1910.
Aus der Literatur: Ref. v. Förster und Aschaffenburg über impulsives Irresein, Zentralbi. f. Neurol. 1908, S. 350; Ziehen: Monatssch. f. Psych., 11 S. 55, 393; Rauschke: Charité-Annalen, 30 S.251; Fritsch: Jahrb. d. Psych., 7 S. 196.
Friedmann: Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde, Bd. 30.
K. Schneider: Bemerkungen zu einer phänomenologischen Psychologie der invertierten Sexualität und erotischen Liebe, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 71, S. 346. Toepel: Zur Psychologie der lesbischen Liebe, ebenda 72, S. 237. A. Kronfeld: Uber Gleichgeschlechtlichkeit, Stuttgart 1922 (darin S. 24f.: „Wesensschau“).
Ach: Die Willenstätigkeit und das Denken, Göttingen 1905, hat den Begriff der determinierenden Tendenz zum ersten Male entwickelt.
Zur Psychologie der Aufmerksamkeit zusammenfassend: Dürr: Die Lehre von der Aufmerksamkeit, Leipzig 1907; A. Mann: Zur Psychologie und Psychographie der Aufmerksamkeit. Zeitschr. f. angw. Psychol. 9. 1915. 5.391, Zur Pathologie: Specht: Ber. d. M. Kongr. f. exper. Psychol., Leipzig 1909, S. 131–191. — Vgl. Bertschinger: Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 43. 1918. S. 3.
Die akuten Geisteskrankheiten der Gewohnheitstrinker, Jena, 1901, S. 19ff.
Vgl. Westphal: Arch. f. d. ges. Psychol., 21. Über den Umfang des Bewußtseins. Wirth in Wundts Philos. Stud., 20 S. 487. — Damit psychische Phänomene als bewußt angesprochen werden können, müssen sie irgendwann auch bemerkbar sein. Wir werden uns hüten, unbemerkte Vorgänge mit außer-bewußten zu verwechseln. Das Bewußtsein hat nämlich zweierlei Bedeutung: das wirkliche psychische Dasein und das Wissen des Individuums um das Dasein eines seelischen Phänomens bei sich.
S ter tz: Arch. f.Psych., 48 S.199. Janet: Névroses et idées fixes, S.69–108, Psychasthenie, S. 371–377.
Jaspers, Psychopathologie. 3. Aufl.
Heilbronner: Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. 13, S. 272ff.; 17 S. 436ff.; Liepmann: Über Ideenflucht, Halle 1904; Külpe: Psychologie und Medicin S. 22ff. — Mit Ideenflucht bezeichnen wir hier die Störung im tatsächlichen Ablauf des gesamten Seelenlebens, nicht ein bloßes sprachliches Produkt, das in ideenflüchtiger Form auch von einem nicht ideenflüchtigen Menschen produziert werden kann.
Schröder: Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 2.
Heilbronner: Monatsschr. f. Psych. u. Neurol., 13 S. 277ff.; 17 S. 431ff.
Luther: Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 16. 1913. S.386. — Plaskuda: ebenda 19 S. 596.
Von diesem Charakterroman sagt Bourget im Gegensatz zum Sittenroman: „il devra choisir les personnages chez lesquelles cette vie intérieure soit la plus ample.“
Kraepelins Schilderung der Dementia praecox, in seinem Lehrbuch; und vor allem Bleuler: Schizophrenie, Wien 1911.
Einen kurzen Überblick über die Theorien gibt Gruhle: Die Psychologie der Dementia praecox. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 78. 1922. S. 454.
Wir gehen dabei in der zweiten über das rein Phänomenologische hinaus. Zur weiteren Ergänzung vgl. im Kapitel über Intelligenz und Persönlichkeit, S. 338, 353, über die Symptomenkomplexe des verrückten Seelenlebens, S. 384, über die Prozesse S. 315.
Vgl. Schreber, Kieser, Wollny, Ideler, S. 322ff., Kandinsky, S. 31ff. Kronfeld hat dieses schizophrene Primärsymptom ohne neues Material deutlicher abzugrenzen gesucht, wie mir scheint, ohne wesentliches Ergebnis: Über schizophrene Veränderungen des Bewußtseins der Aktivität, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 74. 1922. S. 15. Er zitiert einige treffende Wendungen vom Kranken Berzes: „Ich habe ja gar nicht geschrien, der Stimmnerv brüllte aus mir.“ „Die Hände beugen sich hin und her, ich lenke sie nicht, und ich kann sie auch nicht anhalten.”
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Jaspers, K. (1923). Die subjektiven Erscheinungen des kranken Seelenlebens (Phänomenologie). In: Allgemeine Psychopathologie. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-36704-9_2
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